Marcel Reif, die Schweizer Fussball-Nationalmannschaft fährt an die Europameisterschaft 2024 nach Deutschland. Doch von Euphorie ist wenig zu spüren, überall wird rumgemäkelt. Was passiert da gerade?
Marcel Reif: Ich bin Schweizer Staatsbürger und habe 25 Jahre lang ausgesprochen gern in der Schweiz gelebt. Von Anfang an habe ich die Schweizer Mischung aus Grössenwahn und Minderwertigkeitskomplexen bewundert. Das fand ich immer charmant. Die Schweiz hat sich zum zehnten Mal in den letzten 20 Jahren für ein grosses Turnier qualifiziert. Nennen Sie mir bitte eine Fussballnation in der gleichen Grössenordnung, die Ähnliches geschafft hat!
Aber das Team ist doch weit von seiner Form vor drei Jahren entfernt, als es im EM-Achtelfinal Weltmeister Frankreich ausschaltete.
Mag sein, aber wie es die Qualifikation seit 2004 fast immer wieder schafft, ist ein Vorbild für alle anderen.
An wen denken Sie?
An den vierfachen Weltmeister Italien, der gerade mit Ach und Krach die EM-Playoffs abgewendet hat. Der italienische Fussball ist ständig mit irgendwelchen Dingen konfrontiert, die der Squadra Azzurra schaden: Wettskandal, Bilanzfälschung und vieles mehr. Ein Turnier ohne Italien ist normalerweise undenkbar – und trotzdem ist es zuletzt zweimal passiert. Die Schweiz hingegen qualifiziert sich beeindruckend regelmässig für grosse Turniere. Fussballnationen wie die Niederlande, Bulgarien, Rumänien, Polen, Ungarn, Tschechien, Norwegen, Schweden und Dänemark haben diese Regelmässigkeit, an grossen Turnieren dabei zu sein, nicht geschafft. Einige Nationen sind vorübergehend in der Versenkung verschwunden. Bevor wir wieder Selbstkritik üben: Würde in der Schweiz bitte irgendjemand wieder mal zur Kenntnis nehmen, dass dieses Land neun Millionen Einwohner hat!
Was wollen Sie damit sagen?
Neun Millionen Einwohner bedeutet, dass kein Fussballtalent verpasst werden darf und man hoffen muss, dass wieder eine Generation nachrückt. Und es braucht eine fantastische Ausbildungsarbeit. In dieser Hinsicht ist die Schweiz vorbildlich. Dennoch: Die Qualifikation zur Euro 2024 verlief mit vier Siegen, fünf Unentschieden und einer Niederlage – zuletzt in Rumänien – harzig. Viermal gab die Schweiz in der Schlussphase einen Vorsprung preis.
Was läuft falsch?
Natürlich nervt das, wenn du zuletzt viele Unentschieden aneinanderreihst und regelmässig kurz vor Schluss den Ausgleich kassierst. Darf ich Sie jedoch daran erinnern, dass in Deutschland derzeit alle froh wären, wenn die deutsche Nationalmannschaft in den Schlussminuten wenigstens das Ausgleichstor erzielen würde? Aber wenn Sie unbedingt wollen, bin ich gern bereit, mit Ihnen den Untergang des Schweizer Fussballs zu beklagen.
Wir sind gespannt.
(Lacht.) Aber ich schaffe es trotzdem nicht! Die Qualifikation kriegt man nicht geschenkt, da muss man doch etwas richtig machen. Nun können wir über Details reden. Ich versetze mich jetzt mal in einen Trainer und würde sagen: Viel schlimmer wäre es, chancenlos zu bleiben. Wenn man sich Chancen erarbeitet, so wie es die Schweiz tut, dann kann man sich über mangelnde Effektivität aufregen und daran arbeiten.
Wie würden Sie das tun?
Ich erwarte einen Weckruf. Trainer Murat Yakin muss es hinkriegen, dass sein Team auch in der 80., 85. und 90. Minute noch hellwach ist. Wenn das nicht gelingt, muss er sich auch Kritik gefallen lassen. Aber bitte nicht diese Fundamentalkritik, denn Yakin hat die Schweiz an die EM geführt.
Was muss Murat Yakin tun?
Es ist eine Mentalitätsfrage, womöglich auch ein bisschen Sattheit. Da muss der Trainer eingreifen. In den Köpfen von Fussballspielern gehen manchmal merkwürdige Dinge vor. Es könnte sein, dass sich nach 60 Minuten verrückte Gedanken einschleichen und sie denken: Jetzt müssten wir doch schlechter werden. Oder nach 80 Minuten: Hey, normalerweise kriegen wir jetzt ein Gegentor. Yakin muss jetzt einen Schlussstrich ziehen und einen Neuanfang machen.
Wie macht er das am besten?
Das ist das Geheimnis des Fussballs.
