«Was fällt ihm heute wieder ein?» Diese Frage stellt sich der langjährige Journalist Erich Gysling jeden Morgen, seit Donald Trump neuer US-Präsident ist. Die Demütigung des ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski vor den Augen der Welt überstieg aber selbst sein Vorstellungsvermögen. Inzwischen hat Trump die Waffenlieferungen eingestellt.
Die USA unter Trump wenden sich vom Westen ab, verraten die Ukraine, spotten über Europa. Droht ein dritter Weltkrieg?
Nein. Aber die Spannungen sind gewaltig gestiegen. Die Demütigung von Selenski war inszeniert. Das beweist die Intervention von Trumps Vize J. D. Vance, der regelrecht die Lunte legte. Denn ein Vizepräsident kann sich nicht erlauben, in ein Gespräch seines Präsidenten einzugreifen – ausser es war so abgemacht.
Was war denn das Ziel?
Trump will sich eine reine Weste verpassen, damit er ungehindert mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin verhandeln kann. Drum wollte er Selenski desavouieren.
Der britische Premier Keir Starmer vermittelt, König Charles III. empfing kurzfristig Selenski. Wieso gerade die Briten?
Sie haben traditionell sehr enge Beziehungen zu den USA. Auch der französische Präsident Emmanuel Macron ist involviert, sie haben nun einen eigenen Plan entwickelt.
Gibt Ihnen das Vertrauen?
Eigentlich nicht. Die Idee eines einmonatigen Waffenstillstands bringt nichts. Selenski bemüht sich, die Wogen zu glätten, und ist bereit, weiter über den Rohstoffvertrag mit den Amerikanern zu verhandeln. Aber das ist ein vergifteter, ein Kolonialvertrag. Es ist skandalös. Trump missachtet, was wir an Werten, Völkerrecht, Rechtsstaat aufgebaut haben. Selenskis Hoffnung ist nun, dass die Amerikaner durch ihr wirtschaftliches Engagement im Land abschreckend wirken. Klar ist aber, dass sich Putin keinen Millimeter bewegt. Und Trump hat Putin freie Hand gegeben, was die Ukraine betrifft.
Lesen Sie am Morgen noch News?
Selbstverständlich! Ich schaue fern, lese sicher 20 Zeitungen, nationale und internationale, auch aus dem arabischen Raum, aus Iran oder Russland.
Und dann sind Sie für den ganzen Tag deprimiert?
Nein, ich habe mich daran gewöhnt, wir haben uns ja alle daran gewöhnt. Trump sorgt im Moment für unglaublich viel Verunsicherung.
Das kann ja eine clevere Taktik sein?
Nein, nein, so viel Theorie gibts bei ihm nicht. Es ist viel Unkenntnis, er korrigiert sich ja dauernd. Beispiel Gazastreifen: Erst solls eine Riviera geben, dann will er das Gebiet kaufen, dann sollen sich plötzlich die Araber drum kümmern – das wechselt ständig. Irgendwann ist der Wahnsinn ja erschöpft, und dann krebst er zurück.
Trump schockiert, und vor allem Europa scheint wie gelähmt.
Ja, aber das muss nicht sein. Wir beweisen das in der Ukraine: Europa hat, was das Militärische betrifft, der Ukraine Material für 64 Milliarden geliefert, die USA für 62. Und in den USA floss von dieser Summe erst noch ein Teil in die eigene Rüstungsindustrie.
Hätten Sie sich je eine Situation wie heute vorstellen können?
Nein. Wir hatten zwischen dem Ende des Zweiten Weltkriegs bis in die 90er-Jahre den Kalten Krieg: Es war ein Gleichgewicht des Schreckens, die Handlungen und Reaktionen aber waren berechenbar. Nach dem Fall der Mauer, der Auflösung der Sowjetunion dachten wir, nun sei der Friede da. Eine Weile sah es gut aus. Doch wir haben uns getäuscht. Auch ich. Die baltischen Staaten, die Osteuropäer haben immer vor Russland gewarnt. Wir im Westen haben das nicht ernst genommen. Dann kam die Nato-Osterweiterung – das bestätigte uns im Glauben, dass unser westliches Weltbild sich nun durchsetzt.
Erich Gysling liest gern und viel – einige Bücher alle paar Jahre wie «Madame Bovary» von Gustave Flaubert oder «Zenos Gewissen» von Italo Seveso. Hier liest er «The Devil We Know», ein Buch über den Umgang mit Iran.
Geri BornPutin beruft sich ja auf das: Die Nato-Osterweiterung bedrohe ihn, die Ukraine dürfe unter keinem Umstand beitreten …
Der Beitritt der Ukraine zur Nato war nie eine ernsthafte Option. Es war eine Idee, die man diskutierte, so wie einigen Balkanländern oder der Türkei seit Jahren ein EU-Beitritt irgendwann mal in Aussicht gestellt wird. Und überhaupt: Die letzte Nato-Osterweiterung mit den baltischen Staaten und Rumänien war 2004. In einem Interview äusserte sich Putin damals sehr vage, von Panik oder Angst – auf die er sich heute beruft – war damals gar nichts da.
Die Europäer wiegten sich in Sicherheit, glaubten an Wandel durch Handel. Dadurch ergab sich eine Friedensdividende, für die Verteidigung und die Nato wurde wenig gemacht. Hat Trump zumindest in diesem Punkt recht?
