Naomi Krauss ist ein fröhlicher Mensch. Nicht gross, aber quirlig dafür, mit wilden, dunklen Haaren. Ihre Stimme tönt angenehm, wenn sie in ihrer Drei-Zimmer-Dachwohnung in einem schmucken Jugendstilhaus im Prenzlauer Berg in Berlin auf dem Stoffsofa sitzt und aus ihrem Leben erzählt. Sie tut es mit Bescheidenheit. Dabei erobert die 56-Jährige gerade die Filmwelt. In der Netflix-Liebeskomödie «Faraway» spielt sie Zeynep, eine knapp 50-jährige unglückliche türkischstämmige Ehefrau, die von ihrer verstorbenen Mutter ein Häuschen auf einer kroatischen Insel erbt. Als ihr Mann einer Jüngeren schöne Augen macht und sogar die Beerdigung ihrer Mutter verpasst, reichts Zeynep. In einer Nacht-und-Nebel-Aktion reist sie nach Kroatien und findet dort ihr Abenteuer des Lebens. «Mich hat die Rolle von Zeynep fasziniert. Es ist die Geschichte einer reifen Frau, die sich befreit, die ausbricht. Toll, wie mutig sie ist», erzählt Naomi Krauss.
Karriere in Deutschland
Als Naomi Krauss selbst ausbricht, ist sie jung. Mit 22 zieht sie von der Schweiz nach Berlin, 1989, drei Monate vor dem Fall der Mauer. Im Gepäck das Diplom der Schauspielakademie in Zürich und ein Engagement der Berliner Schaubühne. Sie spielt und spielt und spielt. Am Staatstheater in Darmstadt, im Deutschen Theater Berlin, im Deutschen Schauspielhaus, bei den Hamburger Kammerspielen und auf der Volksbühne in Berlin. «Ich spielte meistens tiefgründige, schwierige Frauenfiguren. Es waren immer interessante Rollen. Nur merkte ich, dass man mir jene in einer Komödie – der Königsdisziplin – nicht anbot. Dabei bin ich ein humorvoller Mensch.»
«Vor allem Frauen aus Brasilien und der Türkei flippen richtig aus, schreiben mir, wie viel Kraft ihnen meine Rolle Zeynep gegeben hat»
Naomi Krauss
Dann, mit 30, geht plötzlich nicht mehr alles so glatt über die Bühne. Naomi Krauss bekommt kaum Rollenangebote. «Sie engagierten mich einfach nicht mehr, keine Ahnung, warum», sagt sie. «Also dachte ich mir, ich probiere es mal mit dem Film. Zum Glück hatte ich damals eine Agentin, die an mich glaubte.» Und es klappt. Ihren ersten Fernsehauftritt hat sie 1999 im Film «Lieb mich!». Sie arbeitet mit dem deutschen Starregisseur Michael Verhoeven zusammen («Let’s go!» und «Glückskind»), ist im Spielfilm «Was, wenn der Tod uns scheidet?» zu sehen, spielt unter anderem Rollen im «Tatort» und bei «Polizeiruf 110».
Dennoch: Naomi Krauss’ Leidenschaft, die Schauspielerei, ist ein hartes Pflaster. «Klar verdient man beim Film mehr als beim Theater. Klar kann man reich werden, wenn man immer wieder Rollen bekommt. Ich aber musste um Rollen kämpfen. Die Türen öffneten sich nicht immer so, wie ich wollte. Dann muss man eben ab und zu aufs Arbeitsamt oder putzen gehen. Ich arbeitete auch schon an einer Réception oder als Babysitterin.»
Kindergarten in Israel
Naomi Krauss kommt 1967 in Basel zur Welt, hat einen sieben Jahre jüngeren Bruder. Der Vater ist Schweizer, die Mutter Israelin. Das Paar lernt sich in einem Kibbuz kennen. Als Naomi zwei Jahre alt ist, ziehen ihre Eltern nach Israel, kehren aber nach drei Jahren wieder in die Schweiz zurück. «Sagen wir es mal so: Meine Jugend war durchwachsen. Meine Eltern haben sich irgendwann getrennt. Aber sie haben immer an mich geglaubt. Und mich sehr geliebt», erzählt sie.
Auch Naomi ist geschieden, hat aus elf Jahren Ehe mit einem deutschen Schauspieler eine Tochter. Lina Krauss ist 20 und steht als Fussballerin beim FC Union Berlin unter Vertrag.
Heute lebt Naomi Krauss zwar allein, ist aber keine Single-Frau. «Ja, es gibt jemanden in meinem Leben», verrät sie schmunzelnd. Mehr möchte sie dazu nicht sagen. Lieber spricht sie über andere Verehrer – und Verehrerinnen. «Unglaublich, wie die Welt auf meine Rolle als Zeynep in ‹Faraway› reagiert. Ich habe plötzlich eine riesige Fangemeinde auf Instagram. Vor allem Frauen aus Brasilien und der Türkei flippen richtig aus, schreiben mir, wie viel Kraft ihnen Zeynep gegeben hat. Dass sie wieder träumen können. Ich bekomme so herzige Geschichten zu lesen. So viele Komplimente», freut sich der Netflix-Star. Aber auch Männer melden sich. Vor allem aus Indien. «Die wollen mich gleich heiraten.» Sie lacht.
Noch steht in den Sternen, auf welcher Bühne, in welchen Filmen die Schauspielerin, die sieben Sprachen beherrscht, zu sehen sein wird. «Momentan bin ich in mehreren Castings für hoffentlich tolle, neue Projekte», so Krauss. Doch «Faraway», also weit weg, wird sie sicher nicht mehr sein – ihre nächste grosse Rolle.