Unweit vom Stadtzentrum Winterthur und doch mitten im Grünen liegt die Neubauwohnung von Verena Diener, 73. «Mittags gehe ich oft mit meiner Tochter, die in der Nähe wohnt, spazieren», sagt die frühere grünliberale Ständerätin und Gesundheitsdirektorin von Zürich. In der Küche hängen Zeichnungen ihrer Enkelinnen – sechs Mädchen sind es. Ihr Mann Max Lenz ist 2013 an Krebs verstorben.
Frau Diener, Sie haben sich 2015 aus der Politik zurückgezogen. Nun treten Sie bei der Abstimmung über das Transplantationsgesetz erneut ins Rampenlicht. Warum?
Ich gebe zu, dass ich etwas gezögert habe, mich wie - der zu exponieren. Ich geniesse das Leben abseits der Öffentlichkeit (schmunzelt). Aber das Thema Organspende kreuzt schon zum dritten Mal meinen Weg, und für mich war klar: Das Volk muss unbedingt über die Widerspruchslösung abstimmen können. Denn die Oberflächlichkeit, die das Parlament und der Bundesrat in diesem heiklen Geschäft an den Tag legten, macht mich betroffen.
Was meinen Sie mit Oberflächlichkeit?
Es gab keine ethisch vertiefte Diskussion darüber, was passiert, wenn ich sterbe – weder im Ständerat noch im Nationalrat. Besprochen wurde allein der Fakt, dass es in der Schweiz einen Mangel an Spenderorganen gibt. Bund und Parlament haben sich kurzerhand für die Widerspruchslösung ausgesprochen. Diese besagt: Wem nach seinem Tod kein Organ entnommen werden darf, muss dies explizit festhalten. Ohne Widerspruch dürfen Organe und Gewebe entfernt werden. Mein Körper wird also zum Allgemeingut, wenn ich sterbe. Dieser Vorschlag widerspricht unserer Verfassung, die vorschreibt, dass wir über uns selbst bestimmen können. Früher hätte der Ständerat, auch bekannt als Chambre de Réflexion, ein solches Gesetz nie durchgewunken.
Heute müssen Angehörige im Todesfall entscheiden, ob ihren Liebsten Organe entnommen werden dürfen, wenn kein Wille dokumentiert ist. Mit der Widerspruchslösung würde man sie gemäss den Befürwortern entlasten, weil eher bekannt ist, ob die Angehörigen spenden wollen oder nicht.
Die Angehörigen werden nicht entlastet – im Gegen - teil! Stellen Sie sich vor, Ihr Sohn hat einen Unfall und liegt im Sterben. Er hat sich nicht ins Widerspruchsregister eintragen lassen, und Sie haben nie über das Thema gesprochen. Heute müssen Sie sich als Angehörige fragen: Hätte er einer Organspende zugestimmt? Würde ihm das entsprechen, jemandem diesen Dienst zu erweisen. Künftig wäre die Frage: Hätte er sich gegen eine Organentnahme gewehrt? Sie müssen dann nachweisen, dass er das womöglich nicht wollte. Das ist doch emotional viel schwieriger.
Heute lehnen die meisten Angehörigen eine Organspende ab, wenn sie den Willen des Sterbenden nicht kennen.
Ja, und diese Entscheidung sollte man auch respektieren. Es ist ein natürlicher Reflex, dass man in einer Sterbesituation den zusätzlichen Stress einer Organentnahme nicht will. Versetzen Sie sich mal in die Situation des Organempfängers oder der -empfängerin: Für sie ist es auch einfacher, wenn sie zu 100 Prozent weiss, dass der Spender seine Einwilligung gab. Die heutige Zustimmungslösung ist somit ein Qualitätssiegel.
Das neue Gesetz schreibt vor, dass alle Erwachsenen mit einer gross angelegten Kampagne über den Ablauf der Organspende und den allfälligen Widerspruch im Widerspruchsregister informiert werden.
Heute hat nur jede sechste Person einen Organspendeausweis – obwohl es klar zu wenig Spenderorgane gibt. Der Bund und Swisstransplant haben in der Aufklärung bisher kläglich versagt. Und nun wollen sie sechs Millionen Menschen in der Schweiz regelmässig, neutral und umfassend über den Ablauf einer Organentnahme und den möglichen Eintrag ins Register aufklären? Gerade bildungsferne Personen oder solche mit ungenügenden Sprachkenntnissen werden die neue Gesetzesregelung nicht mitbekommen. Das ist höchst ungerecht.