Grossalarm! 20. Januar 2011, 12.42 Uhr in Bönningstedt nahe Hamburg (De): Eine riesige Industriehalle steht in Vollbrand, die schwarze Rauchsäule ist kilometerweit zu sehen. Wegen akuter Einsturzgefahr dürfen die aufgebotenen 275 Feuerwehrleute die Halle nicht betreten. Alles wird ein Raub der Flammen. Auch eine eingestellte private Autosammlung mit unzähligen raren Oldtimern, darunter ein originaler Werks-Audi, ein Rallye-Quattro von unschätzbarem Wert.
Ein begeisterter Audi-Sammler aus Österreich (der anonym bleiben möchte) erfährt vom Unglück – und bekundet Interesse an den verkohlten Überresten des Audi. Der Quattro-Liebhaber will das zur Unkenntlichkeit zerschmolzene Motorsport-Relikt auferstehen lassen. Drei Jahre nach dem Brand erhält er im Februar 2014 den Zuschlag für die verkohlten Reste. Sieben Monate später wird dem Neueigentümer der Haufen Schrott nach Hause geliefert – per Gabelstapler.
Inzwischen hatte der neue Besitzer recherchiert. Galt bislang der R6 von «Audi Tradition» (Audis offizielle Young-&-Oldtimer-Tochter) als
ältester Rallye-Quattro weltweit, gehörten die verkohlten Überreste mit dem noch identifizierbaren Ingolstädter Kennzeichen IN–NJ 40 zur noch früher gebauten Nummer 3, dem sogenannten R3. Zudem hatte der österreichische Sammler zu seiner Überraschung aufgrund der eigenwilligen Fahrgestellnummer (VR10029) herausgefunden, dass es sich bei seinem Fahrzeug offenbar um den allerersten Quattro-Prototyp mit Urquattro-Karosserie handeln muss.
Also den Urahn aller Audi Quattro, der erst die interne Versuchsnummer A3 trug und später zum R3 mutierte. Dieses Geheimnis war selbst dem langjährigen Vorbesitzer nicht bekannt. Und nach eingehender Prüfung aller Archivunterlagen bestätigte «Audi Tradition» dem Neubesitzer: ja, es ist das ehemalige Fahrzeug von Audi Sport.
Ein Rückblick in die 1970er-Jahre: Jörg Bensinger, Chef der Ingolstädter Fahrwerksentwicklung, verkündete im Audi-Entwicklungszentrum seinen Ingenieurskollegen, dass er mit einem leistungsschwachen VW Iltis in Nordfinnland dank Allradantrieb alle anderen Fahrer in ihren leistungsstärkeren Audi-Testwagen alt aussehen liess. Mit seiner Erkenntnis – «So was müsste man als starken Sportwagen haben» – gewann er Walter Treser, damals Leiter der Vorentwicklung, für seine Idee. Die beiden meldeten ihr Projekt ihrem Vorgesetzten Ferdinand Piëch (dem späteren VW-Konzern-Patriarchen) und stiessen sofort auf offene Ohren. Schliesslich hatte sich schon Piëchs Grossvater Ferdinand Porsche mit Allradantrieb beschäftigt.
Folglich begann im Februar 1977 die Arbeit am Projekt «Allrad». Bereits im November stand mit dem Prototyp A1 (für «Allrad 1») ein zweitüriger, alter Audi 80 auf vier angetriebenen Rädern. Wenig später folgte A2, nun bereits auf Basis des neuen Audi 80. Und der ebenfalls handgeschmiedete Prototyp A3 hatte schon die neue, 1978 von Audi Chefdesigner Hartmut Warkuss geschaffene Coupé-Form. Erbarmungslos prügelte der junge Rallyefahrer Harald Demuth im Auftrag von Audi den A3 mit den 200 Turbo-PS durch Kiesgruben rund um Ingolstadt. Man testete, was das Zeug hielt – immer mit dem Ziel, ein neues Kapitel im Automobilbau zu schreiben. 1980 baute die Spezialfirma Matter (welche Rallyeautos für Audi aufbaute) den A3 zum R3 – mit R wie «Rallye». Und wieder wurde getestet, was das Material hergab. Nun mit dem alleinigen Ziel, das Rallye-Auto der Zukunft schlechthin zu bauen. Werksfahrer Hannu Mikkola testete den Prototyp im Geheimen und war begeistert: «Ich spürte, dass das Auto gut war – wirklich gut.» Zur Freude seines Teamchefs Piëch prognostizierte Mikkola allen, die es hören wollten: «Wer künftig gewinnen will, muss Quattro fahren.»
