Wann ist ein Krieg vorbei? Wenn die Tinte der Unterschriften unter dem Friedensvertrag trocken ist? Wenn Bombenkrater und Einschüsse mit Zement und Beton beseitigt sind?
Das offizielle Ende des Krieges im Kosovo ist auf den 9. Juni 1999 datiert. Für Bosnien-Herzegowina gilt der 14. Dezember 1995. Seitdem schweigen die Waffen. Seitdem kann sich die Bevölkerung wieder einen Staat, ein Leben, eine Wirtschaft aufbauen. Doch das dauert, denn nicht alle Wunden, die der Krieg geschlagen hat, lassen sich mit Zement und Beton reparieren. Ebenso wenig die schwelenden Konflikte, die auf den Krieg zurückgehen.
Schweiz beteiligt sich
Deshalb ist seit Kriegsende im Kosovo die internationale Friedenstruppe Kosovo Force KFOR stationiert, in Bosnien-Herzegowina die EUFOR Althea. Zusammen mit ziviler und staatlicher Hilfe soll dieser militärische Arm den langwierigen und schwierigen Prozess zum Frieden unterstützen. Die Schweiz beteiligt sich seit Beginn mit Freiwilligen der Swisscoy (Swiss Company) an den Missionen.
«Ich kenne Mitrovica inzwischen besser als Versoix», sagt David Olumese zu Bundesrätin Viola Amherd, welche die Schweizer KFOR-Kompanie im Kosovo besucht. Olumese ist Kommandant des Verbindungs- und Monitoringteams LMT in der Stadt im Norden Kosovos. Wie alle anderen seiner Kolleginnen und Kollegen der AK 46/36 (Motto: carpe diem) hat er sich für ein halbes Jahr verpflichtet. Die zum Selbstschutz bewaffneten Angehörigen des LMT sind die Augen und Ohren der Friedenstruppen. Durch Gespräche mit der Bevölkerung und den Behörden sammeln sie Informationen und leiten diese an das Kommando der KFOR weiter.
Brücke als Symbol des Konflikts
Damit bilden sie ein Frühwarnsystem für aufkommende Konflikte. Die LMTs sind stets in Begleitung von lokalen Übersetzerinnen und Übersetzern und leben in Häusern inmitten der Bevölkerung. Im Kosovo sind Schweizer LMTs neben Mitrovica in Malisevo, Prizren und Novo Selo im Einsatz.
David Olumese führt die Verteidigungsministerin über die Ibar-Brücke in Mitrovica: Sie ist zum Symbol des immer noch schwelenden Konflikts geworden und trennt die rund 80'000 Stadtbewohnerinnen und -bewohner mit albanischen Wurzeln im Süden von den rund 50'000 Menschen im serbischen Stadtteil im Norden. Für Fussgängerinnen und Fussgänger ist die Brücke offen, Autos können sie wegen einer Blockade auf serbischer Seite nicht passieren.
Das Laufband ist kaputt
«Eine Brücke ist doch ein Symbol für das Verbindende. Hier wird sie benutzt, um eine Trennung zu manifestieren», sagt Amherd nachdenklich. Gleichzeitig ist sie stolz auf das siebenköpfige LMT-Team. Bei einem Besuch und einer Führung in ihrem Haus melden die KFOR-Angehörigen, dass beide Bevölkerungsgruppen die Schweiz sehr respektierten. Und sie rapportieren, dass das Laufband im Fitnessraum grad kaputt sei. Fügen aber sofort an: «Kein Problem, das kriegen wir wieder hin.» Wie alle hier Stationierten müssen sie ihre freie Zeit im Haus oder im Camp verbringen. Ausgang in Zivil ist nicht erlaubt, ein Restaurantbesuch nur, wenn in offizieller Mission unterwegs.
Putins Krieg gegen die Ukraine hat im Westbalkan eine Schockwelle ausgelöst. Die Furcht vor dem Funken, der einen Brand auslösen kann, steigt. Denn noch immer herrschen zwischen den Bevölkerungsgruppen grosse Spannungen. In Mitrovica zeigt sich das konkret: Die Serbischstämmigen wollen nicht zum 2008 selbst deklarierten Kosovo gehören, der albanische Teil fürchtet sich vor einem erneuten Einmarsch Serbiens. Es scheint, als seien die zum Eigenschutz bewaffneten KFOR-Frauen und -Männer der letzte Wall – vielleicht nicht wirklich geliebt, aber doch als Schutz erwünscht.
