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Weltenbummler Viktor Wettstein

Die Fremde bleibt sein Zuhause

Er betete mit Heiligen in Indien und rauchte Gras in Afghanistan. Schon als Bub verspürte Viktor Wettstein Reisefieber und Fernweh. Mit 21 wandert er als gelernter Bäcker von Langenthal nach Dänemark aus. Es folgen Kanada, Mexiko, die USA und viele weitere Länder. Das ist die Geschichte von einem, der überall daheim ist.

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Viktor Wettstein

Verträumt: Viktor Wettstein vor zwei Wochen in Langenthal BE. Er kehrte zurück, um in der Schweiz seinen Lebensabend zu verbringen. Nach wenigen Tagen brach er von Neuem auf …

Geri Born

Dass ihm ausgerechnet seine Furchtlosigkeit einmal fast das Leben gekostet hätte, wäre Viktor Wettstein, 79, nie in den Sinn gekommen. Gleich zweimal hintereinander biss ihn eine Klapperschlange. «Da muss man blöd sein oder Pech haben, dass einem das passiert.»

Auf dem Grundstück seines damaligen Hauses in Datil in New Mexico trieben Nager ihr Unwesen. «Ich hatte Mausefallen an Stricken in den Löchern versenkt. Eine schien sich verhakt zu haben. Also griff ich mit meiner Hand ins Loch, verspürte plötzlich einen Nadelstich. Ich zog die Hand zurück, griff mit der anderen nochmals ins Loch und spürte erneut einen Stich – und plötzlich vernahm ich das Rasseln! Schlagartig war mir klar: Eine Klapperschlange hatte mich gebissen.»

Wettstein blieb trotzdem ruhig. «Ich konnte nicht anders, das nächste Spital war über 80 Kilometer entfernt.» Er setzte sich hinters Steuer seines Wagens, fuhr los und sah, wie seine beiden Hände zu Klumpen anschwollen und sich tiefschwarz verfärbten.

Viktor Wettstein

Kindheitstraum: Schon als Bub war Viktor Wettstein vom Weltatlas fasziniert und träumte von fernen Ländern.

Geri Born

Im Spital eröffnete ihm das dortige Personal, dass man kein Gegengift vorrätig habe. Wettstein wurde per Rettungswagen ins nächste Krankenhaus transportiert. Fünf Stunden nach den Bissen der Giftschlange war er am Tropf mit dem überlebensnotwendigen Serum. «Ich hätte sterben oder meine Hände verlieren können», sagt Wettstein rückblickend. Nach drei Tagen durfte er bereits nach Hause. Als Erstes ging er in seinen Garten – und tötete die Klapperschlange. «Sie ist die einzige, die ich umgebracht habe. Ich liess sonst alle gewähren, weil sie die Mäuse frassen.» 

Unerschrocken kehrte der Langenthaler vor 58 Jahren seiner Heimat den Rücken, wandert zuerst nach Dänemark aus, ehe es ihn weiterzieht nach Kanada und Mexiko. Vor über 40 Jahren lässt er sich schliesslich in den USA nieder, eröffnet in der damaligen Geisterstadt Madrid eine Bäckerei mit Restaurant. Dazwischen tingelt er durch die Türkei, den Iran, Pakistan, Indien, Nepal, Sri Lanka; lernt in Goa seine Frau Marianne kennen, lebt mit ihr zeitweise in Australien. Wettstein ist ein Reisender, der Traveller – rastlos, aber nicht ruhelos. Er mag nur nicht die Hektik in dieser Welt, und deshalb flüchtet er immer wieder in die Ferne.

Viktor Wettsein Privat Weltenbummler

Traumreise: Vor 20 Jahren zog der Schweizer monatelang durch Asien, hier in Laos am Mekong.

ZVG

Nächtelang studierte er schon als Bub die Seiten im Weltatlas, fuhr mit dem Finger Flussläufen entlang – und träumte davon, all die fernen Länder einmal zu bereisen. Gemeinsam mit seinem besten Kumpel «Hausi» plante Viktor, in den Sommerferien vor dem letzten Schuljahr mit dem Velo abzuhauen und sich nach Südafrika durchzuschlagen. «Wir legten Geld beiseite, das wir fürs Brotaustragen verdienten, zwackten aus der elterlichen Hausapotheke Pflaster, Jod und Verbandsstoff ab.» Viktor wollte, um unterwegs sicher zu sein, sogar den alten Revolver seines Vaters stibitzen, Hausi hatte bereits die dazugehörige Munition bei seinem Vater abgezweigt. Noch heute erinnern sich die Schulfreunde lachend an ihre Pläne.

Viktor Wettstein

Alte Freunde: Mit seinen Schulkollegen Rüedu, Hausi und Schöru (v. l.) schwelgt Viktor kurz in Erinnerungen.

Geri Born

Ihr waghalsiger Plan scheiterte nur, weil sie einen jüngeren Bruder, der Wind von der Sache bekommen hatte, nicht mitnehmen wollten. «Er büxte vor uns aus, wurde vier Tage später von der französischen Polizei in den Savoyer Alpen aufgegriffen und heimgebracht. Das gab Aufruhr im Städtli Langenthal – und uns verliess der Mut», erinnert sich Hausi.

Viktor Wettsein Privat Weltenbummler

Junge Gspänli: Viktor (3. Reihe, 3. v. l.) in seinem letzten Schuljahr. Nach der RS arbeitete er 1964 ein Jahr in Dänemark.

