Es müffelt in der Küche von Julia Thoma. Doch das kommt nicht von der Lasagne, die sie gerade aus ihrem Backofen nimmt. «Die ist ja noch ganz knusprig, und Tierchen hats keine dran. Doch essen kann man die weiss Gott nicht mehr!» Die 30-jährige Pöstlerin schüttelt den Kopf, «Sachen gibts».
Erstmals seit dem 29. August 2023 ist Thoma wieder in der Mietwohnung in Schwanden GL, in der sie und Ehemann Joël (38) lebten. An jenem Tag hatte Julia die selbst zubereitete Lasagne nach dem Zmittag wieder in den Backofen gestellt, der Rest war fürs Znacht gedacht. Doch dazu kam es nicht mehr.
Flucht mit Büsi
Nach heftigen Regenfällen rutschten am 29. August 30'000 Kubikmeter Erdreich vom Gebiet Wagenrunse ins Dorf Schwanden. Dutzende Häuser wurden zerstört oder beschädigt, 112 Menschen evakuiert.
Julia Thoma war an jenem Dienstagnachmittag anderswo in Schwanden, im Stall eines Bauern schaute sie zu ihrem Pferd. Plötzlich rief dieser: «Komm, schau!» Julia sah, wie sich Erdmassen den Hang hinunterwälzen, Gebäude unter sich begraben – vor allem im Quartier, wo sie und Joël, ein gelernter Mechaniker, im ersten Stock eines Mehrfamilienhauses zur Miete lebten. Sie erstarrte.
Die Sicht zu ihrem Haus war verdeckt, sie wusste: Joël war daheim. «Schafft er es raus? Lebt er noch?» Vergeblich versuchte sie, ihn zu erreichen – das Telefonnetz war zusammengebrochen. Julia hatte Angst heimzugehen und kümmerte sich um ihr nervöses Pferd. Ein paar Minuten später schellte ihr Handy. Ihr Liebster war dran: «Ich habs geschafft, bin draussen! Mit Xena.»
«Mir war angst und bange: Schafft es Joël raus?»
Julia Thoma über den Tag des Murgangs
Erst hatte Joël gar nichts mitbekommen – er war in der Stube am Gamen, plötzlich klingelte eine Nachbarin, rief: «Oben am Hang brechen Bäume wie Zündhölzli!» Die beiden schauten aus dem Fenster kurz zur Wagenrunse hoch, dann rannten sie raus.
«Xena!», schoss es Joël durch den Kopf. Er eilte in die Wohnung zurück, nahm das Büsi auf, flüchtete wieder. Nur Minuten später kam der erste Rutsch vor ihrer Haustür zum Stehen.
Alles musste in zurückgelassen werden
Der zweite, mit viel Wasser und Schlamm vermengt, füllte in den folgenden Tagen die Parterrewohnung bis an die Decke, an der Fassade klafften breite Risse. In der improvisierten Notaufnahme im Gemeindezentrum fielen sich Julia und Joël in die Arme. Sie fanden Unterschlupf bei Julias Eltern.
Ausser den Kleidern am Leib war alles in ihrer Wohnung geblieben. Doch diese durften sie nicht mehr betreten, das Haus gehörte fortan zur Zone Rot: betreten verboten! Am nächsten Tag gingen sie das Nötigste einkaufen. Die ersten Nächte hatten sie nur den herunterkommenden Dreck vor Augen.
Ein letzter Besuch
Sommer 2024. «Die Solidarität und Hilfsbereitschaft in unserer Dorfbevölkerung ist riesig. Dafür sind wir dankbar», sagt Julia Thoma in der Küche ihrer alten Wohnung und stellt die Lasagne zurück in den Ofen. Es müffelt überall: Noch immer hockt die Feuchte des Schlamms in allen Wänden. Das Haus, in dem sie während vieler Jahren so gern gewohnt hatten, ist dem Abriss geweiht. Nun dürfen die beiden mit behördlicher Erlaubnis ein letztes Mal in ihre Wohnung, um jene Sachen mitzunehmen, die sie behalten wollen.
«Viel ist es nicht», sagt Joël: sein Ehering, den er auf dem Nachttisch liegen gelassen hatte, amtliche Dokumente, Policen, seine Games. Julia legt eine Handvoll Lieblingskleider parat, einen Stapel Bücher, die Unterlagen für ihre Weiterbildung zum pferdegestützten Coach, das Halsband ihres verstorbenen Hundes Noisy.
Sie packt die Sachen in eine alte Seemannskiste, zu der sie einen starken emotionalen Bezug hat. Ein Kollege hilft beim Raustragen durch den zerstörten Hausflur, alles andere bleibt drin. «Ein trauriger Abschied. Wir haben hier so gern gelebt.»
Die ersten Wochen nach dem Erdrutsch habe bei ihr Wut vorgeherrscht», erzählt sie. «Vor allem Wut auf den Berg.» Büsi Xena putzte sich vor Stress lange Zeit so fest, dass sie alle Bauchhaare verlor. «Doch die Zeit heilt Wunden.» Im November haben Joël und Julia in Schwanden eine andere Wohnung bezogen, der administrative Kram ist grösstenteils erledigt.
Schutzdamm ist im Bau
15 Wohn- und Gewerbegebäude sind abgerissen worden, mehrere andere werden noch zurückgebaut, 46 Menschen haben ihr Zuhause verloren. Elf Millionen Franken hat die Gemeinde Glarus Süd, zu der Schwanden gehört, für die Bewältigung der Erdrutsche bewilligt.
Bis im Spätherbst soll der bis acht Meter hohe, u-förmige provisorische Schutzdamm gebaut sein. Davor entsteht ein Auffangbecken für die absturzgefährdeten Geröllmassen. Denn unterhalb der Abbruchstelle hat es noch immer 60'000 Kubik Material, das sich täglich Richtung Dorf bewegt.
«Für die Betroffenen hat ihr Quartier als ihre nächste Heimat die Seele verloren. Es ist nun ein Baugebiet mit enormen Erdbewegungen und wird nie mehr gleich aussehen», sagt Hans Rudolf Forrer, Gemeindepräsident von Glarus Süd. Die Stimmung im Dorf sei unaufgeregt, doch der Murgang werde den Menschen noch Jahre im Gedächtnis bleiben. Vor allem die 20 Personen, die noch immer nicht in ihre alte Wohnung zurückkönnen und doppelte Mietkosten haben, sind nach wie vor auf das Spendenkonto der Gemeinde angewiesen.
Und es gibt Betroffene, die erst vor Kurzem Unterstützung für den Kauf von Kleidern und alltäglichen Gegenständen beantragt haben. «Wir gehen davon aus, dass auch bei der Umsiedlung und der Wiederinstandstellung der Wohnsituation weitere finanzielle Hilfe notwendig sein wird.»
Julia Thoma legt einen Arm um den Hals von Joël. «Wir haben Tritt gefasst in der neuen Normalität. Es geht uns wieder einigermassen gut.» Der Blick durchs neue Stubenfenster schweife nicht mehr über das Erdrutschgebiet. «Die Gefahr ist noch lange nicht gebannt. Ein zweites solches Drama möchten wir nicht mehr erleben.»
Das Spendenkonto der Gemeinde Glarus Süd: CH16 0680 7430 1434 7456 5, Vermerk «Rutschung Wagenrunse, Schwanden»