Das Kusenbad in Küsnacht ist Roland Thomanns Lieblingsort am Zürichsee. Nicht weit davon entfernt, etwas den Hügel rauf, wohnt er mit seiner Familie. Zum Interview sitzen wir am langen alten Holztisch in der Wohnküche. Es riecht dezent nach frischer Farbe, die Familie ist erst kürzlich eingezogen. Roland Thomann, 45, pendelt zwischen Zürich und Genf, wo sich der Hauptsitz der Glückskette befindet. Im Januar hat er als neuer Direktor der Stiftung angefangen. Mit einem Blitzstart. Denn kurz später befindet sich die Schweiz im Lockdown, und die Glückskette startet eine
der grössten Sammelaktionen ihrer Geschichte.
GRUEN: Roland Thomann, wenn die Glückskette zum Spenden aufruft, geht es meisten um Naturkatastrophen. Passte eine Pandemie überhaupt ins Konzept?
Wir mussten tatsächlich erst abwägen, ob eine Sammlung angebracht war – und waren unsicher, ob überhaupt Gelder zusammenkommen würden. Hinzu kam die erschwerte Organisation: Wir sassen alle im Homeoffice. Auch die traditionelle Telefonzentrale konnten wir nicht einrichten. Ein grosser Teil unserer Freiwilligen, die sonst die Anrufe entgegennehmen, sind Pensionäre. Die Spenden gingen dann vor allem digital ein.
Und dies sehr zahlreich. Die Glückskette erreichte eines ihrer besten Resultate: Seit dem 23. März wurden über 40 Millionen gespendet. Gibt es Regeln, wann Menschen besonders grösszügig sind?
Wichtig ist, dass die Spender eine Verbindung und Nähe zum Thema aufbauen können. Das war zum Beispiel beim Tsunami so, der Gebiete betraf, wo viele schon mal in den Ferien waren. Bei Naturkatastrophen weiss dazu jeder, das könnte theoretisch auch mir passieren. Entscheidend
ist auch das Ausmass einer Katastrophe und welche Präsenz sie in den Medien erhält.
Gab es bei der Pandemie zusätzliche, ganz spezifische Gründe?
Ja. Alle waren betroffen, man musste zu Hause arbeiten, konnte Eltern oder Gross-eltern nicht mehr besuchen, musste sich einschränken. Trotzdem fanden viele Leute: Okay, es ist zwar schlimm, aber mir geht es gut. Sie haben aus Dankbarkeit gespendet. Viele verspüren beim Spen-den eine Befriedigung und fühlen sich danach besser.
Die Glückskette erfüllt eine Ventilfunktion gegenüber der Gesellschaft: Über uns kann man Solidarität und Betroffenheit einfach ausdrücken. Viele Leute hat es zum Beispiel extrem beschäftigt, dass Menschen in der Schweiz für Lebensmittelhilfe anstehen mussten. Dass es bei uns eine Schicht von Working Poor gibt. Menschen, die viel arbeiten, sich mit unsicheren Jobs durchschlagen und dann durch die Pandemie vor dem Nichts standen.
«Viele verspüren beim Spenden eine Befriedigung und fühlen sich danach besser.»
Was passiert nun mit den 40 Millionen Franken?
Sie gehen an 104 Schweizer Organisationen, die sich um die Umsetzung kümmern. Ein Teil wurde für Soforthilfe aufgewendet, etwa für Menschen, die Ende des Monats kein Geld mehr für Lebensmittel hatten. Der andere Teil ist für Lücken gedacht, die nun erst im Nachgang des Lockdown sichtbar werden: Familien, die in finanzielle Engpässe geraten, ihre Krankenkasse nicht mehr bezahlen können. Je nach Grösse der Familien erhalten sie zwischen 300 und 1000 Franken ausbezahlt.
Haben Sie Geschichten mit Spendern erlebt, die Sie besonders berührt haben?
Eine Geschichte ist von meiner fünfjährigen Tochter: Sie hat ihr Kässeli geleert, einen Einfränkler auf ein Papier geklebt und rundherum ein Bild gemalt. Sie habe im Fernsehen gesehen, dass ich Geld sammle, und fand es wichtig zu spenden. Das hat mich sehr bewegt, ihre Zeichnung hängt nun in meinem Büro in Genf. Sie soll mich daran erinnern, dass jeder Franken zählt. Besonders war auch, dass viele Menschen, die selbst nicht so viel haben, trotzdem 50 Franken gaben. Fast ein Viertel der Gelder erhielten wir von Firmen, das ist eher unüblich. Viele haben ihre Belegschaft zum Spenden motiviert und den Betrag verdoppelt. Diese Solidaritäswelle zu spüren und zu merken, dass die Gemeinschaft zusammensteht, wenn es darauf ankommt, ist ein überwältigendes Gefühl.
