Plopp, schon ist sie da – Viola Amherd, zugeschaltet via Skype. Sie sei ziemlich einsam im Bundeshaus Ost, sagt sie, die meisten Mitarbeitenden seien im Homeoffice. Zwei weitere Fenster öffnen sich: In der einen «Kachel» sitzt Karin Keller-Sutter, in der anderen («Grüessech!») Simonetta Sommaruga. Darunter: die bilderlosen Namen von ebenfalls zugeschalteten Bundeshaussprechern. «Unsere Aufpasser», witzeln die Damen.
Reisen wir zuerst kurz in die Kindheit: Frau Amherd, wer war Ihr weibliches Vorbild?
Am meisten beeinflusste mich meine Mutter. Sie arbeitete im elterlichen Elektrounternehmen mit und hatte mich immer dabei – oft waren die Elektrikerlehrlinge meine Kindermädchen. So habe ich von klein auf gelernt mitzuhelfen, etwa indem ich Marken auf Briefe klebte. Meine Mutter war auch ein Vorbild, weil sie mir und meiner 14 Jahre älteren Schwester stets sagte, wir sollen eine gute Ausbildung machen und auf eigenen Beinen stehen.
Simonetta Sommaruga: Bei mir war es Grosstante Agnes. Sie hatte, was damals sehr ungewöhnlich war, eine Führungsfunktion beim früheren Schweizer Verband Volksdienst, der heutigen SV Group. Sie reiste viel, machte Fotos und organisierte dann faszinierende Diaabende. Sie war unverheiratet und unabhängig, wurde in der damals sehr konservativen Gesellschaft deshalb oft ausgegrenzt. Viele haben sie belächelt. Ich habe Tante Agnes bewundert.
Das kennen Sie, Frau Amherd, wohl nur zu gut. Oft wird darüber diskutiert, dass Sie ledig sind. Nervt das?
Nein. Es verwundert mich nur, dass das so ein grosses Thema ist. In der Schweiz gibt es so viele Einpersonenhaushalte und Alleinstehende. Das ist doch nichts Spezielles.
Und Ihr Vorbild, Frau Keller-Sutter?
Witzig: Auch ich hatte eine Tante Agnes, die mich prägte! Klar, auch meine Mutter war ein Vorbild. Sie war das Rückgrat unseres Gastronomiebetriebs, hatte aber auch immer Zeit für uns vier Kinder. Vor allem für mich – ich war ein Nachzüglerli. Aber eben: Tante Agnes. Sie war toll. Das war eine Schwester meines Vaters. Er hatte fünfzehn Geschwister, zwölf davon haben überlebt, und Tante Agnes war Lehrerin, das war in jener Zeit hochakademisch und aussergewöhnlich. Wir reden von Jahrgängen am Anfang des letzten Jahrhunderts. Tante Agnes fand, es wäre Verschwendung zu heiraten bei so einem schönen Beruf.
«Bei uns gab es früher eine Regel: Wer nach dem Essen Klavier übt, muss nicht abwaschen»
Simonetta Sommaruga
Sie haben drei Brüder, Frau Keller-Sutter, und Sie, Frau Sommaruga, zwei. Hatten Sie die gleichen Chancen wie ihre männlichen Geschwister?
Sommaruga: Ich habe mir die gleichen Chancen geholt. Bei den Buben erwartete man, dass sie irgendwann eine Familie ernähren können. Bei den Mädchen hiess es im dörflichen Umfeld eher: «Du heiratest ja bald.» Meine Eltern haben das nicht so gesagt, aber rundum waren die Erwartungen sehr deutlich. Wenn ich uns drei Frauen anschaue, dann haben wir diese Chancen gepackt.
Karin Keller-Sutter: Meine drei älteren Brüder hatten überhaupt nicht auf ein Mädchen gewartet. Im Gegenteil: Der Jüngste war im Primarschulalter, als mein Vater nach Hause kam und sagte: «So schön, jetzt händ ihr äs Schwöschterli», meinte der Bruder, so ein «Brüeliwiib» wolle er nicht. Das war ein Stahlbad mit drei älteren Brüdern. Meine Eltern behandelten uns – obwohl sie eher konservativ eingestellt waren – nicht unterschiedlich. Nur das Umfeld sah das anders. «Das Meitli heiratet dann mal», hiess es auch bei mir. Und plötzlich ging es studieren, und die Leute waren erstaunt.
Mussten Sie im Haushalt mehr mithelfen?
