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Vera Weber im Interview

«Wir opfern die Natur zugunsten der Energie»

Der fehlende Strom könnte locker mit Solaranlagen auf Hausdächern erzeugt werden. Davon ist Vera Weber überzeugt. Und deshalb kämpft sie mit der Fondation Franz Weber gegen das Stromgesetz – und das bis zur Erschöpfung.

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Vera Weber, Praesidentin der Fondation Franz Weber. Aufgenommen am 24.04.2024 Im Hotel Giessbach am Brienzersee. Bild © Remo Naegeli

«Man mag das verrückt finden, aber im Herbst hatte ich das Gefühl, mit meinem Vater sprechen zu können.» Vera Weber im Garten des Hotels Giessbach, das ihr Vater Franz gerettet hat.

Remo Naegeli

Sie ist die Erbin des legendären Umweltschützers Franz Weber. Tochter Vera (49) hat mit der Fondation Franz Weber fast im Alleingang die Referendumsabstimmung zum Stromgesetz am 9. Juni erzwungen. «Ich bin überzeugt, dass mein Vater gleich gehandelt hätte.» Denn: «Das Gesetz setzt Dinge ausser Kraft, für die er gekämpft hat. Das macht mich sehr traurig.»

Vera Weber, die Grünen bezeichnen Ihr Referendum als «unverantwortlich». Ihre Antwort?

Wir haben uns die Zeit genommen, das Stromgesetz und seine Auswirkungen auf die Natur en détail zu analysieren. Dies führte zum Referendum. Wir wollen uns treu bleiben und uns für den Natur- und Landschaftsschutz einsetzen. Und wir fühlen uns frei, diese schwierige Wahl zu treffen, da wir bewusst nicht am parlamentarischen Prozess im Bundeshaus teilgenommen haben.

Weshalb ist das Gesetz für Sie nicht akzeptabel?

Es ermöglicht etwa den Bau von Windkraftanlagen mitten im Wald. Es erlaubt das Errichten von Solarmodulen auf Alpen und die Entwicklung des restlichen Wasserkraftpotenzials, auch wenn dadurch Biotopflächen überflutet werden. So opfern wir Natur und Landschaften zugunsten eines Energie-Szenarios, dessen Erfolg keineswegs garantiert ist.

Das ist Vera Weber

Die Tochter von Judith und Franz Weber hat Umweltwissenschaften studiert. Sie ist Präsidentin die Fondation Franz Weber. Unter ihrer Ägide wurde die Zweitwohnungsinitiative angenommen. Sie engagiert sich auch stark für Tierschutzanliegen.

Wenn wir nichts tun, wird die Schweiz in eine Stromknappheit geraten.

Ja. Aber das Bundesamt für Energie hat eine Studie veröffentlicht, die Folgendes zeigt: Die Installation von Sonnenkollektoren auf allen bereits bestehenden Gebäuden würde 110 Prozent des nationalen Strombedarfs liefern. Bereits heute deckt die saubere Wasserkraft 60 Prozent des Strombedarfs ab. Schalten wir die Kernkraftwerke ab, braucht es zusätzlich 40 Prozent. Warum also nicht mit Sonnenkollektoren auf Gebäuden, die der Natur keinen Schaden zufügen, die fehlenden 40 Prozent Strom erzeugen?

Die Diversifizierung der erneuerbaren Energien macht doch Sinn: Im Winter gleicht die Windenergie teilweise die Schwäche der Solarenergie aus.

Um Windkraftanlagen zu errichten, rechtfertigt für uns nichts das Roden von Wäldern, schon gar nicht solche von nationaler Bedeutung. Es wäre skandalös, diese seit anderthalb Jahrhunderten geschützten Wälder zu gefährden. Sie sind unverzichtbar für das Klima, darüber hinaus schützen sie vor Naturkatastrophen und spielen eine zentrale Rolle für die Biodiversität. Die Biodiversität leidet in der Schweiz ohnehin extrem. Das Gesetz verpasst es zudem, das Energiesparen und die Energieeffizienz ausreichend zu fördern. Das Parlament hat sich nicht getraut, ambitionierte und bindende Ziele zu setzen.

