Es kommen immer mehr orthodoxe Juden in den Warteraum der Gondelbahn auf das Davoser Jakobshorn. Die Männer tragen weisse Hemden, schwarze Jacketts und verschiedene Kopfbedeckungen; Hüte, Kippot, Schiebermützen und Baseballcaps. Die Frauen tragen Röcke und Perücken. Nicht nur mit ihrer Aufmachung unterscheiden sich diese Menschen von Nichtjuden – und weniger frommen Juden –, sondern auch mit ihrem Verhalten: Sie stehen ganz nahe beieinander und unterhalten sich angeregt, auch mit den Kindern, mit denen sie aufmerksam und liebevoll umgehen. Keines wird angeblafft, niemand starrt auf ein Handy. Orthodoxe haben keine Smartphones, da das Internet mit seinen erotischen Verführungen als unkoscher gilt, sondern einfache Modelle, die sie höchstens aus der Tasche holen, um mit jemandem rasch einen Treffpunkt zu vereinbaren. Man spürt deutlich mehr Wärme und Verbundenheit als bei anderen menschlichen Zusammenkünften.
Wir fragen eine Gruppe von Orthodoxen, alle von derselben Familie, ob wir ein Foto von ihnen machen dürften. Sie fragen skeptisch und mit jiddischem Akzent, wofür. Seit dem 7. Oktober 2023 fühlen sich Juden überall auf der Welt noch unsicherer. Wir erklären, dass wir über das Vermittlungsprojekt Likrat Public zwischen jüdischen Gästen und Einheimischen berichten. Damit ist das Eis gebrochen – erst recht, als sie erfahren, dass die Vermittlerin, der Fotograf und der Autor alle jüdisch sind.
«Where do you come from?», fragt mich ein junger rotbärtiger Mann mit langen Schläfenlocken aus England, der in Israel lebt. «I live in Zurich», antworte ich. «No, I mean, where do you COME from!» Ich verstehe: Er meint meine Vorfahren. «Brody in Ukraine», sage ich. «Oh, Brody!», sagt er anerkennend. «Brody!», nickt der neben ihm beeindruckt. Es ist ein Ort mit einer langen jüdischen Geschichte. Nach dem Verhältnis zu den Einheimischen gefragt, sagt der 52-jährige in Zürich wohnhafte Schwiegervater des Mannes: «Ich erlebe es im Grossen und Ganzen als sehr gut. Natürlich gibt es immer welche, die ein Problem mit uns haben und alle in einen Topf werfen. Aber die allermeisten sind sehr anständig. Ich würde sagen, das Problem ist in den Medien hochgeschrieben worden.»
Jedes Jahr reisen mehrere 1000 Orthodoxe mit ihren Kindern aus Zürich, England, den USA, Belgien und Israel in die Schweizer Berge, um hier ihre Sommerferien zu verbringen. Nach Saas-Grund, Klosters und Arosa, das sie liebevoll «Arosalem» nennen. Aber in Davos gibt es mehrere Koscher-Hotels, Koscher-Abteilungen in den Supermärkten, eine Synagoge und ein rituelles Tauchbad.
Debatte losgetreten
Reto Branschi könnte sagen: Erstens bin ich pensioniert, und zweitens ist Sonntag. Aber das Thema des Gesprächs beschäftigt den früheren Tourismusdirektor von Davos auch als Rentner. Es geht um das Verhältnis zwischen seiner Stadt und ihren jüdisch-orthodoxen Gästen. Die Angelegenheit beschäftigt ihn so sehr, dass er weiter für die Tourismusorganisation tätig ist, um zwischen beiden Seiten zu vermitteln und Stellung zu nehmen. Branschi ist ohnehin nicht der Typ, der sich von einem 65. Geburtstag beeindrucken lässt. Er trägt Sneakers zum Jackett und hat eine Stimme, die zu seinem Händedruck passt. Kaum fällt das Wort Antisemitismus, erhebt er sie: «Davos ist nicht antisemitisch!»