Keller-Sutter: Da habe ich mich immer gewehrt. Wenn ich neben dem Bruder stand und mein Vater zu mir sagte: «Machst du mir noch einen Kafi», dann entgegnete ich schon: «Wieso ich? Weil ich ein Mädchen bin? Das kann doch Beni machen!» Ich sehe mich genetisch nicht vorbestimmt zum Servieren. Sogar bei diesen kleinen Dingen lehnte ich mich von Anfang an auf.
Sommaruga: Bei uns gabs eine Regel: Wer nach dem Essen Klavier übt, muss nicht abwaschen.
Deshalb wurden Sie Pianistin?
Sommaruga: Nein, aber ich war tatsächlich einige Male zuerst am Klavier (lacht).
Frau Amherd, Sie sind VBS-Vorsteherin. Die erste Frau an der Spitze des Schweizer Militärs. Was würde Ihre Mutter dazu sagen?
Sie und mein Vater waren immer sehr zufrieden, wenn es gut lief. Wenn ich in der Schule gut war, die Matura machte oder studierte. Als ich in die Politik einstieg, hat meine Mutter das unterstützt. Obwohl sie – das muss ich ehrlich sagen – nicht viel auf offizielle Ämter oder Funktionen gab. Das war für sie nicht «Wow, Gemeinderätin!», «Wow, Stadtpräsidentin». Und wenn ich mich über etwas aufregte, meinte sie schnell mal: «Für was machst du das alles? Lass es doch sein!» Aber ich war zu interessiert, redete und gestaltete gern mit.
Frau Keller-Sutter, Sie wuchsen in einem Restaurant auf, wurden quasi am Stammtisch politisch sozialisiert. Rief man Ihnen da «Frölein, zahle!» zu?
Keller-Sutter: Klar rief man das. Ich arbeitete auch während des Studiums im Service. Und nur wenn man freundlich und nett war, gabs öppediä ein Trinkgeld.
Wie wurde am Stammtisch das Frauenstimmrecht diskutiert?
Keller-Sutter: Da war ich erst siebenjährig. Später, als Jugendliche, merkte ich: Ich bin eigentlich ohne Rechte zur Welt gekommen. Und das beschäftigte mich wahnsinnig. Zu sehen, dass meine Mutter, die eine so zentrale Funktion in unserem Familienbetrieb hatte, keinerlei Rechte besass. Das neue Eherecht, das die Gleichberechtigung in der Ehe brachte, kam ja erst 1988.
Sommaruga: Meine Mutter hatte vier Kinder zu betreuen, sie kämpfte damals nicht an vorderster Front fürs Frauenstimmrecht. Ich komme aus einem Dorf, das damals – muss ich leider sagen – die Einführung des Frauenstimmrechts ablehnte. Wir vier Kinder begleiteten meinen Vater oft ins Gemeindehaus, wenn er abstimmen ging. Wir warteten, er ging rein. Und eines Tages konnte plötzlich auch meine Mutter mit reingehen. Das hat mich wahnsinnig beeindruckt, ich war damals elf. Meine Mutter hat ihr Stimmrecht sehr ernst genommen und praktisch keine Abstimmung ausgelassen! Sie ist bis heute gut informiert.
Sie, Frau Amherd, kommen aus einem Vorreiter-Kanton, dem Wallis – die Frauen von Unterbäch haben als erste ihr Stimmrecht erstritten. War das spürbar?
Mir geht es wie Karin, ich war achtjährig und kann mich daran nicht erinnern. Später, als ich abstimmen konnte, war das für mich grossartig. Ich bin den Vorreiterinnen, die viel erdulden und erleiden mussten, sehr dankbar. Woran ich mich erinnere: Meine Grosseltern erzählten mir von Iris von Roten. Ich hatte keine Ahnung, wer das ist. Sie redeten über von Rotens Buch «Frauen im Laufgitter». Und darüber, dass dies das grosse Thema beim Fasnachtsumzug sei. In unserer Gemeinde bastelten sie ein riesiges Laufgitter und stellten Frauen rein …
Keller-Sutter: Wenn Viola von Frau von Roten erzählt, kommt mir Lotti Ruckstuhl in den Sinn, eine wichtige Frauenrechtlerin und Juristin aus Wil. Obwohl das Frauenstimmrecht so umstritten war, hat man von ihr immer mit grossem Respekt geredet. Sie war uns Mädchen ein Begriff.
Sommaruga: Als 2017 der Film «Die göttliche Ordnung» an den Solothurner Filmtagen gezeigt wurde und ich die Eröffnungsrede hielt, habe ich mich von zwei Frauen begleiten lassen, die zu den erstgewählten Nationalrätinnen gehörten: Gabrielle Nanchen und Hanna Sahlfeld-Singer. Da war mir klar: Das sind Frauen, die unsere Kolleginnen sein könnten. Das ist alles überhaupt nicht lange her. Und als man im Film sah, wie sehr Frauen und Männer ausgegrenzt wurden, die sich fürs Frauenstimmrecht engagierten, ging mir das nahe.