1981 hatte der Quattro bei der Korsika-Rallye seinen einzigen WM-Einsatz. Der Finne Mikkola pilotierte den IN–NJ 40 mit seinem schwedischen Beifahrer Arne Hertz. Der Druck und die Erfolgserwartungen von Ferdinand Piëch aufs gesamte Team waren gewaltig: Audi sollte beweisen, dass der Quattro nicht nur auf Schnee und Schotter, sondern auch auf Asphalt schnell ist. Dafür bauten die Audi-Sport-Mechaniker die Wettbewerbsfahrzeuge komplett um. Es gab rundum neue Spoiler, ein frisches Fahrwerk mit unglaublich breiten Zehn-Zoll-Felgen und eine noch stärkere Evolutionsstufe des Turbomotors. Doch der Erfolg in Korsika blieb aus. Mikkolas Motor brachte vom Start weg nicht die volle Leistung von 330 PS. Abgeschmolzene Kolbenböden führten schliesslich zu einem kapitalen Motorschaden. Michèle Mouton im zweiten Werks-Quattro war vom Start weg viel schneller als der Finne, fiel später aber auch mit einem Motorschaden aus. Erstaunlicherweise war Piëch dennoch zufrieden. Für ihn bewies der Quattro sein Potenzial. Und Piëch sollte Recht behalten: Schon bald revolutionierten die Quattro mit vielen Erfolgen den Rallyesport.
Der R3 blieb weiter Liebling der Techniker und Fahrer. Er diente trotz seines fortgeschrittenen Alters noch lange als Testfahrzeug. Erst Anfang 1985 wurde er nach 106 000 (!) Kilometern ausgemustert und am 8. April 1986 von Audi Sport verkauft. An jenen Sammler, der den R3 in Bönningstedt in einer Industriehalle unterbrachte. Womit wir wieder am Ausgangspunkt unserer Geschichte wären.
Der österreichische Neubesitzer lässt die verkohlten R3-Überreste im Oktober 2016 nach Inwil LU zum renommierten Schweizer Audi-Quattro-Spezialisten Daniel Bachmann (Autowelt Bachmann) transportieren. Er soll das Unmögliche möglich machen und aus den wenigen Überresten wieder ein Originalfahrzeug aufbauen. Bachmann und sein junger Mechaniker Kevin Frey nehmen die Herausforderung an. Marcel Vettor baut die originale Rohkarosse, die den Brand überraschend gut überstanden hatte, in präziser Detailarbeit von Hand neu auf und bringt sie in ihre ursprüngliche Form.
Gemeinsam mit dem früheren Audi-Sportchef Walter Treser, dem damaligen Testpiloten Harald Demuth und dem langjährigen Audi-Team-Mechaniker Peter Franz sucht Bachmann an der Rohkarosse nach all den Veränderungen und Verbesserungen aus jener Zeit. «Das war fast wie archäologisches Forschen mit Pinsel und Schaber», erinnert sich Bachmann. Auf den Resten des Matter-Überrollkäfigs findet der Luzerner die eingeschlagene Matter-Nummer R3 – ein weiterer Mosaikstein zur Rekonstruktion und Beleg der Fahrzeuggeschichte. In der Folge wird über Jahre mit akribischer Arbeit und unglaublichem Aufwand der älteste Urahn aller Quattro neu geboren.
«Wir haben die originalen Einzelteile bei über 20 Kollegen in elf Ländern zusammengesucht», erzählt Bachmann. «Doch beim Getriebe hätten wir fast aufgegeben.» Schliesslich wird der Luzerner Quattro-Flüsterer doch noch fündig – und tauscht die raren Getriebeteile gegen einen originalen Frontspoiler und Kotflügelverbreiterungen eines Gruppe-4-Rallye-Quattro von 1981 ein. Selbstverständlich müssen diverse Teile neu angefertigt werden. Wie immer bei solchen Rekonstruktionen werden Fotos zu wichtigen Zeitzeugen. Das grosse Rallye-Bildarchiv von Sportfotograf Reinhard Klein hilft nicht nur bei Lackierung und Beklebung als Vorlage, sondern auch beim Nachbau der Instrumententafel. Bei den Sitzen dienen die massgefertigten Originalsitze von Michèle Mouton aus dem R31 als Muster. Die Sitzschalen für den R3 werden neu gegossen und anschliessend mit dem Originalstoff bezogen. Und weil der originale Motor unter der Hitze des Brandes geschmolzen war, muss er komplett ersetzt werden. Hier hilft Heinz Lehmann, Motorenpapst aus Liechtenstein, weiter: Er baute schon damals die Rennmotoren für Audi Sport. All seine Erfahrung fliesst nun in den Neuaufbau des Rennmotors ein. Ebenfalls mit dem Ziel, möglichst nah ans Original zu kommen – also auch mit der kapriziösen Pierburg-Einspritzanlage.
Gross ist die Freude aller Beteiligten, als zum Schluss per Post noch ein unscheinbares Paket mit der originalen Teilnehmer-Tafel der Korsika-Rallye von 1981, die IN–NJ 40 auf der Motorhaube trug, eintrifft. «Unglaublich», freuen sich Daniel Bachmann und der Besitzer, «nach knapp 40 Jahren findet die Blechtafel zu ihrem Auto zurück.» Noch grösser ist die Freude, als im Juni 2020 – knapp vier Jahre nach dem Startschuss zum Wiederaufbau – der Urahn aller Quattro wieder zum Besitzer nach Österreich zurückkehrt. Nicht als ein Haufen Schrott auf dem Gabelstapler, sondern stolz auf den eigenen vier Rädern.