In den letzten zwölf Monaten war er einige Male mit der gegenteiligen Ansicht konfrontiert worden. Daran ist er nicht ganz unschuldig: Vergangenen Sommer hatte er in einem Interview kritisiert, dass manche orthodoxe Touristen sich nicht an die Regeln des Zusammenlebens hielten: Sie würden nicht grüssen, auf dem Trottoir keinen Platz machen, ihren Abfall liegen lassen und auf Biketrails spazieren. So hatten es ihm Restaurateure, Bahnbetreiber und Wohnungsvermieter zugetragen. Branschi war in seinen Äusserungen differenziert geblieben, er hatte nicht von «den Juden» gesprochen, sondern von «einem Teil der jüdischen Gäste». Aber die Debatte, die er losgetreten hatte, liess solche Finessen bald vermissen. In Leserbriefen gab es übelste antisemitische Beschimpfungen, die Davoser «Gipfel Zytig» druckte ein Foto von einen Kothaufen ab und behauptete, dieser «stammt von einem menschlichen Wesen jüdischer Abstammung».
Letzten Januar ereignete sich ein Vorfall, der als «Schlitten-Gate» in Erinnerung geblieben ist: Das Bergrestaurant Pischa verkündete auf einem in Hebräisch verfassten Plakat, es vermiete «keine Sportgeräte mehr an unsere jüdischen Brüder». Der Vorfall schlug Wellen bis in die USA. Reto Branschi erhielt Morddrohungen. Und Besuch von orthodoxen Anwälten aus den USA. «Es war nur ein einziges Restaurant – und eine ganze Region wird pauschalisiert!», ereifert sich Branschi.
«Ausserdem hat die Sache eine Vorgeschichte.» Offenbar musste der Pächter des Restaurants zusammen mit dem Rettungsdienst mehrere Male jüdische Touristen auflesen, weil diese mit untauglicher Kleidung unterkühlt vom gemieteten Schlitten gefallen und irgendwo im Wald liegen geblieben waren. «Irgendwann ist ihm eben der Kragen geplatzt, und er hat sich wirklich unglücklich ausgedrückt.» Nicht nur das Bild von «den Juden» war gemacht. Sondern auch das von Davos. Und das von Branschi.
Vermittler erklären Bräuche
«Es sind mittlerweile schon wacker viele», sagt der Mitarbeiter einer Bergbahn. «Wir müssen uns oft mit Händen und Füssen verständigen.» Etwa darüber, dass die bereitstehenden Offroad-Trottinetts gemietet werden müssen und man nicht gratis mit ihnen ins Tal sausen dürfe. Für solche Aufgaben gibt es Likrat Public, jüdisch für Vermittlung. Das Projekt besteht aus jüdischen Freiwilligen, die den orthodoxen, grösstenteils fremdsprachigen Gästen die hiesigen Gepflogenheiten erklären – und den Einheimischen die jüdischen Bräuche. Ins Leben gerufen hat es der SIG, der Schweizerische Israelitische Gemeindebund. Anfangs brachte es nicht besonders viel: «Es waren nur drei Leute, die den Vorfällen hinterherrannten», wie Reto Branschi erzählt. Dieses Jahr sind es, nachdem er Anpassungen verlangt hatte, mindestens zehn, die morgens an den Talstationen und nachmittags an den Bergstationen stehen. Ausserdem gibt es mitten in Davos ein Infozelt.
Dort steht Michel Ronen, ein 36-jähriger Aargauer mit wachem, freundlichem Blick. Er koordiniert das Likrat-Projekt. «Wir haben es leider regelmässig mit Vorurteilen zu tun. Aber wenn wir erklären, dass jemand aus Brooklyn, New York, einen Wanderweg nicht von einem Biketrail zu unterscheiden weiss, weil er beides noch nie gesehen hat, wird das verstanden. Diese Konflikte können wir nur im Dialog bewältigen.» Wir begleiten Salvina, eine 18-jährige Vermittlerin, auf das Jakobshorn. Am Schalter zeigt sie ihren Gutschein für die Fahrkarte vor und sagt, sie sei von Likrat. «Ich wäre froh, ihr wärt heute Morgen schon hier gewesen!», sagt die Verkäuferin. Sie zeigt auf ihrem Handy Fotos von Orthodoxen, die auf dem Biketrail bergwärts spazieren, und bittet darum, deren Glaubensgenossen von solchen Abenteuern abzuhalten. Im Weggehen fragt sich Salvina, ob sie nun sämtliche Orthodoxe, die sie antrifft, präventiv darauf ansprechen solle: «Das wäre ja auch irgendwie schräg.»