ZVG

Nach Jahrzehnten in der Ferne kehrte Wettstein Anfang letzten Oktober in die Schweiz zurück. Er hat vor, hierzubleiben und seinen Lebensabend in der Nähe seiner Schwester zu verbringen. Doris war fünf Jahre alt, als ihr Bruder sich in die weite Welt aufmachte. «Ich freute mich so, ihn nach den vielen Jahren endlich bei mir zu haben.» Ganz in ihrer Nähe fand sie eine günstige Wohnung für den Heimkehrer. Viktor lebt von 600 Dollar Rente – er arbeitete so viele Jahre als Bäcker – sowie vom Erlös aus dem Verkauf seines Hauses in den USA. Als sie ihren Bruder anruft, um ihm die freudige Nachricht von der Wohnungszusage mitzuteilen, hebt er nicht ab. «Als das Handy klingelte, ahnte ich, weshalb Doris anrief», erzählt Viktor. Er hat Angst, ihr zu sagen, dass er seinen ursprünglichen Plan vom Zur-Ruhe-Setzen nach wenigen Tagen in der Schweiz wieder über den Haufen geworfen hat. «Es ist mir zu hektisch hier», sagt er leise. Seine Schwester ist erst aufgebracht. «Aber ich kann und will meinen Bruder nicht gewaltsam zurückhalten», sagt Doris. Er hat ihr versprochen, immer mal wieder in Niedergösgen SO vorbeizuschauen, wenn er in der Schweiz ist.

Viktor Wettstein

Seine Schwester: Doris war gerade fünf Jahre alt gewesen, als Viktor die Schweiz für Jahrzehnte verliess.

Geri Born

Wohin es ihn als Nächstes zieht? «Kambodscha», antwortet Wettstein knapp; er kennt das Land bereits. Jetzt will er seinen Sohn Lukas, 42, in das ostasiatische Land begleiten. Der Junior hat das Reisefüdli von seinem Vater geerbt, Enkel Andy, 18, dagegen will nach der High School studieren. Nur die zwölfjährige Enkelin Angelina scheint das Fernweh-Gen in sich zu tragen, sie will mit Vater und Grossvater Kambodscha besuchen.

Viktor Wettsein Privat Weltenbummler

Seine Familie: Viktor mit Sohn Lukas und Enkel Andy. Der ist mittlerweile 18 und mag Reisen gar nicht so sehr wie sein Grossvater.

ZVG

Wettstein hat viel erlebt auf Reisen. In Indien schloss sich der Schweizer einst einem heiligen Pilger an, zog, nur mit Hemd, Hose und Sandalen bekleidet, mit ihm von Ort zu Ort, um zu meditieren. «Von ihm lernte ich viel übers Leben. Materielle Dinge sind mir seither unwichtig, und ich komme mit wenig Geld aus.» Als Viktor weiterreiste nach Sri Lanka, lebte er dort für drei Monate in einem Kloster. In Afghanistan rauchte er mit Soldaten auf der Ladefläche eines Pick-ups Marihuana, besichtigte in Bamiyan die damals grössten Buddha-Statuen der Welt, die 2001 von den Taliban zerstört wurden.

Viktor Wettsein Privat Weltenbummler

Traumhaft: In Madrid im US-Bundesstaat New Mexico betrieb der Auswanderer fast 20 Jahre eine Bäckerei samt Restaurant. Anfangs lebten nur drei Einwohner in der Geisterstadt.

ZVG

Sein Aussteigerleben beschert Viktor vor einigen Jahren eine riesige Überraschung. «Eines Tages rief mein Sohn Lukas an und sagte, dass sich jemand nach mir erkundigt habe, der seinen Vater suche. Ich hielt das zunächst für einen Witz.» Doch als Colin einige Telefonate später vor ihm steht, weiss Viktor, dass der 52-Jährige tatsächlich sein Sohn sein muss. «Er ist mir wie aus dem Gesicht geschnitten. Anders als Lukas, der eher nach seiner Mutter kommt.» Viktors Ehe mit Marianne war bereits Anfang der 1980er-Jahre in die Brüche gegangen.

Dass er trotz seinen bald 80 Jahren erneut in die Fremde zieht, macht Wettstein keine Sorgen. Auch wenn er nicht mehr ganz so gut zu Fuss unterwegs sei wie früher, «das Reisen reizt mich noch genauso wie damals, als ich mit meinem Kumpel Hausi plante, abzuhauen aus Langenthal». Afrika lockt noch immer. «Da war ich tatsächlich nie, es würde mich noch interessieren.»

Viktor Wettstein

Seine Wurzeln: Vom Schorenweiher aus sieht Viktor noch auf sein Elternhaus in Langenthal.

Geri Born

Am Dienstag vor einer Woche besteigt Viktor Wettstein in Zürich das Flugzeug, das ihn zu seinem Sohn Lukas nach Albuquerque in New Mexico bringt. Wann er von dort weiter nach Kambodscha reist, weiss Wettstein da noch nicht. In den Bergen des Wüstenhochlands hat er eine kleine Hütte. Dort wartet er jetzt erst einmal – ohne Strom, ohne fliessendes Wasser – und ohne jeden Stress und Hektik.

Von René Haenig am 29. Oktober 2022 - 11:56 Uhr