Läufts schief, muss meistens der Trainer über die Klinge springen …
Das ist aber nicht immer das Allheilrezept. Solange eine Mannschaft dem Trainer vertraut, ist es gut. In dem Moment, da sie ihm nicht mehr zuhört, ist es vorbei.
Der 73-jährige Schweizer ist Experte bei Blue Sport und Bild-TV in Berlin, wo er den Podcast «Reif ist live» betreibt. In seiner Karriere hat er über 1500 Fussballspiele kommentiert. Reif ist in dritter Ehe mit der Medizinprofessorin Marion Kiechle verheiratet. Er hat drei erwachsene Söhne und wohnt in München.
Sehen Sie genügend Leadership auf dem Platz und an der Seitenlinie?
Sobald die Genügsamkeit vorherrscht, ein Unentschieden reiche, dann muss Captain Granit Xhaka vorangehen. Er darf sich dann nicht mit sich selber beschäftigen und damit, auf welcher Position er spielt. Er muss sagen: Mein Name ist Granit Xhaka, und so wie ich Bayer Leverkusen führe, so mache ich das auch hier. Beim Verhältnis zwischen Yakin und Xhaka ist sicher manches unglücklich gelaufen. Wenn eine Trainingswoche mal nicht gut läuft, möchte ich von einem Xhaka, dass er das mit seinen Mitspielern bespricht. Wenn es ihm nicht passt, soll er zum Trainer gehen, aber nicht öffentlich Kritik üben. Das macht man intern.
Manuel Akanji und Granit Xhaka zeigen bei Manchester City und Bayer Leverkusen überragende Leistungen, in der Nati oft nicht. Warum?
Vereinsmannschaften sind eingespielter. Granit Xhaka ist für das Schweizer Nationalteam unverzichtbar.
Aber für die WM 2022 qualifizierte sich das Team auch ohne ihn und überzeugte vollauf.
Diese Diskussionen, ob es ohne ihn vielleicht besser liefe, nenne ich Grössenwahnsinn. Xhaka läuft in Deutschland mit dem Label «Königstransfer von Bayer Leverkusen» herum. Und Leverkusen ist Tabellenführer der Bundesliga! Das hat viel mit Xhaka zu tun. Er ist ein Weltklassespieler. Manuel Akanji gehört unter Coach Pep Guardiola zu den Stammspielern. Und der stellt beim besten Klub der Welt nur die Besten auf. Aber klar: Mit Spielern wie Akanji und Xhaka muss der Trainer so umgehen, dass sie ihre beste Leistung abrufen. Ein Trainer muss aus dem, was da ist, das Beste herausholen.
Wie kommt ein Coach aus der Situation heraus, wenn die Medien seinen Kopf fordern?
Wer jetzt den Kopf von Murat Yakin fordert, der muss mir das erklären. Was genau steckt dahinter? Hat er die Mannschaft an die Wand gefahren? Die Schweiz hat sich unter Yakin für die EM qualifiziert. Wo ist das Problem? Allerdings weiss ich nicht, ob er mit gewissen Medien ein Problem hat – oder sie mit ihm. Dafür bin ich zu weit weg.
«Murat Yakin muss es hinkriegen, dass sein Team auch in der 80., 85. und 90. Minute noch hellwach ist»
Marcel Reif
Was sollte der Verband tun?
Der Verband muss eine klare Position haben. Ich finde, Pierluigi Tami, Direktor des Nationalteams, macht das gut. Er will im Dezember gemeinsam mit Murat Yakin in aller Ruhe die Qualifikationsphase analysieren und schauen, wohin die Reise geht.
Wann ist der Zeitpunkt für einen Neubeginn bei Spielern und Trainer? Was ist mit Lucien Favre oder Urs Fischer?
Im Profifussball gehen immer mal Karrieren zu Ende. Da ist es wichtig, dass abtretende Spieler anständig verabschiedet werden. Lucien Favre und Urs Fischer sind international erfolgreiche Trainer, die im Moment frei sind. Für jeden Trainer, der im Amt ist, sind Trainer, die virtuell auf der Tribüne sitzen, immer eine Alternative. Das ist in Ordnung so. Sport ist Konkurrenz. Ich will Erster sein, der andere ist halt Zweiter. Im Moment ist Murat Yakin Erster.
Was fasziniert Sie am Fussball?
Ich beschäftige mich heute mit Fuss-ball genauso infantil wie als vierjähriger Bub, als ich mit meinem Vater in Warschau meinen ersten Match sah. Fussball hat mein ganzes Leben bestimmt, mich zu dem gemacht, was ich bin. Alles, was ich habe, habe ich dem Fussball zu verdanken. Mit 73 kann ich jede Woche mindestens zweimal ein kleiner Bub sein. Das ist die Faszination Fussball.
Wieso sind Sie Schweizer geworden?
Ich habe 1997 eine Schweizerin geheiratet und mit ihr zwei Söhne. Den deutschen Pass habe ich abgegeben. Ich bin nicht James Bond, der mehr als einen Pass braucht.