Andere Bräuche
Während wir auf die Abfahrt der Seilbahn warten, erzählt Salvina, warum sie für Likrat tätig ist: «Es ist mir wichtig, gegen Missverständnisse und Vorurteile anzutreten.» Bereits am ersten Tag ihres Aufenthalts, auf einer Busfahrt in Saas-Grund VS, hatte sie erlebt, warum das bitter nötig ist: «Der Busfahrer fuhr einfach an der Haltestelle vorbei, an der lauter Orthodoxe warteten. Eine der Frauen im Bus rief hämisch: ‹Die mit den Zöpfen nehmen wir nicht mit!› Wenn ich nur einen von diesen Leuten zum Nachdenken bringen kann, hat sich mein Einsatz schon gelohnt.» Auf dem Rückweg sprechen wir einen Mitarbeiter der Seilbahn an. Er erzählt leicht genervt, dass er jeweils zuerst die Biker mit ihren Velos einsteigen lasse, was immer wieder Orthodoxe dazu bringe, den Warteraum zu verlassen und den Zugang der Biker zu nehmen. Er zeigt uns einen Zettel an der Tür: «Wir bitten um Verständnis, dass wir zuerst die Bikes in die Kabine verladen», steht darauf. Wir wollen wissen, wie ein Tourist aus Belgien den Text verstehen solle. Der Mann behauptet, man müsste das alles auch so begreifen. Und dass die Juden neuerdings alle freundlich grüssten, sei «schon fast wieder penetrant.»
Es scheint, als würde gegenüber jüdischen Menschen ein strengerer Massstab angewendet: Wenn ein Nichtjude eine leere PET-Flasche in die Wiese wirft, hat er einfach schlechte Manieren. Wenn ein Jude es tut, ist es sofort «typisch». Grüsst er nicht, ist er unfreundlich. Grüsst er, ist er penetrant. Ein 32-jähriger Mann aus Zürich, mit dickem schwarzem Mantel und ovaler Brille, bestätigt das: «Ich war vorgestern allein im Bus, und eine Familie war sehr laut. Wie Kinder eben sind. Der Fahrer sagte kein Wort. Gestern war ich mit meinen Kindern unterwegs, und derselbe Fahrer herrschte mich an, wir seien viel zu laut und würden alles schmutzig machen.»
Kluft in Israel ist viel grösser
Früh am nächsten Morgen besuchen wir den ersten Gottesdienst des Tages in der Davoser Synagoge. Alte, sehr alte und ein paar junge Männer kommen herein, wickeln einen Lederbändel um den Arm, legen einen Schal über den Kopf, schlagen einen Siddur auf, die zu Hunderten im Regal stehen, und beginnen ihr persönliches Gebet. Im Eingang liegt eine Broschüre auf: «Rules for a pleasant holiday in Davos and respecting the local residents». Auf Englisch steht darin: «Die Schweizer Lebensart ist ruhig und gelassen. Bitte erheben Sie nicht Ihre Stimme im öffentlichen Raum. Es ist üblich, zu grüssen. Sagen Sie Hello oder Grüezi.» Zudem wird darauf hingewiesen, dass Littering als «highly rude» empfunden werde, als höchst unhöflich, und dass Fussgängerstreifen dazu da seien, die Fahrbahn an dieser Stelle zu überqueren und nirgendwo sonst.
«Ich habe schon vor Jahren solche Anweisungen verteilt – das hier ist lediglich eine verfeinerte Version», erklärt der 74-jährige Rafael Mosbacher, während er sich vorbereitet, den gemeinsamen Gottesdienst anzuleiten. «Wir tun unser Bestes. Aber wenn ich mit meiner 26-köpfigen Familie wandern gehe, gibt es manchmal Stau. Wir können ja nicht alle einzeln hintereinander gehen, nur damit wir niemanden stören.»
Orthodoxe Juden haben eine Lebensweise, die auf Aussenstehende seltsam und umständlich wirken kann und deren Geduld manchmal strapaziert – und hin und wieder auch überstrapaziert. Am meisten übrigens in Israel, wo die Kluft zwischen Orthodoxen und den übrigen Bürgern viel grösser ist als anderswo. Aber wären die Zustände in Davos wirklich so arg, wie sie gegenüber Reto Branschi und in den Leserbriefen geschildert wurden, würden wohl nicht so viele orthodoxe Männer, Frauen, Mädchen und Jungs ihre Ferien dort verbringen wollen. Umso bedauernswerter der jüngste Vorfall vom Wochenende: Zwei Männer verprügelten und bespuckten in Davos mit den Worten «Free Palestine» einen 19-jährigen jüdisch-orthodoxen Mann.