«Als Jugendliche merkte ich: Ich bin eigentlich ohne Rechte zur Welt gekommen»
Karin Keller-Sutter
Schauen wir zurück auf die letzten 50 Jahre Frauenbewegung: Was ist Ihre Bilanz?
Viola Amherd: Ganz wichtig ist sicher die Mutterschaftsversicherung. Und für die Vereinbarkeit von Beruf und Familie haben wir eine familienergänzende Kinderbetreuung aufgebaut. Aber wir sind noch nicht am Ziel. Es braucht mehr Frauen in der Wirtschaft und in der Politik. Denn die Hälfte der Bevölkerung sind ja Frauen. Und das Wichtigste haben wir nicht erreicht: die Lohngleichheit! Das muss selbstverständlich sein.
Keller-Sutter: Rechtlich hat sich die Stellung der Frau stark verbessert. Ich denke ans neue Ehe- oder das Scheidungsrecht. Handlungsbedarf sehe ich bei der Bekämpfung von häuslicher Gewalt. Als St. Galler Regierungsrätin habe ich im Jahr 2000 als Erstes ein Gesetz gegen häusliche Gewalt eingebracht: dass der Täter das Domizil verlassen muss und nicht das Opfer! Auch im Justizdepartement arbeite ich jetzt an dieser Thematik.
Amherd: Ich bin froh, dass Karin dieses Thema aufnimmt. Als Anwältin sah ich früher auch, was Gewalt an Frauen bedeutet. Ich arbeitete zudem im Verein Unterschlupf für gewaltbetroffene Frauen und ihre Kinder. Da sah ich viel Trauriges. Auch deshalb ging ich in die Politik.
Sommaruga: Das Engagement gegen häusliche Gewalt verbindet uns drei. Ich arbeitete als junge Frau im Haus für geschlagene Frauen. Ich machte da Nachtdienst. Dieses Thema hat mich politisiert. Mir wurde bewusst: Das ist kein privates Problem, sondern ein gesellschaftliches.
Zurück zur Lohnungleichheit. Hier wird von den Unternehmen nun eine Analyse verlangt. Reicht das? Sanktionen gibts ja keine...
Sommaruga: Wenn der Arbeitgeber nach der Lohnanalyse seine Mitarbeitenden informieren muss, dass in seiner Firma Frauen diskriminiert werden und weniger verdienen, nur weil sie Frauen sind, wird sich sehr schnell etwas ändern.
Ähnlich sieht es bei der «Frauenquote light» aus: Börsenkotierte Unternehmen müssen mehr Frauen in ihrem Verwaltungsrat und in der Geschäftsleitung haben. Erreichen sie das nicht, passiert aber gar nichts.
Sommaruga: Die Erwartung ist heute, dass in einem Verwaltungsrat Männer und Frauen sitzen. Gemischte Teams wirtschaften besser. Wenn diese Unternehmen in ihrem Geschäftsbericht nun schreiben müssen, dass sie es nach zig Jahren noch immer nicht geschafft haben, für 30 oder 20 Prozent Frauen in ihren Kontroll- und Führungsgremien zu sorgen, haben sie gesellschaftlich ein Problem. Die Tatsache, dass Firmen aktuell intensiv nach Frauen suchen, zeigt, dass der Druck wirkt.
Wo oder wann in Ihrem Leben haben Sie Ungerechtigkeiten erlebt, weil Sie eine Frau sind?
Sommaruga: Als ich noch Pianistin war, gab ich ein Konzert. Ich war 22 Jahre alt und spielte Beethoven. Der Moderator kündigte mich an, ich betrat die Bühne. Im Moment, als ich an ihm vorbeilief, sagte er: «Frauen können nicht Beethoven spielen.» Das war wie ein Schlag in den Magen. Es gibt viele Pianistinnen, etwa mein Vorbild Elisabeth Leonskaja, die wunderbar Beethoven spielen. Was meine politische Laufbahn betrifft, habe ich das Glück, in einer Partei zu sein, in der die Frauen die gleichen Chancen haben.
Keller-Sutter: Ich wurde mit 36 Jahren Regierungsrätin. Viele Kollegen fanden damals, ein Regierungsrat müsse Offizier sein und ein Mann. In der Fraktion hatten wir viele konservative freisinnige Männer. Einer von ihnen sagte mir, als ich aufhörte: «Du warst der beste Regierungsrat.» Er wählte bewusst die männliche Form. Es war seine Art der Entschuldigung.
