Es ist der heimische Gesang, der ihn stets wieder nach Hause zog. 16 Jahre lebte Schauspieler Philipp Langenegger («Inside Wikileaks») in Deutschland. Doch am 13. Januar kehrte er jeweils immer zurück nach Urnäsch AR. «Für mich ist das der heiligste Tag des Jahres», sagt der 46-Jährige.
Am Alten Silvester (13. Januar) und am neuen (31. Dezember) ziehen die Männer aus Urnäsch frühmorgens, verkleidet als «wüeschti», «schö-wüeschti» und «schöni» Silvesterchläuse, durchs Dorf. Es ist einer der ältesten Bräuche des ausserrhodischen Hinterlands. Sie zauren, singen, lassen ihre schweren Schellen klingen und wünschen so allen ein gutes Jahr. «Das hätte ich mir nie entgehen lassen», sagt Langenegger. «Es ist magisch.» Seit sechs Jahren lebt er wieder hier, zusammen mit seiner Ehefrau Angélique, 47, und den vier Söhnen Moriz, 16, Luis, 15, Franz, 9, und Henry, 8. Als Botschafter für seine Heimatgemeinde im Wettbewerb um «Das Schweizer Dorf des Jahres 2022» half er, Urnäsch den Sieg einzubringen. «Alle haben dazu beigetragen. Jung und Alt. So sind wir in Urnäsch. Wir halten zusammen.»
Der Alltag in Urnäsch ist geprägt vom gelebten Brauchtum. Die Einwohnerinnen und Einwohner halten es am Leben. Etwa Werner Altherr, 57. Geschlagene 49 Jahre war der Unternehmer als Silvesterchlaus unterwegs. Zu Hause sind seine alten Hauben nun alle in einer Vitrine ausgestellt – die aufwendig verzierten Hüte, auf denen geschnitzte Figuren Szenen aus der reichen Tradition darstellen. Die neueren Hauben sind mit LED-Lichtern ausgestattet und leuchten im Dunkeln. «Da bekommt man richtig Gänsehaut.»
Werner Altherr leitet das Zentrum für Handwerk und Kunst in Urnäsch. «Wir müssen das alte Handwerk bewahren», sagt er. Der Chef eines Dachdeckerunternehmens ist stolz, dass er in seiner Lehre das Schindelherstellen noch lernen konnte. «Ich gebe das heute gern weiter. Zurzeit machen bei mir zwei Männer Schindeln.» Andere Arbeiter und Lehrlinge können bei ihm Schindeln anschlagen lernen. Das Herz von Werner Altherr schlägt für Holz. «Und mein Herz schlägt natürlich auch für das Bloch.»
Am Montag vor Aschermittwoch geht alle zwei Jahre das Bloch in Urnäsch auf die Reise. Dutzende Männer zie-hen den tonnenschweren Baumstamm (eben: das Bloch) durch die hügelige Umgebung. Von halb fünf Uhr morgens bis sieben Uhr abends mehrere Kilometer weit. Die Zugmannschaft stellt mit ihrer Kleidung Berufe dar, die etwas mit Holz zu tun haben. Wer hier mitmachen will, muss jahrelang warten. So wie Niklaus Frehner. «Das Bloch erlebt einen richtigen Boom – wie eigentlich alle Bräuche hier», sagt er. Der stämmige Mann mit dem fröhlichen Gesicht meldete sich, kurz nachdem er mit der Schule fertig war, für das Bloch an – dieses Jahr durfte er mit 32 Jahren zum ersten Mal mitmachen. «Es war etwas ganz Besonderes für mich», sagt der Sattler in seiner Werkstatt.
Die Sattlerei im alten Bauernhaus ist eine Welt voller Tradition. Grosse Schellen liegen auf dem Boden, auf dem Tisch feine Ziselierarbeiten. «Die Bräuche von Urnäsch begleiten mich hier das ganze Jahr über.» Niklaus Frehner stellt die Ledermasken (genannt Larven) für die Silvesterchläuse her, die Riemen für das Bloch und die schön verzierten Appenzeller Hosenträger für einen weiteren wichtigen Brauch.
Im Appenzellerland ist die Alpfahrt ein wichtiger Festtag. Und zwar in streng vorgeschriebener Ordnung und Reihenfolge: Angeführt wird der Alpfahrtszug von den weissen Appenzeller «Gäässe», den Ziegen. Ein Bub in Sennentracht und ein Mädchen in Werktagstracht treiben sie an. Dann tritt der Senn in der Volltracht auf. Ihm folgen drei Kühe, die Senntumsschellen tragen. Hinter ihnen vier Sennen, die zum Glockengeläut singen und zauren. Gefolgt vom Rest der Viehhabe der Alp: die Kühe, Rinder und Kälber, ein schön geschmückter Stier und das Pferd. Den Abschluss macht der Besitzer der Herde – an seiner Seite der Appenzeller Sennenhund, «de Bläss».
Der Käse von der Alp wird unter anderem auch in der Käserei an der Hauptstrasse verkauft. Hier arbeitet Helen Stark, 52, seit acht Jahren. Neben der Spezialität von Alp Nase verkauft sie an der Theke auch den Brauchtumskäse und den berühmten Urnäscher Hornkuhkäse – am World Championship Cheese Contest in Madison (USA) wurde dieser Käse sogar Vize-Weltmeister. «Wir verwenden hier nur Milch von gehörnten Kühen», sagt Helen Stark.
Etwas ausserhalb vom Dorf steht ein weiss gestrichenes Appenzellerhaus. Im Erdgeschoss hat Simon Tobler, 41, eine Polsterwerkstatt eingerichtet, in der alten Stube nebenan führt er mit seiner Frau Damaris, 42, ein Café. Die Ostschweizer Familie zog vor sechs Jahren von Deutschland hierher. «Durch mein Handwerk konnte ich mich gut im Dorf integrieren», sagt er. Einen direkten Bezug zu Urnäsch hatte Tobler nämlich nicht. «Meine Söhne hatten aber schon mal die Silversterchläuse gesehen und wollten irgendwo leben, wo es die gibt», sagt er. Das Brauchtum hat sie sozusagen hierhergezogen.
Die Traditionen von Urnäsch sind im Trend. Sie halten die Menschen in der Gemeinde zusammen, sie verbinden die alte mit der neuen Generation. Und jedes Jahr ziehen sie Tausende Schaulustige von überall nach Urnäsch. Sogar Ringo Starr von den Beatles sass in den 90er-Jahren eines Tages mit Lederjacke und dunkler Sonnenbrille im Restaurant Engel und beobachtete die Alpfahrt. Einem Reporter sagte er damals: «Ich bin heute nicht die wichtigste Person hier.»