Im Pfarrhaus der reformierten Kirche in Kölliken AG geht es zu wie in einem Bienenstock. Es wird lautstark diskutiert, gestikuliert und vor allem herzlich gelacht. Im oberen Stock des Daheims von Claudia Steinemann, 33, wurde ein kleines Studio eingerichtet, in dem die Pfarrerin gemeinsam mit ihrer Berufskollegin Priscilla Schwendimann, 28, und Videoproduzentin Sophia Kramer, 25, die Clips für den Youtube-Kanal Holy Shit – zu Deutsch «heilige Scheisse» – dreht.
Claudia und Priscilla lernen sich während ihrer Ausbildung kennen. Claudia, gelernte Informatikerin, studiert auf dem zweiten Bildungsweg Theologie. «Aus reinem Interesse. Ich hatte gar nicht vor, Pfarrerin zu werden.» Das hat auch Priscilla nicht. In einem freikirchlichen Umfeld in Ägypten aufgewachsen – der Vater ist Ägypter, die Mutter Schweizerin –, will sie anfangs Missionarin werden. Nach ihrem Coming-out als queer – Priscilla liebt Frauen –, findet sie in der reformierten Kirche ihr Zuhause, wie sie sagt. Im Studium lernt sie ihre heutige Frau kennen. «Sie wollte, im Gegensatz zu mir, ursprünglich wirklich Pfarrerin werden. Heute ist sie Juristin», erzählt Priscilla lachend.
Die Freundschaft zu Claudia bleibt auch nach dem Studium bestehen. Die beiden verbindet viel. Ihr Beruf – Claudia ist Pfarrerin in Kölliken, Priscilla im Zürcher Kreis 1 –, ihr tiefer Glaube, aber auch ihre Mühe mit den teils sehr starren Strukturen der Institution Kirche. «Manchmal habe ich das Gefühl, in der Kirche seien der Glaube flexibel und die Strukturen fix. Dabei müsste es doch eigentlich umgekehrt sein», sagt Claudia Steinemann.
Trotzdem sehen beide ihr Amt als Berufung. Umso mehr schmerzen sie die Fakten. «Man kann nicht alles schönreden. Allein im Kanton Zürich sind vergangenes Jahr 10 000 Kirchenmitglieder verloren gegangen, zwei Drittel davon sind ausgetreten», sagt Priscilla. Und: «Gerade wenn wir jüngere Leute erreichen wollen, müssen wir auf den Kanälen präsent sein, auf denen sie sind. Wir müssen ihre Sprache reden. Und wir müssen die Themen ansprechen, die sie interessieren.»
«Uns wurde von einigen vorgeworfen, wir seien gegenüber der Kirche nicht loyal.» Claudia Steinemann
Als vor einem Jahr die Pandemie auch die Kirche trifft, beginnt Claudia, für ihre Gemeinde «mal ein paar Videos online zu stellen». Für eines holt sie Priscilla dazu. Langsam formt sich eine Idee: ein Kirchenkanal, auf dem authentisch, ehrlich, aber auch humorvoll über alles gesprochen wird, was die Leute beschäftigt. Themen gibt es genügend. Kirche und Sexualität, Kirche und mentale Gesundheit und so weiter und so fort.
Ursprünglich wollen sie die Idee ausserhalb der Kirche umsetzen. Als Priscilla in ihrer Kirchgemeinde davon erzählt, stösst sie aber auf offene Ohren – und auf Sophia. Die «theologieinteressierte Agnostikerin», wie sie sich selbst nennt, ist ursprünglich Unternehmensberaterin, hat aber in ihrer deutschen Heimat Nürnberg bereits ein ähnliches Projekt umgesetzt. «Ich sehe darin mehr Sinn, als reichen Leuten dabei zu helfen, noch reicher zu werden!» Der Name «Holy Shit» war die Idee von Claudia Steinemanns britischem Ehemann – «nach ein, zwei Gin Tonic», erzählt sie lachend.
Und die «heilige Scheisse», die das Duo online erzählt, ist nicht nur sehr authentisch und witzig, sondern vor allem sehr persönlich. Natürlich geht es um ihren Glauben, aber auch um Priscillas Leben als queer oder um Claudias ADS. Vor vier Jahren wurde bei ihr das Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom diagnostiziert.
Der Alltag damit ist nicht immer leicht. «Viele Leute verstehen zum Beispiel nicht, dass es für mich wichtig ist, dass ich alles schriftlich habe. Mein Hirn kann nicht mit zu vielen Informationen auf einmal umgehen. Aber es heisst dann oft, ich solle mich nicht so anstellen.» Ihrer Neurodiversität ein Gesicht zu geben, sieht Claudia als eine ihrer Lebensaufgaben.
Die Idee kommt an. Über 1000 Klicks generiert mittlerweile jedes Youtube-Video von Holy Shit. Auf Instagram haben sie mehr als 1700 Follower. Natürlich gibt es auch kritische Stimmen. «Uns wurde zum Beispiel von einigen vorgeworfen, wir seien gegenüber der Kirche nicht loyal», erzählt Claudia. Ein Vorwurf, den die beiden Pfarrerinnen nicht nachvollziehen können. «Das Gegenteil ist der Fall. Wir machen das ja, weil wir so sehr vom Glauben überzeugt sind», so Priscilla. Sie gesteht, dass gewisse Kommentare sie schon verletzen. Sexismus, Homophobie und andere Diskriminierungen gehören mehr oder weniger zum Alltag, wenn man sich online exponiert. Dabei betonen beide, dass sie in ihren eigenen Kirchgemeinden nie damit konfrontiert wurden.
Momentan wird Holy Shit zum Teil von einer Stiftung finanziert, zum anderen von Priscilla Schwendimanns Kirchenkreis, den Altstadtkirchen von Zürich. Gesichert ist die Finanzierung nur bis Juni. Wie es danach weitergeht, steht zurzeit noch in den Sternen. «Wir wünschen uns wirklich sehr, dass wir es weitermachen dürfen», sagt Priscilla. «Wir haben noch so viele Ideen.» Und so viel zu sagen, was gehört werden sollte.