Whitney Houstons «I Wanna Dance With Somebody» klingt aus der Gaststube. Die Gäste sitzen mit tätowierten Armen und bunten Sonnenbrillen unter grossen Sonnenschirmen vor Weisswein und Antipasti. Alain Diacon sitzt auf der Terrasse seines B&B Tremondi und grinst. «Wir ziehen ein etwas urbaneres Publikum an, nicht nur Wanderer.» Es seien meist junge Leute, die ein «gechilltes Wochenende» mit gutem Essen in der Natur verbringen wollen. Es weht ein frischer Wind im 45-Seelen- Ort Quinten, welcher nur per Schiff oder zu Fuss erreichbar ist. Vor zwei Jahren brauchte es einen freien Arbeitstag, sonniges Wetter und eine Prise Heimweh, damit Alain Diacon und sein Partner Johnny, der in Walenstadt aufgewachsen ist, eine Wanderung nach Quinten unternahmen.
Einmal angekommen, verliebte sich Alain Diacon sofort in das St. Galler Dörfchen, das, eingeklemmt zwischen den steilen Hängen der Churfirsten und dem Walensee, ein ruhiges Dasein fristet. «Für mich ist das einer der schönsten Orte der Schweiz. Abgelegen, von Natur umgeben. Und wenn ich mich nach der Grossstadt sehne, bin ich trotzdem schnell in Zürich.» Das Paar sieht auf seiner Wanderung, dass eine Wohnung ausgeschrieben ist, und fragt bei der Stiftung Quinten lebt nach, ob sie diese mieten dürfen. «Wir wollten sie als Ferienwohnung nutzen.» Doch der Verein sucht eine Familie mit Kindern, um wieder mehr Leben nach Quinten zu bringen. «Johnny meinte aus Spass, dass wir das ganze Haus pachten könnten, um ein B&B zu eröffnen.» Gesagt, getan. Das Paar führt zu diesem Zeitpunkt bereits das Restaurant Tremondi an der Zürcher Molkenstrasse.
Selbstgebackenes Brot im Industrial Chic
Alain Diacon, der im «Tremondi» in der Küche steht, lässt sich bei seinen Gerichten von seiner Mutter, die im Tessin gelebt hat, inspirieren. Er tischt am liebsten Ravioli oder Tagliatelle auf. Jeden Monat wechseln sie die überschaubare Karte. Der aktuelle Hit: Ravioli mit Auberginen-Kaviar, Ricotta, Zitronenbutter, Pekannüssen und Basilikum. Alles haus- und handgemacht. «Wir lassen uns nur Rohprodukte über den Walensee liefern.» Auch beim selbst gebackenen Brot verzichten sie auf künstliche Treibmittel. Bäcker Gökhan Yildiz, der auch Geschäftsinhaber des B&B Tremondi ist und mit den Diacons nach Quinten gezogen ist, backt ausschliesslich auf Sauerteigbasis. In der ersten Etage befinden sich die fünf Doppelzimmer, allesamt nach einheimischen Fischen aus dem Walensee benannt. Die Inneneinrichtung – Industrial Chic trifft auf kitschige Lampen – ist ein Werk von Alain, der einst als Interior Designer gearbeitet hat.
In vino veritas
Hanspeter «Hampi» Cadonau ist durch einen «schicksalhaften Zufall» in Quinten gelandet. Als der Tunnelbauer vor zwölf Jahren in seiner Werkstatt in Murg am Arbeiten war, kam eine Frau herein und fragte ihn nach dem Weg nach Quinten. Sie habe einen Bauernhof mit Reben geerbt und müsse diesen nun verkaufen. Die Begegnung endet damit, dass Cadonau den Hof und die Reben übernimmt. «Manchmal muss man seine Chance einfach nutzen», sagt er, in T-Shirt und Hosenträgern gekleidet, während sein Blick über den Walensee wandert. «Einen Ort wie Quinten, mit solch sonnenverwöhnten Hängen, sucht man in der Ostschweiz sonst vergebens.» Er habe sich das Winzern mehr oder weniger selber beigebracht, baut unter anderem Chardonnay und Pinot noir an, der im Schloss Reichenau nach «alter Väter Sitte gekeltert wird». Wer will, kann den Wein bei einer Degustation oder einer geführten Tour durch Cadonaus Reben kosten. Seit einiger Zeit organisiert der gebürtige Bündner unter dem Label Vinicultura Cadonau von Frühling bis Herbst Konzerte und Veranstaltungen auf einer Freiluftbühne inmitten seiner Reben. So hat er schon den deutschen Slam-Poeten Sebastian 23 und Schriftsteller Arno Camenisch an den Walensee geholt, «um wieder kulturelles Leben in das Dorf zu bringen».
