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Kulturwissenschaftlerin Elisabeth Bronfen

«Wir brauchen wieder mehr Anstand»

Ob am Stammtisch, auf Social Media oder in der Politik: Der Umgangston ist rau. Kulturwissenschaftlerin Elisabeth Bronfen sagt, warum wir uns heutzutage so gern empören – und wie sich die zunehmende Polarisierung der Gesellschaft überbrücken lässt.

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Elisabeth Bronfen, Kulturwissenschaftlerin, Interview der Woche, zu Hause, Zuerich, 2024, Fotos: Geri Born

Geschärfter Blick auf die Gegenwart: die Professorin Elisabeth Bronfen in ihrer Wohnung in Zürich.

Geri Born

Bundesräte werden von ausländischen Diplomaten beleidigt, der Nahostkonflikt löst an unseren Unis überhitzte Debatten aus, im Internet wird Nemo nach dem ESC-Sieg übelst beschimpft. Wo sind bloss unsere Umgangsformen geblieben? Wir haben uns auf die Suche gemacht beim Gespräch mit Kulturwissenschaftlerin Elisabeth Bronfen (66) in ihrer Wohnung in Zürich.

Frau Bronfen, haben wir verlernt, miteinander zu diskutieren?

Es scheint den Leuten im Moment schwerzufallen zuzuhören, ohne den anderen zu unterbrechen und ohne selbst einen langen Monolog zu halten. Die Fähigkeit, ein Gespräch zu führen, hat abgenommen.

Woran liegt das?

Viele Leute haben das Gefühl, sie müssten sich darstellen und auf Sendung sein. Ist man so darauf getrimmt, sich zu inszenieren, geht es einem vorwiegend um sich selbst – und eben nicht darum, auf andere einzugehen. Sondern: Ich rede, ich bin im Zentrum.

Also möchte man zum Beispiel bei Diskussionen auf Social Media gar nicht wirklich wissen, was das Gegenüber denkt?

Wir leben in einer Kultur der Polarisierung. Selbst «Die Zeit» bringt auf ihrer Titelseite oft ein Pro und Kontra zu einem bestimmten Thema. Ein Vielleicht gibts nie. Klare Meinungen generieren mehr Aufmerksamkeit als ein Text mit der Aussage: Ich bin mir nicht ganz sicher. Oder: Ich möchte noch ein bisschen zuhören.

An Schweizer Unis demonstrieren Studentinnen und Studenten für die Palästinenser. Auch die Diskussion um den Nahostkonflikt polarisiert.

Die meisten der Demonstrierenden haben sich inhaltlich wenig mit diesem komplexen Konflikt befasst. Sonst würde man hervorheben, dass es «die Palästinenser» und «die Israelis» gar nicht gibt, sondern viele unterschiedliche Menschen- und Interessengruppen. Um ein gutes Gespräch über den Nahostkonflikt zu führen, müsste man viele Bücher lesen.

Elisabeth Bronfen, Kulturwissenschaftlerin, Interview der Woche, zu Hause, Zuerich, 2024, Fotos: Geri Born

Kulturwandel: «Heute sagen die Leute alles Mögliche. Man wünschte sich, sie täten es nicht», sagt Elisabeth Bronfen.

Geri Born

Warum?

Damit man weiss, worüber man redet. Und am besten liest man Bücher aus verschiedenen Positionen. Ein zweiter Schritt wäre, jemand anderem zuzuhören, ohne sofort zu sagen: Nein, das sehe ich nicht so. Stattdessen könnte man sagen: Ich möchte noch ein bisschen darüber nachdenken, was soll ich noch lesen? Welchen Film sehen? Um sich ein komplexeres Bild zu machen. Doch diese Zeit will sich kaum jemand nehmen. Man meint, immer sofort reagieren zu müssen.

Freut es Sie denn nicht, dass sich die Studierenden politisch engagieren?

Politisches Engagement ist wichtig, aber eine politische Haltung bedingt, dass man sich Lösungen für komplexe Situationen überlegt, die realpolitisch durchzusetzen sind. Eine Flagge als Kleidungsstück zu tragen, ist eher theatrale Politik.

Und das ist schlecht?

Es kann bewegend, witzig, legitim und treffend sein. Es erzeugt Aufmerksamkeit und bietet durchaus Raum für konträre Positionen. Ich glaube allerdings, dass auch Corona dazu beigetragen hat, dass sich die jungen Erwachsenen jetzt so verhalten.

Wie meinen Sie das?

Die jungen Menschen, die jetzt mit dieser theatralen Politik auf die Strasse oder an die Uni gehen, waren während der Pandemie vereinsamt, auch wenn die Massnahmen in der Schweiz weniger hart waren als anderswo. Sie haben unterschiedliche politische Anliegen, und es ist verständlich, dass sie jetzt Teil einer Bewegung sein möchten, nachdem sie so lange isoliert waren.

Welche Spuren hat Corona bei den Erwachsenen hinterlassen?