Amherd: Ich bin mit 29 Jahren in den Stadtrat von Brig gewählt worden. Als man einen Nachfolger für das Briger Stadtpräsidium suchte, hat man aus unserer Partei zwei Männer vorgeschlagen. Ich war nicht weniger qualifiziert. Aber mich hat niemand gefragt.
Halten die Frauen im Bundesrat mehr zusammen als die Männer?
Sommaruga: Nicht automatisch! Aber wenn wir zusammenhalten, haben wir faktisch immer die Mehrheit, weil wir immer einen Mann finden, der uns hilft (lacht).
Amherd (lacht): Da gibt es nichts zu ergänzen. Das ist so. Wir arbeiten gut zusammen.
Keller-Sutter: Ich finde es einen Gewinn, dass wir drei Bundesrätinnen aus drei verschiedenen Parteien kommen. Es ist wichtig, dass junge Frauen Vorbilder haben. Die einen können sich vielleicht besser mit Simonetta identifizieren, andere eher mit Viola. Auch ich bekomme öfters Post von Meitli, die jetzt auch Bundesrätin werden wollen.
Sie sind drei Frauen ohne Kinder. Ist der Bundesratsjob nicht vereinbar mit Kindern?
Amherd: Ich denke schon! Es gab auch schon Bundesrätinnen mit Kindern. Micheline Calmy-Rey, Elisabeth Kopp oder Eveline Widmer-Schlumpf etwa. Sie haben alle einen guten Job gemacht und, soweit ich weiss, geht es ihren Kindern auch allen gut (lacht).
Sommaruga: Heute gibt es ganz verschiedene Familien- und Beziehungsformen. Mein Mann hat drei Kinder, die nicht meine eigenen sind, mit denen ich aber sehr verbunden bin. Ich habe auch ein enges Verhältnis zu meinen Nichten und Neffen. Doch mit kleinen Kindern wäre der Job sicher nicht einfach zu vereinbaren.
Keller-Sutter: Bei uns dreien hat jede ihre eigene Geschichte, warum sie keine eigenen Kinder hat. Ich beispielsweise hatte zwei schwere Fehlgeburten. Aber ich habe ebenfalls eine enge Bindung zu meinen Nichten und Neffen.
Amherd: Mein Gottemeitli wohnte in derselben Überbauung, es war sehr oft bei mir – und ein bisschen wars wie mein eigenes Kind. Und ist es immer noch.
«In meiner Funktion als erste Verteidigungsministerin ist es klar, dass man über mein Frausein redet»
Viola Amherd
Wer ist heute Ihre Lieblingsfrau?
Sommaruga: Da gibt es viele! Freundinnen von mir. Meine Schneiderin, meine Goldschmiedin, eine Sängerin, eine Psychiaterin ... Keller-Sutter: Ich habe nicht einfach eine Lieblingsfrau. Ich habe Menschen in meinem Umfeld, die ich respektiere, die ich für das anerkenne, was sie leisten, die Talente haben, die ich nicht habe. Wenn ich sehe, wie Simonetta Klavier spielt, finde ich das wunderbar. Das würde ich auch gern können.
Finden Sie es anstrengend, ständig – auch jetzt – übers Frausein reden zu müssen?
Sommaruga: Nein, überhaupt nicht. Ich glaube, das ist wichtig. Auch dieses Gespräch mit meinen zwei Kolleginnen. Ich bin auch sehr froh über die #MeToo-Bewegung, wo Frauen vielleicht zum ersten Mal erzählen, was ihnen Diskriminierendes widerfahren ist. Es ist erschreckend, wie verbreitet Sexismus heute noch ist. Mit kleinen Bemerkungen, kleinen Übergriffen fängt es an. Diese Erfahrungen kennen wir alle. Nur wenn wir darüber reden und dagegen ankämpfen, können wir etwas ändern.
Keller-Sutter: Wichtig finde ich vor allem, dass Frauen in der Politik sichtbar sind. Ich bin gern eine Frau. Was mich stört, sind geschlechterspezifische Klischees und Zuschreibungen. Es gibt nicht die Frau. Dies gilt übrigens auch für Männer. Wir können erst frei und entspannt als Frauen und Männer leben, wenn wir uns von solchen Zuschreibungen lösen.
Amherd: In meiner Funktion als erste Verteidigungsministerin ist es klar, dass man über mein Frausein redet. Das ist auch gut so, gerade um ein Vorbild für junge Mädchen zu sein. Sie sehen, es ist selbstverständlich, dass es Verteidigungsministerinnen oder Militärpilotinnen gibt. Wir Frauen können alles sein, wenn wir wollen.