Der Schnauz ist nur noch bei Egger da, die Haare sind ein bisschen kürzer und weniger – geblieben ist dieselbe Energie, dasselbe Lachen. 34 Jahre liegen zwischen den beiden Bildern, 1986 hatte Werner Günthör gerade eine seiner vielen internationalen Medaillen gewonnen, Gold an der Hallen-EM in Madrid.
Heute sitzen Günthör, 59, und Jean-Pierre Egger, 77, im Restaurant «3 Fische» in Lüscherz BE, trinken Kaffee. Reden von den gemeinsamen Erlebnissen, «weisch no» und «sicher nit», fallen sie sich beim Geschichtenerzählen gegenseitig ins Wort und lachen, ein sehr herzlicher Umgang. «Ich glaube, wir ergänzen uns einfach gut. Der Respekt ist da, wir vertrauen einander. Und man darf sich auch mal reiben, auch wenn das bei uns nicht oft vorkam», sagt Günthör und lacht dann: «Das klingt ja fast wie in einer Ehe.»
Wer zurückschaue, werde alt, sagt er zwar. Und Egger, der zwölf Jahre lang sein Trainer war, ergänzt: «Ich bin eine Vorwärtsmaschine.» Doch die Vergangenheit beflügle eben auch und gebe Energie, ihm, der immer auf der Suche nach neuen Trainingsmethoden ist, fast in jeder Sportart in der Schweiz schon als Experte fürs Krafttraining zugezogen wurde, etwa bei Schwingerkönig Matthias Sempach.
Der Grund, jetzt auf die vielen emotionalen Momente zurückzuschauen, ist ein schöner: Da es in diesem Jahr wegen der vielen Corona-Ausfälle keine normale Sportlerwahl gibt, sind die Sports Awards ein «Best of»-Spektakel. Günthör hat es unter die letzten sechs geschafft, Egger ist neben Arno Del Curto und Karl Frehsner für den Trainer-Award nominiert.
«Jeder Mensch ist frei. Werni konnte tun, was er wollte. Wir wussten: Wir haben dasselbe Ziel»
Jean-Pierre Egger
Dreimal war Werner Günthör Weltmeister im Kugelstossen, er holte 1988 Olympia-Bronze – und war der erste Schweizer Leichtathlet, der als Profi lebte. Dabei wäre er mit seinen zwei Metern Grösse und seiner Sprungkraft (er überwand mit 100 Kilogramm Körpergewicht im Hochsprung über zwei Meter) auch im Handball oder Volleyball gern gesehen gewesen.
Doch Günthör blieb seiner Wurfdisziplin treu. Auch, als einmal ein Amerikaner auf ihn zukam und ihn fürs American Football abwerben wollte. Dafür erinnert er sich an Fussballtennis-Fights gegen die Tschechen, Russen, Polen. An die Trainings am Morgen nach einem grossen Wettkampf, verkatert und übermüdet, aber ein Auslassen kam nicht infrage. Die Partys nach Medaillen durften ebenfalls nie fehlen. «Es ist wie bei einem Schraubstock, der jeden Tag ein bisschen enger zugeschraubt wird. Und dann sind plötzlich all die Spannung und der Druck weg.»
Da ist die Anekdote, als der Italiener Alessandro Andrei zehn Tage vor der WM in Rom 1987 an einem Abend gleich dreimal den Weltrekord verbessert. Günthör bringt das so aus dem Konzept, dass beim folgenden Training die Kugeln ins Nirgendwo fliegen. Egger bricht das Training ab, geht mit Werni Tennis spielen, gewinnt für einmal sogar, und dann hilft nur noch ein Bier. Zehn Tage später wird Günthör zum ersten Mal Weltmeister – unter gellendem Pfeifkonzert der italienischen Zuschauer, die auf Andrei gehofft hatten.
Egger ist ein Trainer, der den Athleten spürt und sich eher ihm anpasst. Er ist in einem Restaurant aufgewachsen, war viel allein und früh selbstständig. Frei entscheiden zu können, blieb ihm immer wichtig. «Jeder Mensch ist ein freier Mensch. Werni hatte das Vertrauen, konnte aber auch machen, was er wollte. Er wusste, was gut für ihn ist, und ich wusste, was gut für mich ist. Wir hatten dasselbe Ziel.»
«Wir ergänzen uns einfach gut. Der Respekt ist da, und wir vertrauen uns»
Werner Günthör
Mit 20 kommt Günthör aus dem Thurgau nach Magglingen BE. Dass er am Wochenende zurück in die Ostschweiz und zum Turnverein darf, ist ihm enorm wichtig. Egger reduziert die Trainingstage pro Woche deshalb von sechs auf fünf. Jammern, wenn Günthör nach dem Einsatz im Turnverein etwas zwickt, will er aber nicht hören. Das Leben in Magglingen ist streng und einfach, man teilt das Zimmer, das Bad mit mehreren Sportlern. «Man musste schon knüppeln. Wenn du erfolgreich sein willst, musst du aus dem, was du hast, das Beste machen.» Einmal sagt er: «Ich kann das nicht mehr» und flüchtet in den Thurgau – steht aber eine Woche später wieder in Magglingen.
Immer wieder ist Günthör bei Eggers Familie zum Essen in La Neuveville eingeladen, und er ist schliesslich im Seeland geblieben, lebt mit seiner Frau Nadja in Erlach. Wie war denn früher die Beziehung zwischen Trainer und Athlet? «In einem Interview sagtest du mal Freund», sagt Egger. «Ach ja, hab ich das?», neckt Günthör. Es sei ein Dreieck, eine Mischung aus Vater, Trainer und Freund gewesen. Und so ist es noch immer, wenn sie regelmässig telefonieren oder essen gehen.
Günthör bildet heute in Magglingen Sportlehrer aus, er fährt gerne Töff, jasst und diskutiert einmal pro Woche am Stammtisch hier im «3 Fische», wo man auf seine Meinung schwört, so der Wirt. Egger kommt mit 77 Jahren langsam ans Ende seiner Trainerkarriere. Er hat sechs Enkelkinder und ist weniger der Typ für den Stammtisch. Er spielt lieber gegen den Computer Scrabble. Sein Bingo, sein Topwort mit sieben Buchstaben als Basis für allen Erfolg, hat er aber schon vor 40 Jahren gelegt: Es heisst Günthör.
«Sports Awards – die Besten aus 70 Jahren», 13. Dezember 2020 um 20.05 Uhr live bei SRF 1.