Als Adrien Dupraz nach seinen Ferien am Flughafen Zürich ankommt, wirft er einen Blick aufs Handy und weiss: Die Abstimmung über eine 13. Rente wurde angenommen. Der Direktor der Zentralen Ausgleichsstelle (ZAS) schluckt einmal leer. Sein erster Gedanke: «Das wird uns sehr, sehr, sehr viel Arbeit machen.» Der zweite: «Gut, wir machen das jetzt. Das Volk hat immer recht.»
Genf. Ein vermeintlich normales Bürogebäude: grauer Teppich, grosse Fenster. Der Chef hat seinen Arbeitsplatz im obersten Stock, sein Stuhl verwaist allerdings in der Ecke des Zimmers – «ich stehe lieber».
Adrien Dupraz (60) sorgt dafür, dass wir alle zu unserer AHV kommen. Um das zu verstehen, brauchts einen kleinen Exkurs: Angenommen, ich bin Pensionärin und möchte meine Rente beziehen. Meine Ausgleichskasse – beispielsweise meines Kantons oder meines Berufsverbandes – meldet der ZAS, wie viel Geld sie braucht, um meine Rente auszuzahlen. Die ZAS überweist den Betrag. Das gilt natürlich nicht nur für mich, sondern für alle AHV-Bezüger. So kommt es, dass von diesem Genfer Bürogebäude aus über die Ausgleichskassen jeden Monat rund fünf Milliarden Franken an AHV, IV und sonstigen Renten in die Portemonnaies der Schweizerinnen fliessen.
Auf dem Dach stehen Bienenstöcke, die den Zentrale-Ausgleichskasse-Honig produzieren. «Die Bienen sind unsere Schwarzarbeiterinnen», scherzt Dupraz. Unter dem Dach hat er über 800 menschliche Angestellte. In einem Sitzungszimmer mit Blick auf den Jet d’Eau nimmt sich der Direktor Zeit, die Besonderheiten seiner beinahe unbekannten Behörde zu erklären.
«Der Frau hinterhergereist»
Vorweg: Dass seine Mitarbeitenden täglich mit Millionen hantieren, macht Dupraz keine Bauchschmerzen. «Wir hatten noch nie eine Panne – höchstens mal eine Verspätung.» Und Dupraz ist «astronomische Summen» gewohnt: Bevor er ZAS-Direktor wurde, war er 18 Jahre lang Chef der Eidgenössischen Ausgleichskasse – das ist jene, welche unter anderem den Bundesangestellten die AHV auszahlt.
Seit fast 30 Jahren ist Dupraz in dieser Materie unterwegs. «Obwohl ich nur ein Jahr bleiben wollte!» Der Jurist aus Freiburg war seiner Frau nach Genf hinterhergereist. «Damals hatte ich gerade das Anwaltspraktikum gemacht und sagte mir: Jetzt nimmst du den erstbesten Job in Genf.» Dass er nun bis zu seiner eigenen Rente Rentenexperte ist, scheint an seiner Begeisterung für die AHV zu liegen. «Es ist einfach eine von Grund auf solidarische Versicherung. Ein Service für alle Menschen in diesem Land. Wir wissen, dass die Leute darauf angewiesen sind, ihr Geld zu bekommen. Deshalb muss bei uns alles super funktionieren.»
Adrien Dupraz scheint seine Aufgabe als oberster AHV-Verteiler nicht nur interessant zu finden, sondern manchmal sogar witzig. Erstes Beispiel: «Wir hatten mal den Fall, dass jemand seine AHV-Nummer ändern wollte, was eigentlich nicht geht – er hatte dreimal hintereinander eine Sechs und fühlte sich mit der Teufelszahl nicht wohl.» Die ZAS selbst ist es, welche die AHV-Nummern vergibt. Sie tritt also schon mit einem in Kontakt, wenn man gerade erst geboren wurde.
Zweites Beispiel: Früher gab es bei der AHV-Nummer eine Zahl, die anzeigte, ob jemand Mann oder Frau ist. «Das führte bei Transpersonen zu Problemen. Darum und weil der internationale Standard geändert wurde, gibt es diese Kennzahl heute nicht mehr.»
Drittes Beispiel: «Dass es Ausgleichskassen für verschiedene Berufe gibt, liegt daran, dass die Wirtschaftspatrons verhindern wollten, dass die Höhe der Löhne, die sie zahlen, bekannt wird. Und weil die Kantone gewisse Kompetenzen bewahren wollten. Deshalb haben wir heute noch ein dezentrales System – mit der ZAS als Zentralorgan.»
Und eben dieses Organ steht nun vor einer Herausforderung: Es muss die zentrale Verwaltung der 13. Rente aufgleisen. «Wir sind nur Ausführende», sagt Dupraz, «aber die Ausführung muss korrekt sein. Uns wäre es recht, wenn die Zahlung der 13. Rente monatlich passiert statt einmal pro Jahr. So könnten wir unser System einfacher anpassen.»
Auszahlungen in 180 Länder
Tauchen wir noch etwas tiefer in die Materie ein: Auf dem Konto der ZAS landen auch die AHV-Beitrage, die alle Erwerbstätigen einzahlen. Die ZAS schickt das Geld zu Compenswiss (ehemals AHV-Ausgleichsfonds). Und zwar einen dreistelligen Millionenbetrag – jeden Tag. Warum? Weil Compenswiss das Geld anlegt und dafür sorgt, dass immer genügend Liquidität da ist.
«Die Summen sind eindrücklich», sagt Adrien Dupraz, «aber nur ein kleiner Teil unserer Mitarbeitenden ist mit diesem Zahlungsverkehr beschäftigt.» Die Mehrheit kümmert sich um andere Angelegenheiten, die weniger automatisiert ablaufen. IV-Zahlungen beispielsweise. Oder die AHV-Zahlungen für die Auslandschweizer und Menschen, die in der Schweiz gearbeitet haben und heute in 180 Ländern leben. Auch wenn Dupraz sein Geschäft gut erklärt – irgendwann schwirrt der Kopf. Ob er am Ende gar nachts von der AHV träumt? «Albträume über fehlendes Geld habe ich nie. Aber manchmal kommt mir eine gute Idee für die Zukunft in den Sinn.»
Überhaupt ist der Direktor zuversichtlich. Es stimme zwar, dass die AHV den Lebenskosten hinterherhinke, sagt er. «Doch ich glaube, dass sich die AHV der Bevölkerung immer wieder anpassen kann.»
In der Bibel verspricht Gott seinem Volk: «Ja, ich will euch tragen bis ins Alter und bis ihr grau werdet.» Ein ähnliches Versprechen gab das Schweizer Volk sich selbst, als es die AHV 1948 einführte. Er erlebe immer wieder, dass Leute überrascht sind, dass sie im Alter nicht mehr Geld bekämen – gerade wenn sie selbst viel eingezahlt hatten. «Aber das ist die Idee der Solidarität», sagt er. «Ob die AHV heute auch noch angenommen würde?», sinniert Dupraz. «Zum Glück haben wir sie schon!»