Als Marlies Oester im Januar 2002 einen Slalom-Weltcup für die Schweiz gewinnt, ist Michelle Gisin eine achtjährige Primarschülerin. Nach den eigenen strengen Worten «nicht unter den beliebtesten» der Klasse: ein Riesenschnorri, besserwisserisch, eher anstrengend. Und ein Fantasy-Nerd, in «Harry Potter»-Bücher vernarrt.
Heute ist Michelle Gisin 27 und die erste Schweizerin, die seit Oester wieder einen Weltcupslalom gewonnen hat. Sie ist Olympiasiegerin, Anwärterin auf den Gesamtweltcup, kurzum Vorzeigeathletin bei Swiss-Ski. Dazu herzlich, locker, eloquent. Und der Riesenschnorri hat heute wirklich was zu sagen: Wenn etwas angesprochen oder organisiert werden müsse, übernehme Gisin, so ihre Teamkolleginnen.
Michelle Gisin an der Weltspitze. Das ist eine fantastische Geschichte. Gäbe es nicht bereits einen Romanklassiker mit diesem Namen, könnte man die Erzählung «Zauberberg» nennen. Mit der Tagträumerin Michelle in der Hauptrolle, die auf den Tag genau acht Jahre nach ihrem Debüt ihr erstes Weltcuprennen gewinnt. Auf diesem Hang in Österreich, der eben Zauberberg heisst. «Das schliesst einen wunderschönen Kreis. Ach, wie kitschig!», sagt Gisin und lacht.
Natürlich ist der Aufstieg der Jüngsten dieser aussergewöhnlichen Skirennfahrerfamilie Gisin nicht einfach nur kitschig. Aufreibende und beklemmende Momente gehören dazu. Michelle hatte diese Unbeschwertheit, die sie auszeichnet, zwischendurch verloren. Gerade im Slalom wars ein sieben Jahre langer Kampf und Murks. «Jetzt kommt mir alles so unendlich einfach vor», sagt sie. «Ich habs mir viel komplizierter gemacht, als es eigentlich ist.» Gleichzeitig weiss sie, dass es diese Phase gebraucht hat: akribisch jeden Stein umdrehen, um nach Verbesserungsmöglichkeiten zu suchen. Besichtigungen nicht eher verlassen, bevor man das Gefühl hat, jedes Tor perfekt im Griff zu haben. «Man muss die Unbeschwertheit zuerst verlieren, damit man sie auf anderer Ebene wieder finden kann.»
Es sind alles einzelne Teilchen, die Gisin über die Jahre zusammengesetzt hat. Und wie sich der Protagonist bei einem guten Fantasy-Roman mit den Abenteuern und treuen Weggefährten weiterentwickelt und so seine Magie entfaltet, so hat Gisin nun ihre ganze Kraft gefunden. Es ist nicht nur die Arbeit an der Skitechnik in allen Disziplinen und die physische Vorbereitung. Nach und nach hat die Engelbergerin auch gespürt, was in ihrer Karriere sie selbst in die Hand nehmen muss, wo sie etwas anderes braucht als das restliche Team. Dazu kommt ihr stabiles Umfeld. «Da hatte ich natürlich von Anfang an auch Glück.» Insgesamt also: «Das Bild stimmt nun.»
«Ich habe es mir viel komplizierter gemacht, als es eigentlich ist»
Die enormen Fortschritte im mentalen Bereich fallen auf die Corona-Auszeit zurück. Acht Wochen verbringt Gisin im Frühling 2020 in Engelberg OW bei den Eltern, weil sie nicht zu ihrem Freund Luca De Aliprandini ins gemeinsame Haus in Italien am Gardasee darf. Sie mistet ihr Zimmer aus, dann das ganze Haus – die Entrümpelung ist durchaus auch metaphorisch zu verstehen: «Es hat extrem gutgetan. Während einer Sportkarriere kommt man kaum dazu, innezuhalten und Dinge zu verarbeiten», reflektiert Gisin. «Es geht immer weiter. Nun aber habe ich vieles aufgearbeitet, im Guten wie im Schlechten.» So gesteht sie sich ein, die schlimmen Stürze ihres Bruders Marc doch noch nicht so verdaut zu haben, wie sie dachte. Aber auch über alle Erfolge denkt sie nach.
