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Todesdrama um Gemeindepräsient von Lauterbrunnen

«Als ob die Trauer in der Luft hängenbleibt»

Von der eigenen Frau tödlich verletzt! Die Menschen in Lauterbrunnen trauern um Gemeindepräsident Martin Stäger. Die heimische Journalistin Lia Näpflin beschreibt, was der gewaltsame Tod von «Tinel» mit dem Tal macht.

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Photo taken in Lauterbrunnen, Switzerland

Die Idylle trügt: Das Lauterbrunnental im Berner Oberland wird immer wieder vom Tod heimgesucht.

Getty Images/EyeEm

Ein Bach wie aus Kristall, Kälber grasen auf den Kräuterwiesen, die Berge stechen weiss aus den Alpen. Glockengebimmel, Wasserrauschen, Seelenfrieden: Das Lauterbrunnental ist wie aus dem Heimatfilm in die Wirklichkeit kopiert. Sechs Dörfer, eine Gemeinde; hier leben 2566 Menschen. In dieser Idylle gehört der Tod fast schon zum Alltag.

Die steilen Felswände ziehen Basejumper aus aller Welt an, die umringenden Gipfel Bergsteigerinnen. Eine spektakuläre Landschaft, aus der einige nie mehr zurückkommen. Da ist das Aufschrecken bei Nacht, wenn du den Helikopter hörst und die Scheinwerfer durch die Vorhänge blitzen. Das Zusammenzucken am Tag, wenn du liest, dass der Fallschirm zu spät oder gar nicht aufging. Mit solchen Todesfällen haben wir gelernt zu leben. Aber in diesem Fall ist alles anders.

«Ich wusste nicht, was ich denken soll»

18. August. Es klingelt. Christian Wyss greift nach seinem Smartphone. Am Telefon die Kantonspolizei Bern. Wenn in Lauterbrunnen jemand ums Leben kommt, erfährt der Sicherheitsvorsitzende der Gemeinde oft als Erster davon. Diesmal erst recht. Denn beim verstorbenen Mann handelt es sich um Martin Stäger. Unseren Gemeindepräsidenten. Die mutmassliche Täterin, seine Ehefrau, sitzt in Untersuchungshaft. Wyss legt auf, setzt sich hin. «Ich wusste nicht, was ich denken soll.» Plötzlich ist es nicht eine unbekannte Person, die beim Sport in der Natur ums Leben kam. Nein. Es ist unser Freund. Es ist Martin. Martin ist tot.

Christian Wyss greift wieder zum Telefon und versucht den Vizepräsidenten Karl Näpflin zu erreichen. Erst nach mehreren Versuchen kommt er durch. «Kari, es ist etwas passiert.» Wyss erzählt, für eine Weile bleibt es still in der Leitung. Näpflin übernimmt ab jetzt die Aufgaben des Gemeindepräsidenten. Die beiden besprechen das weitere Vorgehen für die Gemeinde. Und verdrängen ihre Gefühle als Freunde. Kurz darauf verschickt die Kantonspolizei die Medienmitteilung zum Ereignis.

So erfahre auch ich davon. Ich rufe meinen Vater Karl Näpflin an: «Alles okay, Dädi?»

Martin Stäger Lauterbrunnen

Gattin ist geständig: Martin Stäger, SVP-Mitglied und Gemeindepräsident von Lauterbrunnen, wurde am 17. August mit einem Messer tödlich verletzt.

Jungfrauzeitung

«Martin Stäger wurde im Herbst 2014 zum Gemeindepräsidenten von Lauterbrunnen gewählt, 2019 wiedergewählt. Schon sein Vater, Fritz Stäger-Schönbächler, hatte das Amt inne. Das habe ihn auch motiviert zu kandidieren, erzählte Stäger einst der «Berner Zeitung». Viele Bürgerinnen und Bürger hätten ihm gesagt: «Dr Ätti hed das gued gmacht, u das chaischt du oo.» Wir erinnern uns an all die Reden, die er bei Anlässen gehalten hat. Stets sachlich, in vollem Dialekt. Er liess sich Zeit. Martin Stäger, ein richtiger Pragmatiker, der immer einen Spruch auf Lager hatte. «Tinel isch halt eifach Tinel», sagt Christian Wyss und schmunzelt.

