Manuela Sturzenegger lenkt Hannibal im Schritt in einer grossen Volte, einem Kreis, bis zum Mittelpunkt der Reithalle. Dort hält sie das gescheckte Pferd an, nickt mit dem Kopf dem imaginären Richter vor ihr zu. Es ist das Ende des Dressurprogramms, das die 23-Jährige im Trainingslager in Tenero TI übt. Die Vormittagslektion ist beendet: Zeit, um Hannibal mit routinierten Handgriffen und plaudernd für seine Pause in der Box fertig zu machen, zu bürsten und ein bisschen zu knuddeln.
Das Reiten hilft beim Gesundwerden
Sturzenegger ist eine von 70 Athletinnen und Athleten, die die Schweiz ab dem 17. Juni in Berlin an den World Summer Games der Special Olympics vertreten, also den Olympischen Spielen für geistig beeinträchtigte Menschen. Die Vorfreude bei der Appenzellerin ist riesig. «Ich habe Hühnerhaut, wenn ich dran denke», sagt sie. Dass sie dort reiten wird, war immer klar. «Mein Vater hat einen Bauernhof. Als Dreijährige sass ich zum ersten Mal auf einem Pferd.» Damals passiert aber noch etwas anderes Einschneidendes: Sie stürzt aus dem Fenster, verletzt sich schwer am Kopf. Manuela muss viele Bewegungen von Neuem erlernen, sie besucht eine Sonderschule und hat seit dem Unfall eine Lernschwäche. Das Reiten hilft ihr beim Gesundwerden – nicht nur durch die Nähe der geliebten Pferde, sondern auch für die Balance und die Körperspannung. «Sie war schon als Kind sehr zielstrebig», sagt Mutter Annelise Aerne, 53. «Wenn sie etwas wollte, hat sie es so lange gemacht, bis es ging.»
Sturzenegger ist eine fröhliche, positive Frau geworden, hilfsbereit gegenüber anderen. Dennoch ist nicht alles rosig. Sie hat wegen ihres Andersseins auch Ausgrenzung erfahren. Für mehr Inklusion zu kämpfen, ist ihr deshalb ein grosses Anliegen. «Ich möchte einfach, dass uns die Menschen sehen und verstehen. Dass sie wertschätzen, was auch wir leisten», startet sie einen emotionalen Appell an den Rest der Gesellschaft. «Dass sie uns respektieren lernen, auch wenn wir eine Behinderung haben.»
Die Leistung der 7000 Athletinnen und Athleten an den World Games ist bemerkenswert. Beim Reiten gibt es neben den Disziplinen Dressur, Springen, Trail und English Equitation auch die Unterscheidung, ob man im Schritt, Trab, Galopp oder in Kombination reitet. Eine besondere Herausforderung ist, dass die Reiterinnen die Pferde erst kurz vor dem Wettkampf kennenlernen. Beim «Horsematching» haben sie etwa 20 Minuten Zeit, um mit dem Pferd zurechtzukommen. Gelingt dies nicht, gibt es mit einem anderen Pferd eine zweite Chance. «Ich habe im Wettkampf lieber ein hibbeliges Pferd, ich brauche die Herausforderung», sagt Sturzenegger lachend. Eines mit so viel Energie, wie sie selbst an den Tag legt. «Manuela ist offen und lernbegierig», sagt Trainer Holger Tetzner (65). «Sie kann gut mit Kritik umgehen und will unbedingt gut reiten.»
Rund zweimal pro Monat trainieren die Special-Olympics-Teilnehmer auf Pferden, die sorgfältig dafür ausgesucht wurden: charakterlich einwandfrei, mit einem ruhigen Temperament. Sturzenegger ist aber fast permanent von den Tieren umgeben. Sie hat eine Lehre als Pferdepflegerin gemacht, arbeitet in einem Stall. Und auch die Liebe hat sie quasi auf dem Pferd getroffen: In einem Stall gegenüber wurde sie vor zwei Jahren auf Philipp Tanner (25) aufmerksam, auch er Pferdepfleger. Irgendwann nimmt sie die Zügel in die Hand und schreibt ihm, besucht ihn später eines Abends im Stall. Es funkt. Seit zwei Jahren sind die beiden nun zusammen und kürzlich in eine gemeinsame Wohnung in Rickenbach TG gezogen. «Bei uns dreht sich alles ums Reiten», sagt Tanner und grinst: «Das ist manchmal ein wenig anstrengend, weil wir es beide besser wissen wollen.»
Philipp Tanner schwärmt von seiner Freundin. «Ich merke gar nichts von ihrer Beeinträchtigung. Für mich ist Manuela ein ganz normaler Mensch», sagt Tanner, der selber mit ADHS lebt. «Ich bin so froh, dass ich sie kennenlernen durfte. Und stolz, dass sie in Berlin diese Chance erhält.»
An den Wettkämpfen kann er nicht live dabei sein. Dafür werden Mutter Annelise und ihr Lebenspartner Manuela vor Ort anfeuern – wie bereits im vergangenen Jahr, als Sturzenegger bei den National Games in St. Gallen Gold, Silber und Bronze abgeräumt hat. Gewinnen ist für die 23-Jährige auch in Berlin das Ziel. Klappe das nicht, sei es aber nicht tragisch. «Dass man mit so einem treuen Freund wie einem Pferd gemeinsam eine Prüfung bestehen darf, ist alleine schon toll.»