Befürworter weisen auf ökologische Ausgleichsmassnahmen hin.

Dieses Argument ist grotesk. Man sagt, man würde anderswo Bäume pflanzen. Aber wo? Auf Ackerland? Eine Baumpflanzung benötigt Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte, um den gleichen Wert wie ein alter Wald zu erreichen. Ein alter Baum ist wichtiger für Biodiversität, Naturschutz und Klimaschutz als ein junger Baum.

Vera Weber, Praesidentin der Fondation Franz Weber. Aufgenommen am 24.04.2024 Im Hotel Giessbach am Brienzersee. Bild © Remo Naegeli

Noch kein Nachfolger fürs Giessbach-Hotel. 

Remo Naegeli

Sind Sie eine Fundamentalistin?

Die Natur ist das Wichtigste. Ohne Natur überleben wir nicht. Was uns fundamentalistisch erscheint, ist die Hysterie um die Energieversorgung.

Genug Strom ohne mehr Land – geht das?

Absolut! Das Stromgesetz ist eine gross angelegte Subventionsverteilung, die verschiedenen Wirtschaftsakteuren Gewinne verspricht. Noch schlimmer ist, dass Schutzmechanismen, die in den letzten 50 Jahren geschaffen wurden, beseitigt werden. Das ist inakzeptabel!

Sinkt die Sensibilität für Naturschutz?

Der Fokus liegt heute allein auf dem Klima. Die Natur, die Tier- und Pflanzenwelt, die Biodiversität werden komplett vergessen. Das Perverse daran ist, dass Klima und Artenvielfalt gegeneinander ausgespielt werden. Das abstrakte Thema des Klimawandels wird zugunsten des greifbaren Anliegens des Naturschutzes vernachlässigt. Dabei sind beide Themen untrennbar miteinander verbunden. Eine Lösung für die Klimaerwärmung erfordert den Schutz der Ökosysteme.

Das berühmte Weber-Gesetz über Zweitwohnungen wurde kürzlich gelockert …

… eine Bestätigung dafür, dass das Parlament die Verfassung nicht ernst nimmt. Man will das Gesetz über Zweitwohnungen schwächen, um mehr bauen zu können, und verhindert, dass Naturschutzorganisationen gegen bestimmte Projekte Einspruch erheben können.

Wie interpretieren Sie die Tendenz, Umweltschutzgesetze zu lockern?

Ich leite aus dieser rechtlichen Aushöhlung ab, dass diese Parlamentarier und Lobbyisten in erster Linie daran denken, Geld zu verdienen, aber nicht daran, die Natur und das Klima zu schützen. Und nun versucht man, Geschäfte, insbesondere im Bereich erneuerbare Energien, mit dem grünen Mäntelchen der Klimakrise voranzutreiben. Wenn diese Leute doch nur offen sprechen würden. Es ist Manipulation. Und das bedeutet das Ende einer echten Ökologie.

Sie sind eine kleine Organisation mit nur zwölf Mitarbeitenden. Wie halten Sie das durch?

Das ist tatsächlich nicht einfach. Es wäre einfacher gewesen, das Referendum nicht zu starten. Es war eine verrückte Arbeit. Die Leute glauben fälschlicherweise, dass es nicht so schwierig ist, 63 000 Unterschriften zu sammeln. Aber wir haben Tag und Nacht daran gearbeitet. Nicht zu reden von den Feinden, die das mit sich bringt, und von der Maschinerie, die gegen einen in Gang gesetzt wird. Und jetzt müssen wir die Kampagne verfeinern, das gesamte Argumentarium überarbeiten, um alle Fragen beantworten zu können, während ich immer noch das Hotels Giessbach leite, bis ich einen Nachfolger gefunden habe. Man kann also sagen, dass ich erschöpft bin.

Von Philippe Clot am 11. Mai 2024 - 06:00 Uhr