Auf der Fahrt ins Urner Isenthal fühlt man sich wie in einer Rodelbahn: Die Strassen sind schmal, man hofft, dass niemand entgegenkommt. Ist die Musenalpbahn erreicht, muss man erst telefonieren. Dann kommt das Bähnli, eine offene, klapprige Holzkiste, die an zwei Stahlseilen hängt, angefahren. Oben auf dem Berg wartet Alexandra Moser. Sie hat kurze, graublonde Haare, eine sportliche Figur und trägt Wanderschuhe. Neben ihr ein Hund namens Prinz. Mit Wanderstöcken geht es querfeldein über Felsen, Bach und Wiesen zum «Alpeli», dem Bergbauernhof von Rita und Sepp Herger.
Die Überstunden sinnvoll investieren
«Einfach dem Hund nach», sagt Alexandra. Sie kommt aus Schaffhausen und macht einen freiwilligen Helfereinsatz auf der Alp. Fünf Wochen unterstützt sie die Hergers. Normalerweise leitet Alexandra ein zwölfköpfiges Case-Management-Team im Gesundheitsbereich. Ihre vielen Überstunden wollte sie sinnvoll investieren: «Deshalb habe ich im März via Caritas meinen Sommer auf der Alp gebucht.» Damals schreibt ihr Rita: «Ruf mich drei Tage vor Ankunft an.» Einfach, knapp, unkompliziert. Ein Vorgeschmack auf das Älplerleben.
Alexandra beschliesst, aus dem Freiwilligendienst eine Digital Detox zu machen. Sie will ohne Laptop, ohne Smartphone anreisen und lediglich ein Prepaid-Handy mitnehmen, um einmal wöchentlich ihrem Partner und den Freundinnen zu schreiben. Alexandra und Rita telefonieren am 28. Mai zum ersten Mal, drei Tage später ist die Managerin in Isenthal.
Das «Alpeli» besteht aus drei Holzhäusern: Wohnhaus, Stall und Käserei. «Dieses klapprige De-luxe-Fenster? Die Dusche», zwinkert Alexandra und zeigt auf die «Käsi». Dank einem Boiler gibt es dort warmes Wasser, im Wohnhaus muss es auf dem Herd erhitzt werden. Wie jeden Morgen ist Rita am Käsen. «Machst du bitte die Tür zu?» Alexandra folgt. Es soll kein kalter Wind durch die Hütte wehen. Rita packt die geronnene Ziegenmilch, schleppt sie mit einem Netz auf einen Tisch. Dann zerschneidet sie diesen Milchklumpen, die Gallerte, in Stücke und verteilt sie in runde Behälter. Diese werden in eine Kiste gestellt, zusammen mit Kesseln, die mit heissem Wasser gefüllt wurden – und dann eifrig zugedeckt. Der Käse braucht Wärme.
Das Handy fiel in die Gülle
Alexandra macht die Tür wieder auf. Bereits drei Wochen ist sie jetzt auf der Alp – und kennt den Alltag der Hergers. Rita macht Käse und den Haushalt, Sepp sorgt fürs Vieh und die Landschaftspflege. Geschätzte 24 Hektaren bewirtschaftet das Ehepaar. Je nachdem, wie lange der Schnee im Frühling anhält, sind sie etwa 100 Tage auf der Alp. Zusammen mit 35 Ziegen, 13 Kühen und 16 Rindern. Neben der Käserei ist gleich der Stall. «Hier laufe ich zwischen den Kuhhintern durch und hoffe, dass keine scheisst», sagt Alexandra. Das Güllen sei die schlimmste Arbeit gewesen, die sie bisher machen musste. «Sepp lief voraus und spritzte die Gülle umher. Ich musste hinten den Schlauch halten und stand ständig im Dreck», erzählt sie. «Und dann ist mir auch noch mein Handy in die Gülle gefallen, als ich ein Foto machen wollte!»
Etwas weiter oben liegt das Wohnhaus. Alexandra zieht die Wanderschuhe aus und stellt sie draussen neben der Eingangstür in eine Kammer, die Toilette. Dann geht sie ins Wohnhaus. Es ist kalt und eng. Der Boden knarzt, es riecht nach alten Holzmöbeln. Von der Stube aus erblickt man ein Panorama, das einem Gemälde gleicht. Und plötzlich spürt man Wärme und Geborgenheit. Alexandra kramt ihr Tagebuch hervor. «Anfangs dachte ich, ich könnte während der Arbeit hier vor mich hin philosophieren, pha!» Sie habe keine Zeit nachzudenken. In den Bergen gibt es nur selten eine Pause – und doch ist Alexandra gelassener als im Büro. «Ich musste hier meinen Perfektionismus ablegen und alles etwas lockerer angehen», erzählt sie. «Sonst kommt man mit der Arbeit nicht nach.»
Die Kleider müssen einiges aushalten
Die 48-Jährige schaltete auf Funktionsmodus um – auch bei ihrem Aussehen. Ihre Klamotten müssen jeglichen Dreck aushalten. «Letztens hat mir Benjamin, eines der Gitzi, gar auf die Hose gekotzt», lacht sie. Bald ist Mittag. Die Frauen tischen auf und kochen. Mit der konservativen Rollenverteilung hatte Alexandra anfangs Mühe auch ihre Bezeichnung fand sie gewöhnungsbedürftig. «Man nennt mich hier eine Magd – und das ist weder despektierlich noch herablassend gemeint, sondern einfach normal.» Sie holt Spaghetti aus dem Vorratsschrank, schaut zu Rita und fragt: «Reicht das?» – «Nein, das ist zu wenig!»
Sie wirken wie Mutter und Tochter. Die Älplerin weiss genau, wie sie ihre «Caritasler» – so nennt sie ihre Helferinnen und Helfer – erziehen muss. Seit 15 Jahren vermittelt ihnen die Organisation Freiwillige. Letztes Jahr war der Hof aufgrund der beschränkten Reisemöglichkeiten wegen der Pandemie besonders begehrt. «Eine ehemalige Helferin rief mich an und fragte, ob sie spontan kommen könnte. Als Pflegefachfrau brauchte sie dringend eine Auszeit», erinnert sich die Älplerin. Das grosse Interesse freut Rita: «Es ist eine Win-win-Angelegenheit. Sie erleben ein Abenteuer, und wir erhalten wertvolle Unterstützung und etwas Abwechslung.»
Nach der Alp gehts zum Coiffeur
Die Spaghetti sind fertig, Sepp kommt in die Stube und hockt an den Tisch. Eine halbe Stunde Mittag, mehr liegt nicht drin. «Kommst du nachher auch gleich?», zwinkert er Alexandra nach dem Essen zu. Sie nickt: «Er weiss, dass ich heute noch nicht viel gemacht habe.» Plötzlich wird es draussen laut: Die jungen Ziegen haben sich in einer Horde vor der Tür versammelt. Alexandra räumt das Geschirr weg und verlässt das Wohnhaus. Sofort wird sie von den Tieren umzingelt. «Die verfolgen mich überallhin!» Prinz muss ihr den Weg freibellen. «Aber sie sind so niedlich, sie werden mir fehlen», sagt sie. Noch zwei Wochen bleibt sie auf der Alp, danach fährt sie zurück nach Schaffhausen. «Dann gehts erst mal zum Coiffeur und zur Kosmetikerin, die Termine habe ich schon vor Wochen vereinbart.»