Es hat zu Polarisierung, Entrüstung und Empörung beigetragen. Ich glaube, da hat sich eine tiefe Spaltung festgesetzt, und auch die wird in öffentlichen Demonstrationen zum Ausdruck gebracht. Natürlich haben die Politiker und die Experten auch Fehler gemacht, aber das grosse Grundmisstrauen in der Bevölkerung gibt mir zu denken.

Elisabeth Bronfen, Kulturwissenschaftlerin, Interview der Woche, zu Hause, Zuerich, 2024, Fotos: Geri Born

Teil der Bibliothek: Elisabeth Bronfens Büchersammlung ist in ihrer Wohnung omnipräsent.

Geri Born

Sind wir seit Corona unzufriedener?

Ich denke schon. Sigmund Freud hat in den 1930er-Jahren über das Unbehagen in der Kultur geschrieben. Wir sind wieder an einem Punkt, wo sehr viele Leute an der Kultur leiden und sich in unserer Gesellschaft unwohl fühlen. Eigentlich seltsam, denn es gibt so viele Errungenschaften, die unser Leben verbessert haben.

Zum Beispiel?

Noch in den 1950er-Jahren war es in der Schweiz schwierig, eine gemischtkonfessionelle Ehe zu schliessen. Frauen verfügten nicht über ihr eigenes Geldkonto. Homosexualität war verpönt. Das ist nicht lange her, und einiges könnte auch wieder rückgängig gemacht werden. Darum ist es wichtig, dass man sich an die Vergangenheit immer wieder erinnert und auf ihr aufbaut.

Dennoch scheint die Unzufriedenheit mit Institutionen und Politikern gross. Politiker werden immer häufiger bedroht und manchmal sogar tätlich angegriffen.

Die Hemmschwelle ist derzeit sehr tief. Eigentlich verrückt: Früher musste man die Leute in Gruppentherapien dazu bringen, endlich auszusprechen, was sie wirklich denken. Heute ist es genau umgekehrt: Die Leute sagen alles Mögliche. und man wünschte sich, sie täten es nicht, auch wenn sie es dürfen.

Das ist Elisabeth Bronfen

Die Kulturwissenschaftlerin ist emeritierte Professorin für Anglistik an der Uni Zürich, wo sie den Lehrstuhl für englische und amerikanische Literatur während 30 Jahren innehatte. 2025 erscheint ihre Monografie zu Shakespeare. Die 66-Jährige ist leidenschaftliche Köchin.

Bleibt das jetzt immer so?

Vielleicht müssen wir uns in dem Bereich einfach wieder mehr bilden. Einem Kleinkind bringt man langsam bei, wie es sich zu verhalten hat. Anstand, Manieren – ich weiss, das sind furchtbar altmodische Begriffe! (Lacht.) Aber: Wir brauchen wieder mehr Anstand. Und damit meine
ich nicht wieder einer Kultur der Unterdrückung und Verdrängung, sondern lediglich mehr Zurückhaltung, Disziplin und Grosszügigkeit.

Was heisst das konkret?

Nachdenken, bevor man losplappert. Eine Nacht drüber schlafen, bevor man eine wütende E-Mail abschickt. Sich bewusst sein, dass man in den meisten Dingen kein Experte, keine Expertin ist.

Die sofortige Empörung scheint vielen näher zu liegen.

Empörung ist ein Rausch, ähnlich wie die Begeisterung. Eine ungehemmte Entladung von Energie, also eigentlich etwas Lustvolles.

Das klingt sehr positiv.

Für die Person selbst ist es eine positive Erfahrung. Für die Mitmenschen nicht unbedingt. In früheren Zeiten war der Karneval für Juden und andere Minderheiten eine gefährliche Zeit, weil die Menschen enthemmt waren – und deshalb die Empörung auch nicht weit war. Gewalt gehörte in dieser Zwischenzeit deshalb oft dazu.

Wird aus Empörung nicht auch oft echte Politik und Veränderung?

Sich zu empören, ist beglückend. Politik hingegen ist mühsame Arbeit, bei der man immer wieder zurückstecken muss. Es ist einfacher, in der Empörung zu verharren – und dank den heutigen Bing-Wörtern hat man oft Gelegenheit dazu.

Was sind Bing-Wörter?

Reizwörter wie «Gender», «woke» oder «nonbinär». Bei denen macht es im Kopf bing, und man sagt schnell, ob man dafür oder dagegen ist. Weiter geht das Gespräch oft nicht.

Was wünschen Sie sich also?

Mein Eindruck ist: Wir sind uns eigentlich alle einig, dass dieses polarisierende Gepoltere wenig bringt. Ich wünsche mir von den Politikern und den Medienschaffenden, dass sie mit gutem Beispiel vorangehen und wieder mehr miteinander sprechen, statt festgefahrene Positionen zu vermitteln. «Across the aisle» sagt man in Amerika dazu. Das bedeutet: Auf das Gegenüber zuzugehen, auch wenn dieser Mensch auf der anderen Seite des Flurs steht

Lynn Scheurer von Schweizer Illustrierte
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Von Lynn Scheurer am 15. Juni 2024 - 15:00 Uhr