Wo Martin war, war auch ein Häufchen Asche zu finden. Die kurzen Stumpen, man könnte sie als sein Markenzeichen beschreiben. Ein geselliger Mensch, der sich nach Sitzungen mit seinen Kollegen auch gern an den Stammtisch reihte. Immer ein Ohr für alle hatte. Diskutierte, erzählte, zuhörte und witzelte, bis manchmal nur noch zwei übrig waren. Er und Karl Näpflin. Tinel und Kari.

«Wie geht es jetzt weiter?»

«Es tut mir sehr weh, das sagen zu müssen, aber wir müssen weitermachen», sagt Karl Näpflin. Im Gemeindehaus von Lauterbrunnen fliessen die Tränen. Hier ist Martin ein und aus gegangen. Trotzdem wird gearbeitet. Sämtliche Mitarbeitende der Gemeinde sowie Politiker und Politikerinnen der Region Oberland Ost werden informiert. Die Behörden bieten Unterstützung, dass niemand vergessen geht.

Alle 20 Minuten klingelt das Telefon. Innert einer Stunde rufen von einer Tageszeitung sogar drei verschiedene Journalisteninnen und Journalisten an. Näpflin erzählt von der Trauer und verweist für weitere Fragen an die Kantonspolizei. Doch die Medien lassen nicht locker, fragen nach persönlichen Anekdoten. Näpflin schweigt. Es ist Freitag, die Meldung von Martins Tod keine 48 Stunden her. Er bietet an, dass er ab Montag gern Geschichten zu Martin erzählt. Seither hat sich bei ihm kein Medium mehr gemeldet.

Das Lauterbrunnental ist in Trauer, die Stammtischrunden sind ruhiger als sonst. Alle haben davon gehört, aber niemand kann es richtig aussprechen. Alle sind betroffen, aber niemand weiss, wem man die Betroffenheit mitteilen soll. Nachrichten erreichen den Gemeinderat: Viel Kraft und Mut wird darin gewünscht. Gleichzeitig fragen die Leute: Wie geht es denn jetzt weiter? «Wir arbeiten zusammen, damit die Geschäfte der Gemeinde laufen», sagt Näpflin.

«Insgesamt sind es 22 Sitze, wo Martin jetzt fehlt»

Die Regionalkonferenz hat eine Stimme weniger. Im Stiftungsrat des Unesco-Welterbes ist ein Stuhl frei, und der Skiclub Lauterbrunnen verliert einen langjährigen Präsidenten. Insgesamt sind es 22 Sitze, wo Martin jetzt fehlt. Die Emotionen vermischen sich mit ganz viel Bürokratie. Gedanken und Gefühle verheddern sich. Es ist, als ob die Trauer in der Luft hängen bleibt. Der Vorfall, so wie die Polizei ihn beschreibt, ist tieftragisch.

Hintergründe, Vermutungen und Gerüchte machen die Runde durch alle sechs Dörfer. Ein Treppensturz? Eine Vergiftung? Darüber zu sprechen, das gehört dazu in einer so kleinen Gemeinde wie Lauterbrunnen – schön, wenn es mit Güte getan wird. Wir kennen beide Betroffenen. Die einen besser, die anderen weniger. Doch manche Dinge sind so privat, dass ich mir selbst die Gedanken darüber verbiete. Geschweige denn, darüber öffentlich zu schreiben.

Was bleibt sind Erinnerungen

Am Dienstag, rund eine Woche nach dem Vorfall, folgt die nächste Mitteilung der Kantonspolizei. Die Ehefrau ist geständig, Martin Stäger bei einer Auseinandersetzung tödlich verletzt zu haben. Die Untersuchungen des Instituts für Rechtsmedizin der Universität Bern haben ergeben, dass Stichverletzungen mit einem Messer zum Tod geführt haben. Sie befindet sich in Untersuchungshaft. Die Ermittlungen dauern weiter an.

Was bleibt, sind die Erinnerungen an gemeinsame Momente. Begegnungen mit Martin. Überall, im ganzen Tal. Martin hier. Martin dort. Martin, wie er seinen Kopf nach vorne neigt, über die Brille schaut und lacht. Martin, wie er nach seiner Wahl zum Gemeindepräsidenten sagt: «Ich will das Zusammengehörigkeitsgefühl in der Gemeinde wieder stärken.»

Text: Lia Näpflin am 27. August 2022 - 12:03 Uhr