Stolz auf Landsleute in der Schweiz
Das bestätigt Jeta Statovci, Parlamentarierin und Präsidentin der Freundschaftsgruppe Kosovo-Schweiz. Sie trifft Amherds Delegation im Parlament in Pristina. In dessen Halle prangt ein riesiges Bild von Mutter Teresa – eine Albanerin aus Prizren. «Wir sind sehr froh um die Präsenz der KFOR und besonders der Schweiz», sagt die Parlamentarierin. Die Beziehungen sind eng, da in der Schweiz etwa 113 000 kosovostämmige Menschen leben. Statovci: «Ich bin sehr stolz darauf, dass rund 5000 meiner Landsleute, die heute das Schweizer Bürgerrecht haben, in der Schweizer Armee Dienst tun.»
«Ein erneuter Konflikt hat auch Folgen für die Schweiz.»
Viola Amherd
Um Gemeinsamkeiten geht es auch beim Treffen von Viola Amherd mit Albin Kurti, dem Premier von Kosovo. «Ich bewundere seine positive und hoffnungsvolle Art. Mitglieder seiner Familie sind im Krieg getötet und vergewaltigt worden. Aber er engagiert sich trotzdem mit viel gutem Willen.» Auf Kurtis Agenda stehen Korruptionsbekämpfung und Stärkung der Rechtsstaatlichkeit. Und: «Er will die Abwanderung der Jungen stoppen», so Amherd. Eine aktuelle Jugendstudie hat ergeben, dass fast die Hälfte der 14- bis 29-Jährigen ihr Land gern für immer verlassen möchten. Die einheimische Künstlerin Ermira Murat hat gar ein Wandgemälde gestaltet mit den Worten: «I don’t want to live, I want to leave» – «Ich will nicht leben, ich will gehen».
«Situation hat sich nicht verbessert»
Im Gespräch mit Kurti, aber auch mit den Spitzen der KFOR sei klar geworden, dass es noch zu früh sei für einen Abzug der Friedenstruppen, betont Amherd. «Wir müssen uns bewusst sein, dass ein erneuter Konflikt im Westbalkan Folgen für ganz Europa hat.» Nicht nur wäre ein Krieg eine menschliche Katastrophe, er hätte auch Folgen für die Migration. «Ich war schon vor drei Jahren hier, aber die Situation hat sich leider nicht verbessert.»
Umso überschwänglicher ist der Dank von Viola Amherd an die Schweizerinnen und Schweizer, die sich am Abend im KFOR-Hauptquartier in Pristina zu ihren Ehren versammeln. «Ich fühle mich fast wie zu Hause», scherzt sie, als ihr gleich drei Walliser vorgestellt werden. Dann wird die Magistratin ernst: «Ihr garantiert die Stabilität in der Region. Und das bedeutet Stabilität für uns in der Schweiz.» Man könne Berichte schreiben, Präsentationen machen, aber es sei nie dasselbe, wenn man selber vor Ort sei. «Eure Aufgabe ist nicht leicht. Deshalb möchte ich euch Danke sagen», so die Bundesrätin.
«Wir haben einfach Glück»
2023 wird das Parlament über eine Verlängerung des Mandats abstimmen. Für Amherd ist klar, dass sich die Schweiz jetzt nicht zurückziehen dürfe. «Wir Schweizerinnen und Schweizer haben einfach Glück. Es steht uns gut an, uns an Friedensmissionen zu beteiligen.» Und: «Wir hatten noch nie Probleme, genügend Freiwillige zu rekrutieren. Es melden sich bei jeder Ausschreibung mehr, als wir berücksichtigen können.»
Die mitgereiste Grünen-Ständerätin Céline Vara hört aufmerksam zu. «Ich bin kritisch gegenüber dem Auslandsengagement der Armee.» Aber sie sei beeindruckt, «mit wie viel Herzblut und Engagement unsere Leute hier Dienst leisten». Das habe sie nicht erwartet. Ob das ihre Meinung ändert? Vara wird sich, zurück in der Heimat, in der Debatte im Ständerat dazu äussern.
Wann ist ein Krieg vorbei?
Nur etwas mehr als 1000 Kilometer Luftlinie oder rund anderthalb Stunden Flugzeit entfernt liegen zwei Länder, in denen seit über 20 Jahren nicht mehr Krieg herrscht. Aber auch noch nicht Frieden.