Das Wort Solidarität ist mitunter auch ein Gummibegriff. Was verstehen Sie darunter?
Für mich bedeutet Solidarität, dass man ungeachtet der Umstände füreinander einsteht, bei Freundschaften, aber auch in losen Gemeinschaften. Denn wenn es allen gut geht, geht es auch jedem Einzelnen besser. Dabei geht es bei der Solidarität nicht nur um finanzielle Hilfe, sondern
auch um jemanden, der einem zuhört, der einfach da ist.
Im Internet kommentierte jemand: «Die Glückskette ist so altmodisch.» Einen gewissen nostalgischen Touch hat die Organisation. Wie sehen Sie das?
Ja, ja, sicher. Die Glückskette wird im nächsten Jahr 75. Es ist nun an der Zeit, einiges neu zu interpretieren. Das ist die Aufgabe, die ich in den nächsten zwei Jahrzehnten zu lösen habe. Darum hat man mit mir auch einen etwas jüngeren Direktor als üblich gewählt. Der Wandel muss aber mit viel Fingerspitzengefühl geschehen. Die Essenz dieser Organisation, dieser solidarische Reflex in der Gesellschaft, dass man andere Leute nicht im Stich lässt, darf nicht verloren gehen.
Sie arbeiteten früher für Ärzte ohne Grenzen, waren in Ländern wie Swasiland, Niger, Tschad und Kongo im Einsatz. Wie setzen Sie diese Erfahrungen ein?
Sie helfen mir, die Realität der Projekte zu verstehen, die wir finanzieren. Oft startet man mit einer bestimmten Absicht, doch dann ändern sich die Bedürfnisse, und man muss umdenken. Ich bin
offen für eine gewisse Agilität. Zudem möchte ich auf längerfristige, innovative
Hilfsprogramme setzen.
Das Thema Klimawandel hat es zurzeit schwer, aber gerade Naturkatastrophen sind eng damit verbunden. Ist dies ein Schwerpunkt bei der Glückskette?
Der Klimawandel wird enorme Migrationsströme auslösen, für die wir eine gesamtgesellschaftliche Lösung finden müssen. Die Menschen in unseren ausländischen Projekten bekommen die Auswirkungen des Klimawandels als Erste zu spüren und in drastischer Weise. Wir leisten zum Beispiel einen Beitrag, indem nach einem Erdbeben die Infrastruktur ökologischer wiederaufgebaut wird: Solarkollektoren statt Dieselmotoren, langlebige Bauten. Bei der Nothilfe wird darauf geachtet, dass die Produkte nicht in Unmengen Plastik verpackt sind und – ganz wichtig – lokal eingekauft werden. Seifen sollen nicht in China gekauft werden, sondern vor Ort. Auch damit der regionale Seifenhändler nicht auf seiner Ware sitzen bleibt, wenn sie von den ausländischen Helfern gratis abgegeben wird.
«Wenn die wichtigsten materiellen Bedürfnisse erfüllt sind, ist Glück eine Einstellungssache.»
Wann war Ihr letzter Einsatz im Ausland?
Der ist schon länger her! Geplant war, dass ich für die Glückskette schnell ins Feld gehe. Wir wollten Anfang Jahr zum zehnjährigen Jahrestag des Erdbebens nach Haiti, im März wäre ich nach Nepal geflogen, dort war vor fünf Jahren ebenfalls ein starkes Erdbeben. Beide Besuche wurden abgesagt.
«Y’a du bonheur pour tout le monde, das Glück ist für alle da!», mit diesem Lied wurde 1946 die erste Sammelaktion der Glückskette für kriegsversehrte Kinder be-gleitet. Was haben Sie für ein Verhältnis zum Begriff Glück?
Glück ist sehr individuell und ist im Grunde nichts Materielles. Wenn die wichtigsten Bedürfnisse im Leben erfüllt sind, wird Glück nicht mehr von Geld bestimmt, sondern ist eine Einstellungssache.
Ich finde bei der Glückskette spannend, dass man die Spender und ihre Grosszügigkeit zelebrieren darf. Das hat mir bei meinen früheren Jobs im humanitären Bereich gefehlt: diese gewisse Leichtigkeit trotz ernsthaften Themen.