«Wie viele Schafe braucht man, um einen Pulli zu stricken? Gar keines. Schafe können doch nicht stricken!» Wer eine Reise nach Wales plant, muss eines wissen: An Schafen (und den entsprechenden Witzen) ist hier wortwörtlich kein Vorbeikommen. Die Chance, dass man auf dem 290 Kilometer langen Coastal Way entlang der Westküste des Landes wegen eines Wolltiers bremsen muss, ist hoch. Genau genommen ist es dreimal wahrscheinlicher, einem blökenden Paarhufer als einem einheimischen Menschen zu begegnen: Drei Millionen Einwohner stehen hier neun Millionen Schafen gegenüber. «Das Klischee, dass es in Wales nur Regen und Schafe gibt, stimmt trotzdem nicht», sagt Kerry Walker bestimmt.
Die Engländerin ist vor einigen Jahren von der Londoner Peripherie mitten ins walisische Nirgendwo gezogen. Hauptsächlich der Natur wegen. «Hier findet man eine so breite Palette an unterschiedlichen Landschaften – und die meisten davon sind erstaunlich unbekannt. Das ist der grösste Vorteil gegenüber Irland oder Schottland», findet sie und streicht sich eine blonde Strähne aus dem Gesicht, als wir mit der «Dale Princess» Richtung Skomer Island übersetzen. Streng genommen liegt das unberührte Naturparadies nicht am Coastal Way, aber es ist nur einen Katzensprung vom Startort St. Davids (mit 1800 Seelen so nebenbei die kleinste Stadt Grossbritanniens) entfernt. Und so können wir gleich zu Beginn der Reise etwas typisch Walisisches praktizieren: Igam-Ogam. «Wortwörtlich übersetzt heisst es, im Zickzack zu laufen. Fasst man den Begriff etwas weiter, beschreibt er das Abweichen von der geplanten Route, was man in Wales früher oder später sowieso muss», erklärt Kerry. Für «Lonely Planet» schreibt die erfahrene Reisejournalistin über die versteckte Perlen von Wales.
Wer sich nicht warm genug anzieht, sitzt den Regenguss halt mit ein paar Bieren im Pub aus
Skomer ist ehrlicherweise kein Geheimtipp. Die Insel zählt zu den wichtigsten Naturschutzgebieten Grossbritanniens. Um eines der streng auf 250 pro Tag limitierten Tickets zu ergattern, muss man früh vor der Lockley Lodge in Martin’s Haven anstehen. Wer zuerst kommt, zahlt zuerst. Und es lohnt sich – nur schon der Puffins wegen! Die Felsen, die wie der Rücken eines ruhenden Drachen aus dem türkisblauen Wasser aufragen, sind Heimat der grössten Papageientaucher-Population des Landes: 10 000 Brutpaare bevölkern die insgesamt drei Quadratkilometer in den Sommermonaten – und bestimmen dementsprechend die Geräuschkulisse. Kein Schnattern, kein Pfeifen: Der tiefe Ruf der Papageientaucher klingt eher wie die Mischung aus einem gedämpften Muhen und einer knarrenden Tür. Dass die drolligen Vögel gerne als «Clowns der Meere» bezeichnet werden, liegt wohl nicht nur an ihrem auffällig bunten Schnabel, sondern auch an der speziellen Flug- und Landetechnik, die nicht selten mit einem Bauchplumpser im Wasser endet.
Man könnte dem flapsigen Federvieh noch stundenlang zuschauen – wenn da nicht bedrohlich dunkle Wolken am Horizont aufziehen würden. «Bereitet euch für sämtliche Eventualitäten vor. Tragt wasserfeste Kleidung und Schuhe, bringt vielleicht sogar Gummistiefel mit», hatte Kerry uns schon vorab gewarnt. Aber sie hatte auch etwas anderes gesagt: «Wenn alle Stricke reissen, suchen wir uns ein mittelalterliches Gasthaus und sitzen den Regenguss mit ein paar lokalen Bieren aus.» Deal! Also schnappen wir uns schleunigst einen Platz auf dem Boot. Nächster Stopp: Solva! Von der warmen Stube des «Harbour Inn» blicken wir auf die heftig schaukelnden Boote im Hafen und lassen den Sturm vorbeiziehen.
«Hier findet man eine so breite Palette an unterschiedlichen Landschaften – und die meisten davon sind unbekannt.»
