Es ist kalt, ein eisiger Wind bläst durch die Strassen des kleinen Dorfs Zosin. Hier befindet sich einer von zwölf Grenzübergängen zwischen Polen und der Ukraine. Hunderttausende Menschen sind seit dem Ausbruch des Kriegs über die Grenze geflohen. In Zosin kommen sie grüppchenweise herüber – die meisten sind Frauen und Kinder. Freunde und Verwandte haben sie auf der ukrainischen Seite mit dem Auto gebracht.
In Polen werden sie auf einem grossen Platz von Vertretern lokaler Hilfswerke empfangen: Feuerwehr, Caritas, Pfadfinder, Privatpersonen. Diese verteilen Lebensmittel, Hygieneartikel, Spielzeug, Lollipops und vermitteln Transportmöglichkeiten zum nächsten Bahnhof. Die Stimmung ist gedrückt.
«Diese Menschen sind unsere Freunde», sagt der evangelische Pastor Ryszard Jankowski, 71. Er ist aus dem 420 Kilometer entfernten Warschau angereist, um Menschen zum nächstgelegenen Bahnhof zu transportieren. «Die polnische Bevölkerung hat ein riesiges Herz für uns. Wir sind so dankbar», sagt Ludmilla, die aus dem zerbombten Mariupol geflohen ist.
Gekommen, um zu helfen, ist auch der 42-jährige Dirk. Zwei Tage zuvor ist der Deutsche, der im aargauischen Fricktal lebt, mit seinem Geländewagen Toyota Tundra losgefahren. «Ich habe es nicht mehr ausgehalten angesichts der dramatischen Nachrichten und Fernsehbilder aus der Ukraine», erzählt der gelernte Fotograf.
Er benachrichtigte die Angestellten seiner Firma in Zürich Altstetten: «Ich bin dann mal weg.» Mit drei Kartons Pullover und einem Kistchen Feuerzeuge fährt er zum Flughafen München. Dort steigt seine Nichte Alisa zu: Die 30-Jährige ist aus ihrem Wohnort Hamburg angereist, ihre Mutter ist Ukrainerin. Unterwegs kauft der zweifache Vater in einem Supermarkt ein: Mineralwasser, Milchpulver, Windeln, Nuggis, Guetsli und kleine schwarze Teddybären – drei volle Einkaufswagen.
Wenige Meter vom Grenzgebäude entfernt treffen Dirk und Alisa auf Anastasiya Stepaniuk, 33, und deren Sohn Demetriy, 3. Die beiden sind aus der nordwestukrainischen Stadt Luzk geflohen. Ganz verstohlen wandern Demetriys Augen zu den schwarzen Teddybären, immer wieder. Dann schaut er zu seiner Mutter Anastasiya auf, doch diese hebt nur die Schultern. «Darf mein Sohn einen haben?», fragt sie Dirk, «wir Ukrainer sind nicht so, dass wir einfach etwas nehmen.» – «Selbstverständlich», antwortet Dirk und hält Demetriy ein Stoffbärchen hin.
Am Morgen hatte sich Anastasiya von ihrem Mann, einem IT-Spezialisten, verabschiedet. «Es flossen viele Tränen», erzählt die Frau, die Internationale Beziehungen studiert hat. «Wohin geht ihr nun?», fragt Dirk. – «Nach Lublin.» Freunde von Anastasiyas Familie, die nahe dieser polnischen Stadt leben, haben den beiden angeboten, sie bei sich aufzunehmen. Dafür müssen sie jedoch nach Zamosc an den Bahnhof. «Ich fahre euch hin», sagt Dirk.
Mehr Hilfe im grossen Stil aus der Schweiz ist unterwegs. Am Dienstag landete ein Frachtflugzeug mit 25 Tonnen Hilfsgütern, am Mittwoch folgte der Konvoi des Korps für humanitäre Hilfe – sechs Lastwagen, beladen mit medizinischem Material von der Armeeapotheke des VBS. Auch Dirk holt Nachschub. Im Carrefour-Supermarkt füllt er zwei Einkaufswagen mit Äpfeln, Farbstiften, Stofftieren und anderem. Dann fährt er wieder nach Zosin an die Grenze.