Die Sache mit den Kiwis
Das Klima von Quinten sucht in der Ostschweiz seinesgleichen. Dank der geschützten Lage am Walensee, der im Winter nicht gefriert, herrschen im Dorf südländische Wetterverhältnisse. So wächst hier, was sonst in diesen Breitengraden kaum zu finden ist: Palmen, Kiwis, Kakis und jede Menge Feigen. Viele dieser Früchte wachsen im Garten von Margrit Bärlocher, die braun gebrannt und in kurzen Arbeitshosen ihr Kellerlädeli mit neuen Sirupflaschen bestückt. Die 72-Jährige verbrachte als Kind jeden Sommer in Quinten und kam 1983 von Zürich hierher. Seither lebt sie hier mit ihren Kaninchen, Hühnern und Bienen als Selbstversorgerin. Fast dreissig Jahre lang hielt sie auch eine Schar Ziegen, jetzt sind es noch drei Schafe. Mit der Zeit hat Bärlocher damit begonnen, ihre Konfitüren, Chutneys, Weine, Liköre und Hausarzneien wie Ringelblumensalbe und Johannisöl auch zu verkaufen. Vom Frühjahr bis in den Herbst arbeitet die Quintnerin immer sehr viel. «Während der Saison stehe ich oft bis weit nach Mitternacht in der Küche, um meine Ernte zu verarbeiten.» Wenn Besuch kommt, spannt sie diesen gleich ein. So sei eine ihrer sieben Schwestern gerade oben in der Küche am Mörsern von Johannisbeerkraut.Vor allem die Pflege ihres Weinbergs, zu dem sie jeweils mit ihrem Quintner Weidling fährt, braucht viel Zeit. Da er direkt am Wasser liegt, kann sich Bärlocher an heissen Tagen immer wieder mit einem kurzen Bad im Walensee abkühlen. «Danach fühle ich mich wie neugeboren.»
Zwischen Wasser und Bergen
Gute zwei Stunden Fussmarsch von Quinten entfernt liegt der Weiler Betlis, ebenfalls am Nordufer, mit einem lauschigen Badeplatz. Hier ist es ruhiger. Statt tätowierten Gästen aus Zürich sind Familien am Sandstrand anzutreffen. Etwas weiter oben liegt der Landgasthof Paradiesli, der an den benachbarten Bauernbetrieb Bödelihof angeschlossen ist. Im Garten wachsen schon ab Mitte April Salate und Gemüse, die später auf den Tellern der Gäste landen. Ein süsses Highlight: Die Kiwikonfitüre zum Zmorge, welche die Küchencrew selbstverständlich mit Früchten aus dem eigenen Garten herstellt. Nur unten am See zu bleiben, geht in dieser Region aber nicht. Denn innert kürzester Zeit gibt es hier auch Bergluft zu schnuppern. Das Postauto bringt einen in 15 Minuten von Weesen die 500 Höhenmeter hinauf nach Amden. Von dort geht es weiter mit der Sesselbahn Mattstock. Nach einem kurzen Spaziergang steht man vor dem Alpstübli Strichbode. Hier gibt es Kafi mit Schuss, hausgemachten Kuchen und Trottinette, mit denen man nach Amden fahren kann. Vorbei an Alpwiesen, mit Ausblick auf den Walensee und die Glarner Alpen, saust man hinunter und fragt sich, wo man sonst das Rauschen der Wellen so schnell gegen Kuhglockengebimmel tauschen kann.