Ein leichter Duft von Essig liegt in der Luft. In der Produktionshalle von Reitzel SA rattert und klappert es, die Förderbänder und andere Maschinen laufen auf Hochtouren. Die Arbeiterinnen und Arbeiter an der Sortieranlage sind hoch konzentriert am Werk: Sie nehmen deformierte Cornichons vom Förderband, entfernen Stiele. Ununterbrochen fliesst ein Strom kleiner grüner Gurken an ihnen vorbei zur Abfüllanlage. Dort purzeln die Cornichons in die Gläser. Schauen ein paar Enden über den Rand hinaus, befördern flinke Hände die Gürkli noch ganz ins Glas. «Wir schauen gut zu unseren Cornichons», sagt Olivier Camille (49) CEO der Firma Reitzel, beim Gang durch die Hallen. «Sie sind unsere kleinen Könige.»
Die Firma in Aigle VD ist die einzige Konservenfabrik in der Schweiz, die Gewürzgurken verarbeitet. 1909 kaufte der Deutsche Hugo Reitzel in Aigle eine Senffabrik und Land. Auf Anraten seiner Frau Aïda begann er, Gemüse einzulegen. Noch heute ist der Betrieb im Besitz der Familie Reitzel. Zu den Abnehmern gehören Gastronomie und Einzelhandel.
Chef Olivier Camille ist froh, kann er nach dem Gang durch die Hallen seine Mundmaske entfernen: Als Bartträger muss er eine solche der Hygiene wegen aufsetzen. Der CEO freut sich schon aufs nächste Raclette. «Ohne Cornichons – undenkbar!»
Vor Kurzem wurde er in geselliger Runde gefragt, ob Gewürzgurken an Bäumen wachsen. Er hatte viel zu erklären über Cucumis sativus. Camille lachend: «Die Welt der Gurken ist ein Abenteuer!»
Gut drei Monate Erntezeit
Seit 2017 pflegt Reitzel eine enge Zusammenarbeit mit Schweizer Gurkenanbauern. 21 Landwirte liefern dieses Jahr Gurken nach Aigle, im Handel sind sie unter der Marke Hugo zu kaufen. Der Marktanteil dieser Produktelinie in der Schweiz beträgt acht Prozent. Leader ist Chirat: Deren Gurken werden jedoch allesamt in der Türkei angebaut. Nicht jedes Jahr ist die Ernte gleich üppig. «2022 war ein Superjahr», berichtet Chef Olivier Camille – 1400 Tonnen hierzulande geerntete Cornichons hat seine Firma damals verarbeitet. Heuer erwartet Camille eine Ernte von nur 440 Tonnen. «Der Anbau hat stark unter dem vielen Regen gelitten. Und oft war es den Gurken zu kalt.»
Von diesen misslichen Bedingungen können Mickaël Pittet (34) und seine Frau Mélissa (32) ein Lied singen. Die beiden führen einen Landwirtschaftsbetrieb in Vuarrens südlich von Yverdon, im Gros-de-Vaud, der Getreidekammer der Schweiz. Seit vier Jahren liefern sie ihre Gewürzgurken an die Firma Reitzel. «Der viele Regen – eine Katastrophe!», sagt Bauer Pittet. Mit Mélissa steht er auf seinem 1,6 Hektaren grossen Gurkenfeld. Im Mai haben sie 50 000 Setzlinge der Bio-Sorte Rubato angepflanzt – auf 39 Linien, jede 210 Meter lang.
Nicht zu stark gekrümmt
Seit Mitte Juni wird täglich geerntet. Bauer Pittet schmunzelt. «Wir haben keine Saure-Gurken-Zeit.» Sechs Angestellte aus Spanien sind am Pflücken, an heissen Tagen schon ab fünf Uhr, zehn Stunden lang. Maria war schon vergangene Saison als Erntehelferin hier: «Es ist harte Arbeit, doch wir sind zufrieden, wir haben es gut untereinander.» Geerntet wird mit sogenannten Gurkenfliegern. Mickaël, gelernter Mechaniker, hat seine drei Erntemaschinen selbst konstruiert und angefertigt. Drei Erntehelfer liegen bäuchlings, gepolstert durch eine Matratze, auf einer Vorrichtung, die sich im Schneckentempo fortbewegt. Die gepflückten Gurken kommen auf ein Förderband, welches diese in Kisten im hinteren Teil des Fliegers transportiert.
Gurken, erklärt Pittet, haben es gern trocken und warm, am liebsten auch in der Nacht über 15 Grad. Dann ge- deihen sie rasch – das kleine Gemüse ist, so die Fachsprache, frohwüchsig. Und Gürkli sind Wassersäufer: Sie brauchen viel, wenn auch nicht zu viel Wasser. Bleibt das Thermometer nachts über 25 Grad, vergrössert sich das Volumen einer Gurke innert eines Tages ums Dreifache. «Dann passen sie nicht mehr in ein Cornichon-Glas.»
Je nach Wetter dauert die Ernte bis Ende September. Pittet hofft auf viel Sonne, «aber keine Hundstage»! Er rechnet mit 45 Tonnen Gurken, die sein Schwiegervater jeden zweiten Tag in unzähligen Kisten nach Aigle transportiert. 3.50 Franken pro Kilo bezahlt Reitzel den Pittets. Auch in der Fabrik keine Spur von Saure-Gurken-Zeit. Spätestens 48 Stunden nach der Ernte liegt ein Cornichon im Hugo-Glas mit Schweizerkreuz.
Danach werden die Gläser aufgefüllt: Die Flüssigkeit besteht aus Wasser, im eigenen Unternehmen hergestelltem Essig und einer geheimen Mischung aus Gewürzen, Zucker und Salz – alle Zutaten kommen aus der Schweiz. Stéphanie Reitzel Gray vertritt als Finanzdirektorin die vierte Generation des auf Nachhaltigkeit bedachten Familienunternehmens. Sie sagt: «Wir variieren. Deutschschweizer haben Cornichons gern sweet and sour, wir Romands mögen sie sauer.»
Sind die Deckel zugeschraubt, werden die Gläser samt Inhalt während drei Minuten auf 90 Grad erhitzt und so pasteurisiert, anschliessend etikettiert und für den Versand bereit gemacht. Jeden Werktag degustieren zehn Reitzel-Angestellte eine Anzahl Gürkli. Die Kriterien für ein gutes Cornichon: «Es muss knackig sein, eine schöne, nicht allzu gekrümmte Form und einen guten Gout haben.»
Chef Olivier Camille ist froh, kann er nach dem Gang durch die Hallen seine Mundmaske entfernen: Als Bartträger muss er eine solche der Hygiene wegen aufsetzen. Der CEO freut sich schon aufs nächste Raclette. «Ohne Cornichons – undenkbar!» Vor Kurzem wurde er in geselliger Runde gefragt, ob Gewürzgurken an Bäumen wachsen. Er hatte viel zu erklären über Cucumis sativus. Camille lachend: «Die Welt der Gurken ist ein Abenteuer!»