Die Auseinandersetzung mit sich und den letzten Jahren hilft ihr, sich wieder aufs Wesentliche zu konzentrieren: das Skifahren. Mit der «aufgeräumten Seele» lässt es sich unbeschwert fahren, und das ist eigentlich das, worauf die Spitzensportkarrieren der Geschwister Marc, Dominique und Michelle Gisin aufbauten: «In unserer Familie fährt niemand Ski für den Erfolg, es ist in allererster Linie Leidenschaft.»
Die Eltern haben ihren Kindern vorgelebt, wie man mit Bescheidenheit, Freude und viel Dankbarkeit durchs Leben geht. Und natürlich prägten die vielen Verletzungen der Geschwister Michelles Aufwachsen: die harten Zeiten, der Schmerz, das Bangen, aber eben auch der unerschütterliche Wille und Glaube daran, es wieder zu schaffen.
Die Familie gibt ihr heute noch viel. Kurz vor Weihnachten kam ihr Coach für ein Slalom-Training nach Engelberg. Schwester Dominique wollte dabei sein, dann schloss sich Freund Luca an, und schliesslich bot auch der kürzlich zurückgetretene Marc seine Hilfe an. Alle drei keine Slalom-Spezialisten, halfen sie Michelle mit Schaufeln und Stangenschleppen zu einem optimalen Training. «Sie fühlten sich wie die Slalom-Trainer des Jahres, das Bild werde ich nie vergessen», sagt Michelle lachend.
«Ich bin jeden Tag dankbar für die Liebe, Stabilität und Unterstützung, die ich von Luca erhalte»
Auch Freund Luca, 30, ist ein Bestandteil dieser Fantasy-Geschichte. Der Italiener, dessen Familie im Gegensatz zu den Gisins überhaupt nichts mit Skifahren am Hut hatte, der heute aber zur erweiterten Weltspitze im Riesenslalom zählt. «Ich bin jeden Tag dankbar für die Liebe, Stabilität und Unterstützung, die ich von ihm erhalte», schwärmt Gisin. Das gegenseitige Verständnis ist riesig, und die unterschiedlichen Charaktere ergänzen sich. Sie plant, er ist spontan; sie ist manchmal chaotisch im Kopf, er ein Tüpflischisser. Sie kann ihm im mentalen Bereich Inputs liefern, er ihr in der Technik. «Luca hat mir geholfen, etwas ruhiger zu sein, und ich konnte ihn vielleicht etwas aus der Komfortzone ziehen und öffnen», sagt Gisin. Sechs Jahre Beziehung haben die beiden zusammengeschweisst.
Im Gesamtweltcup ist Gisin momentan Zweite. Und nach zehn Podesten hat sie nun den ersten Weltcupsieg eingefahren. Was vor allem eine freut: Marlies Oester, die letzte Schweizer Slalom-Siegerin vor 19 Jahren. «Ich bin unendlich dankbar, dass Michelle beziehungsweise das Team einen Slalom-Sieg feiern konnte. Endlich wurde ich abgelöst», sagt die 44-jährige Adelbodnerin. Wendy Holdener war mit 24 Slalom-Podestplätzen oft nah dran. Den Sieg schaffte sie aber gegen die bisher übermächtigen Mikaela Shiffrin und Petra Vlhova nicht. Oester zu Michelle: «Geniess diesen Sieg in vollen Zügen. Man weiss nie, wie schnell oder ob überhaupt ein solches Ereignis wieder vorkommt.» Das weiss Nachfolgerin Gisin: «Es ist schön, dass ich eine solche Phase erleben darf, aber es kann auch wieder abwärtsgehen.» Die meisten Fantasy-Bücher allerdings – und das weiss Gisin auch – haben ein magisches Happy End.