Nein. Die Europäer haben, zumindest teilweise, mitgemacht beim amerikanischen Wahnsinn des Irakkriegs 2003, haben beim Krieg in Afghanistan mitgeholfen, 2018 brav Trumps Sanktionen gegen Iran mitgetragen: Die Europäer haben teilweise contre cœur bei vielem mitgemacht, was die USA wollten. Einseitig war das nie!
Die dänische Ministerpräsidentin Mette Frederiksen hat einen Sonderfonds eingerichtet und will innert kürzester Zeit aufrüsten: Kaufen, kaufen, kaufen ist ihre Devise. Müssten das nicht alle tun?
Europa ist stärker, als es sich darstellt. Als Putin die Ukraine 2022 angriff, gab Europa mit Kanada rund 330 Milliarden für die Verteidigung aus. Bei den Russen waren es 65 Milliarden. Inzwischen hat sich das geändert, da die Russen nun Kriegswirtschaft betreiben. Aber es ist immer noch ein Verhältnis von etwa 4 zu 1. Das Problem ist, dass das Material der Selbstverteidigung dient, aber nicht geeignet ist, einen Drittstaat wie die Ukraine zu schützen. Wenn sich die Nato-Länder ohne die USA zusammentäten, hätten sie genügend Waffenkraft zur Abschreckung. Das ist die Idee von Macron, der seit Jahren für eine gemeinsame EU-Verteidigung plädiert.
Die EU ist ja aber mit Ungarn und der Slowakei gespalten …
Das sind Sprengkörper, aber wenn die anderen zusammenstehen, sind sie nicht entscheidend.
Müssen wir die Luftschutzkeller wieder reaktivieren? Hat es hier im Haus einen?
In unserem Haus nicht, das macht man nicht mehr. Ich bin kein Militärspezialist, aber ob wir auf dem richtigen Dampfer sind mit den neusten Kampffliegern – ich weiss es nicht.
Hat die Schweiz die Dringlichkeit der Lage erkannt?
Ja, aber der Schritt von der Erkenntnis zur Handlung ist in der Schweiz immer ein langer Weg.
Wir haben ja auch klamme Finanzen.
Die andern haben auch nicht mehr Geld. Wir sind eines der reichsten Länder und haben angeblich für vieles kein Geld, so wird ja auch die Entwicklungshilfe gekürzt.
Das ist … Erich Gysling
Seit über 60 Jahren beobachtet, rapportiert und kommentiert der ehemalige Chefredaktor Information von SRF das Weltgeschehen. Der 88-Jährige spricht zehn Sprachen, darunter Arabisch, Russisch und Farsi. Er liest und schaut täglich rund drei Stunden Medien aus aller Welt. Mit seiner Frau, der Psychoanalytikerin Andrea Gysling, wohnt er in Affoltern am Albis ZH. Er publiziert regelmässig auf journal21.ch.
Auch die Hilfe ans Palästinenser-Hilfswerk UNRWA soll gestoppt werden.
Das ist völlig falsch und daneben. Es ist ein Kesseltreiben der israelischen Regierung gegen die Uno. Ich bin eisern der Meinung, dass das Stoppen der Gelder falsch ist, die Schweiz ist eines der wenigen Ländern, die das tut. Es ist beschämend. Die Palästinenser haben keine Lobby, werden von allen, auch den Arabern, im Stich gelassen. Das alles soll nicht bagatellisieren, dass es die Hamas war, die den jetzigen Konflikt ausgelöst hat.
Was ist denn die Rolle der Schweiz? Sie muss doch neutral bleiben.
Was heisst neutral? Die Russen haben genauso recht wie die Ukrainer? Sicher nicht! Wir müssen auf der Seite des Völkerrechts, des internationalen Rechts, des Rechtsstaates stehen. Auf dieser Position müssen wir standhaft bleiben. Wenn wir diese Position verlassen, ist das nicht Neutralität, sondern Wischiwaschi. Die Schweiz ist Sitzstaat der Genfer Konventionen, das gäbe uns die Rolle, laut zu sein zur Verteidigung des Völkerrechts. Im Sicherheitsrat hat es die Schweiz ja sehr gut gemacht, auch dank der hervorragenden Botschafterin Pascale Baeriswyl.
Müssen wir uns näher an die EU binden, beispielsweise mit den Bilateralen III?
Unbedingt. Die Diskussionen, die wir darüber führen, beispielsweise über die Spesenregelung, sind lächerlich. Wir erkennen die Prioritäten nicht mehr und verbeissen uns in Details. Die Schweiz kann offenbar nicht damit leben, dass gewisse Dinge offen bleiben. Die Schweiz will nichts im Fluss lassen, dabei ist die Welt dauernd im Fluss. Ein bisschen mehr Flexibilität würde uns guttun.
Ich fühle mich hilflos, weiss nicht, wie mit der Weltlage umgehen. Was kann ich tun?
Selber denken und durchhalten.
Macht Ihnen die heutige Situation Angst?
Für mein persönliches Leben nicht. Wir hier in der Schweiz werden irgendwie weiterwursteln, auf einem relativ hohen Wohlstandsniveau weiterleben. Ich glaube nicht, dass es uns ganz direkt betrifft. Aber wir sind doch auch Menschen mit Gewissen! Und das heisst, dass wir eine Pflicht zur Solidarität mit der übrigen Welt haben. Und da befürchte ich, dass wir zu egoistisch und zu leisetreterisch sind.