Das vielleicht wichtigste Wort für einen Roadtrip durch Wales ist «araf» – langsam
Am nächsten Morgen zeigt sich das walisische Wetter von seiner freundlichsten Seite. Zum Glück, denn heute steht ein Bad
in der Blue Lagoon nahe Abereiddy an! Vor der Abfahrt gibt uns Kerry neben einer Liste mit Reisetipps eine weitere wichtige Vokabel in der ursprünglichen Landessprache mit auf den Weg: «araf». Das vielleicht nützlichste Wort für einen Roadtrip in Wales: «Ihr werdet es auf den Strassen sehen. Es bedeutet ‹langsam› – und dieser Hinweis ist ernst zu nehmen.» Schliess-lich ist die Sicht auf den einspurigen, mal von Hecken oder Klippen gesäumten Strassen eingeschränkt. «Man muss immer den Gegenverkehr bedenken», sagt sie und meint damit nicht nur Autos, sondern auch Schafe. «Diolch yn fawr – vielen Dank», liebe Kerry, wir düsen dann mal los!
Immer schön «araf» bahnen wir uns den Weg entlang der Cardigan Bay. Blaues Meer und Sandstrände zur Linken, grüne Hügel und hoch aufragende Berge zur Rechten. Je weiter nördlich wir vordringen, desto verlassener wirkt die Küste. Nach fast jeder Kurve lockt ein Fotostopp, sodass sich die Strecke bis zum Strumble Head in die Länge zieht und die Wanderung auf der felsigen Landzunge etwas kürzer ausfällt als geplant. Die Aussicht vom Garn Fawr lassen wir uns trotzdem nicht nehmen! Hastig kraxeln wir die letzten Meter zur Spitze des vulkanischen Überbleibsels hoch – und lassen beim Ausschnaufen den Blick über die raue Landschaft im Abendlicht schweifen – wow!
Dem Prinzip Igam-Ogam bleiben wir auch in den nächsten Tagen treu: So legen wir einen spontanen Zwischenstopp in der Wollmühle von Tregwynt (die Kissenüberzüge sind wunderhübsch!) ein, bevor wir Penbryn Beach ansteuern. Kerry empfiehlt nach einem Spaziergang am knapp zwei Kilometer langen Traumstrand einen Besuch im «Plwmp Tart». In bester «Farm to Fork»-Manier wird hier nur aufgetischt, was aus der Region kommt und Saison hat. Unser Tipp: genug Platz lassen für das Zvieri – ein hausgemachtes Honig-Glace im «The Hive» in Aberaeron etwas weiter die Küste hoch.
«Araf, araf» arbeiten wir die landschaftlichen Highlights ab, die sich am Coastal Way aufreihen wie Perlen auf einer Schnur. In der versteckten Bucht von Mwnt warten wir, ohne einmal auf die Uhr zu gucken, auf den Besuch von ein paar Tümmlern. Wir wandeln zwischen den grasbewachsenen Ynyslas Dunes und vergessen die Zeit beim Muschelnsuchen. Vom 304 Meter kleinen Mynydd Rhiw erhaschen wir einen Blick auf die Gipfel im Snowdonia-Nationalpark, um die wir ganz stressfrei einen Bogen gemacht haben. Am Ende muss jeder in seinem Tempo den eigenen Weg entlang der Küste finden. Igam-Ogam eben. Und irgendwann hört man auch auf, Schafe zu zählen. Versprochen!
«Am Ende muss jeder seinen eigenen Weg entlang der Küste finden.»
ÜBERNACHTEN Fforest Farm Darf es ein gemütliches Loft, eine pyramidenförmige Hütte oder vielleicht doch lieber ein Dom-Zelt mit eigenem Ofen und Badehaus sein? Auf dem riesigen Gelände am Ufer des Fluss Teifi ist fast alles möglich, www.coldatnight.co.uk
ESSEN Plas Bodegroes Lokales Essen auf Sterne-Niveau. Wer mit vollem Ma-gen nicht mehr heimfahren mag, kann im romantischen Cottage auch die Nacht verbringen, www.bodegroes.co.uk
Café Môr Nicht direkt am Coastal Way, aber entweder davor oder danach einen Abstecher wert. Im zum Food-Truck um-gebauten Fischerboot am Strand Freshwater West werden die feinsten Algen-Burger gebrutzelt, beachfood.co.uk
The Hive Hausgemachtes Glace mit Honig aus der Region. Wir empfehlen Vanille, www.thehiveaberaeron.com
INSPIRIEREN Undiscovered Wales Unsere Reiseleiterin Kerry Walker ist nicht nur Co-Autorin des «Lonely Planet»-Führers für Wales. Sie hat auch einen eigenen Blog, wo sie ihre ganz persönlichen Geheimtipps verrät, www.undiscovered-wales.co.uk