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«Jeder verdient eine zweite Chance»

Wie Gemeinderätin Silvia Eyer es aus der Heroinsucht schaffte

Im Alter von 15 Jahren verfällt Silvia Eyer dem Heroin. Die Walliserin muss im grössten Elend landen, bevor sie sich wieder zurück ins Leben kämpft. Heute ist sie Gemeinderätin in Naters VS.

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Silvia Eyer, 15. Februar 2024, Naters

Gemeinderätin mit Vorgeschichte. Silvia Eyer politisiert in der Exekutive von Naters VS. Beruflich betreut sie Flüchtlinge.

Marco Schnyder

«Du bist wundervoll, vergiss das nie.» Der Spruch steht an der Wohnungstür von Silvia Eyer (39). Fotos, afrikanischer Zierrat und Buddhastatuen füllen Räume und Wände. Im Bücherregal steht «Das Tor zum vollkommenen Glück», am Kühlschrank hängt eine «Vision List», die einen Bungalow am Meer als Ziel angibt. Auf dem Küchentisch zwei Laptops. «Auf dem einen erledige ich meine Arbeit als Gemeinderätin, auf dem anderen meine Aufgaben als Integrationsdelegierte.» In der oberen Etage des Hauses ein Yoga-Raum, in dem sie Unterricht gibt – auch Mama und Papa, die im selben Gebäude wohnen. Einst mussten ihre Eltern wegen ihr in Therapie – und liessen sie doch nie fallen.

Silvia Eyer, 15. Februar 2024, Naters

Trotz behüteter Kindheit fand Silvia als Jugendliche keinen Anschluss. Es folgen elende Jahre in der Drogensucht.

Marco Schnyder

Hier, in ihrem Elternhaus in Naters, schrieb Silvia Eyer innerhalb von sechs Wochen ihren Bestseller «Zurück im Leben». Sechs Wochen, in denen sie träumte, sie sei wieder süchtig und sich beim Aufwachen fragte, wie sie das bloss ihren Eltern erzählen soll.

Eine Katze flitzt durch die Wohnung und verkriecht sich unter der Bettdecke. Auch Silvia hatte sich lange versteckt. Aus Angst vor Vorverurteilungen, aus Scham. Sie hat nichts erzählt von der Heroinsucht, dem Babystrich und all dem Elend. Dann hat sie es aufgeschrieben. «Wie du selbst mit deiner Geschichte umgehst, das half uns allen», schreibt ihr Vater in einem Brief.

Silvia Eyer, 15. Februar 2024, Naters

Yoga hat ihr geholfen, jetzt unterrichtet sie andere. Auch die Eltern von Silvia gehen zu ihr in die Yoga-Stunden.

Marco Schnyder

Entzug im Kinderzimmer

Silvia ist eine rebellische Jugendliche, die trotz behüteter Kindheit kaum Anschluss findet. Gesellschaft bedeutet Überforderung. Reizfilterschwäche und Hochsensibilität werden bei ihr erst später diagnostiziert. Bei einem Verhör sagt sie der Polizei, in Zukunft wolle sie «irgendwo in Deutschland auf der Gasse leben».

Mit 15 beginnt sie Heroin zu schnupfen: Glücksmomente in einer öffentlichen Toilette. Bald beschafft sie sich die Droge regelmässig. Das Geld erbettelt sie auf der Strasse oder stiehlt es von ihren Eltern. Es reicht nicht. Sie verkauft ihren Körper auf dem Babystrich. Bedient sie einen Freier, bleiben Ekel und Scham. Und das Geld, das sie so dringend für den nächsten Rausch braucht. Sie ist noch keine 16. Ihre Seele zerbricht. Die ersten Entzugserscheinungen durchlebt sie im Kinderzimmer.

Silvia Eyer, 15. Februar 2024, Naters

Silvia hat auf dem Küchentisch einen Laptop für die Arbeit als Flüchtlingsbetreuerin und einen für den Gemeinderat.

Marco Schnyder

Silvia muss in Therapie. Strukturen, Tagespläne, Sitzungen: Hier will sie nicht sein und bricht aus. Weiter hinein ins Elend. Sie wird erwischt und zurückgebracht. Es bringt nichts, die Therapie scheitert.

Mit 19 setzt sich Silvia die erste Spritze. Daraus werden bis zu acht Injektionen – Tag für Tag. «Ich hatte die tiefsten Täler der Sucht noch nicht durchschritten», weiss sie heute. Nahtoderfahrung, Verhaftungen, Beschaffungsdruck. Im Alter von 25 Jahren ist der Tiefpunkt erreicht. Silvia wohnt wieder in Naters. Sie bettelt den Vater um Geld an, sieht die Enttäuschung in dessen Augen und bricht zusammen.

«Ich will etwas zurückgeben»

Das folgende Methadonprogramm soll der Schritt aus der Drogenhölle werden. «Die erste Hürde ist, von der Droge loszukommen. Die zweite, sich in der Gesellschaft zurechtzufinden», fasst sie die Herausforderung zusammen. Ein schwieriges Unterfangen, erst recht im kleinräumigen Oberwallis, wo viele einander kennen und es keine Geheimnisse gibt. «Ich schämte mich, fühlte mich minderwertig. Am liebsten war ich unsichtbar.» Silvia arbeitet bei einer Zeitung, macht Weiterbildungen. Taoismus und Yoga helfen ihr, positive Gefühle zuzulassen.

Silvia Eyer, 15. Februar 2024, Naters

«Sie macht ihre Arbeit gut», sagt die Gemeindepräsidentin von Naters, Charlotte Salzmann-Briand, über ihre Kollegin Silvia Eyer.

Marco Schnyder

Silvia tritt der SP bei, engagiert sich, will etwas zurückgeben. «Hätte mir niemand geholfen, wer weiss, was aus mir geworden wäre?» Ihre Kernbotschaft: «Suchtkranke Menschen verdienen Chancen. Stigmatisierung und Ablehnung führen zu noch mehr Elend.» Als Integrationsdelegierte lebt Silvia heute ihre soziale Ader aus. Sie, die sich einst kaum vor die Tür traute, hilft nun Neuankömmlingen dabei, sich zurechtzufinden. Im Herbst 2020 kandidiert sie bei den Gemeinderatswahlen in Naters. «Zweiter Platz auf der SP-Liste! Das Resultat machte mich stolz.»

Zwei Jahre später demissioniert der Erstgewählte, sie rückt nach. «Zuerst war es ein Schock», lacht Silvia. Doch sie stellt sich der Herausforderung. Seitdem sitzt ein Ex-Junkie im Gemeinderat und gestaltet die zweitgrösste Gemeinde im Oberwallis mit. Silvia weiss, dass sich manche daran stören. «Aber die Unterstützung ist gross.» Im Gemeinderat sitzt die SP-Frau einer bürgerlichen Mehrheit gegenüber. «Wir waren gespannt», sagt Charlotte Salzmann-Briand, Mitte-Gemeindepräsidentin von Naters. Klar sei: «Silvias Vergangenheit ist kein Thema. Sie erledigt ihre Arbeit gewissenhaft.»

«Meine Geschichte gehört zu mir. Ich schäme mich nicht mehr.» Manchmal zählt Silvia Eyer vor dem Einschlafen die Dinge, für die sie dankbar ist. Sie bereut nichts. Ausser den Schmerz, den sie ihren Eltern zugefügt hat. Aber heute ist sie wieder da: zurück im Leben.

 
Text: Tobias Tscherrig am 1. März 2024 - 16:43 Uhr