Weisses Hemd, Seidenfoulard, polierte Lederschuhe – ein typischer Anwalt, denkt man sich bei der ersten Begegnung in seiner Kanzlei im Zürcher Seefeld. Beim zweiten Blick entdeckt man die bunten Vögel auf seinem Kragen, erspäht im Bürozimmer das berühmte Selfie eines Affen. Statt in einen Sitzungsraum wird man in den Garten geführt. Antoine F. Goetschel, 61, steuert einen Tisch im Schatten an, stellt ein Tablett mit Randensaft ab, legt Kissen auf die Stühle und füllt beide Gläser ein.
GRUEN: Herr Goetschel, Sie kämpfen für Kaninchen, Katzen, Kühe, Rehe und Rinder. Als Tieranwalt sind Sie ein ziemlicher Exot. Wird man da belächelt?
Ja, klar. Als ich vor dreissig Jahren angefangen habe, auch die Interessen der Tiere durch das Recht zu vertreten, musste ich mir einige Sprüche von Kollegen anhören. Ich solle mich lieber mehr dem Steuerrecht anstatt dem Tierlirecht widmen, hiess es zum Beispiel.
Weshalb haben Sie trotzdem weitergemacht?
Weil ich ein anderes Bewusstsein habe. Für mich ist sonnenklar: Tiere sind Lebewesen, sie haben eine Würde, und ich trage ihnen gegenüber eine ethische Pflicht. Zudem geht es dabei auch um die Gesellschaft.
Wie meinen Sie das?
Ich bin davon überzeugt, dass die Beziehung zwischen Mensch und Tier einen Einfluss auf unser Zusammenleben hat. Wenn wir diese vernachlässigen, resultiert daraus eine moralische Verwahrlosung, die uns alle negativ beeinflusst.
Von 2007 bis 2010 arbeiteten Sie als offizieller Tieranwalt des Kantons Zürich. Ein bisher weltweit einzigartiges Amt. Wie muss man sich das vorstellen?
Ich gab den Tieren vor Gericht und Staatsanwaltschaften eine Stimme und war vom Kanton beauftragt. Pro Jahr betreute ich etwa 200 Fälle.
Welcher blieb Ihnen besonders in Erinnerung?
Das war, als ich auf Einladung eines Statthalters eine Geflügelzucht besuchte. Der Betrieb war schon ein paarmal negativ aufgefallen. Als wir dort ankamen, fragte der Statthalter, was in der grossen Milchtonne sei. «Tote Hühner, auf vier Grad heruntergekühlt und bereit für den Abtransport», antwortete der Züchter. Wir öffneten den Deckel, und eines der Hühner bewegte sich. Wir nahmen es heraus, und es rannte torkelnd davon.
Wie reagierte der Züchter?
Seine Antwort ist mir damals ziemlich eingefahren: Das sei ja nicht so schlimm. Gerade
in der Landwirtschaft stelle ich gegenüber dem Tier immer wieder ein raubeiniges Verhalten und Verharmlosungstendenzen fest. Aber es gibt Gesetze, und die müssen von allen eingehalten werden.
Werden Landwirte denn nicht kontrolliert?
Doch, häufig aber von den eigenen Leuten! Die Kontrollorganisationen sind den kantonalen Bauernverbänden angeschlossen oder werden stark von ihnen beeinflusst.
Welche Strafe erwartete den Geflügelzüchter?
Eine Busse von 2000 Franken. Zudem musste er ein paar Monate zuvor bereits 600 Franken bezahlen.
Finden Sie das angemessen?
Ich bin kein Richter. Man muss sich immer fragen: Wie hoch war das Tierleiden? Ein Beispiel aus meiner Amtszeit als kantonaler Tieranwalt: Ein Halter, der sein Meerschweinchen während rund zehn Minuten zuerst quälte und dann angezündet hat, löste ein riesiges Medienecho aus und bekam zehn Monate Gefängnis. Ein Halter, der seiner Ziege nie die Klauen pflegte und ihr so jahrelangen Schmerz zufügte, musste bloss 600 Franken bezahlen.
Ihre Erklärung für dieses Ungleichgewicht?
Viele haben ein Herz für Tiere, nur ist dieses Herz wählerisch. Tiere haben für Menschen verschiedene Daseinszwecke: Hunde sind unsere Begleiter, Kühe geben uns ihre Milch und ihr Fleisch. Manche Arten sind uns offensichtlich näher und geniessen deshalb eine Vorzugsbehandlung.
Das heisst aber nicht unbedingt, dass es diese Tiere besser haben, oder?
Überhaupt nicht. Falsche Tierliebe führt oft zu Schäden. Ein Hund, der nur in der Tasche herumgetragen wird, leidet, er braucht täglich Auslauf. Wer Tiere nicht ihrer Natur entsprechend hält, fügt ihnen massiven Schaden zu. Trotzdem boomt der Markt für Heimtiere. Es gibt sogar Doga-Kurse, wo Halter und Hunde zusammen Yoga praktizieren.
Fällt das auch unter Tiermisshandlung?
Nein, nicht solange der Hund ansonsten genügend Auslauf und Kontakte zu seinesgleichen hat. Aber es geht im Gesetz ja nicht nur um Misshandlungen, sondern auch um die Würde der Tiere. Die Schweiz ist weltweit das einzige Land, bei dem rechtlich festgelegt wurde, dass auch Tiere und Pflanzen eine Würde haben.
Was bedeutet dieses Gesetz?
Dass zum Beispiel nicht tiefgreifend in das Erscheinungsbild eines Tieres eingegriffen werden darf.
Demzufolge wäre aber jede Züchtung illegal.
Nur wenn das Aussehen so sehr verändert wird, dass das Tier dadurch erheblich leidet. Züchtet man etwa einen Hund, dessen Augen als Nebenwirkung der Zucht herauskugeln oder der kaum mehr atmen kann, spricht man von Defektzucht.
Diese ist in der Schweiz aber verboten.
Ja, aber im Strafrecht gilt die Unschuldsvermutung. Der Staat muss dem Züchter beweisen, dass er das Leid des Tieres willentlich in Kauf nahm, was sehr schwierig ist. Zudem geht es auch um das psychische Wohlbefinden von Tieren. Man sollte sich immer die Frage stellen: Kann das Tier wirklich Tier sein?
Nehmen wir die Pharmaindustrie als Beispiel: dort ist dies eigentlich nie der Fall. Stimmt, und es ist auch schwierig, diese Tiere zu schützen. Tierversuche müssen von einer Tierversuchskommission des Kantons bewilligt werden. Oft wird die Belastung wie Schmerzen und Ängste bei einem Gesuch zu niedrig eingestuft. Die menschliche Tendenz zur Verharmlosung ist gross. Und stellen Sie sich vor: Der Kanton Zürich ist schweizweit der einzige, in dem Tierversuchsbewilligungen zugunsten der Tiere überhaupt vor Gericht gezogen werden können. Im Gesetz steht aber: Tierversuche sind auf das unerlässliche Mass zu beschränken. Ich frage mich: Was nützt ein Gesetz, wenn es im Einzelfall nicht auf seine Rechtmässigkeit hin überprüft werden kann?
Sind Sie generell gegen Tierversuche?
Tiere gezielt krank zu machen, um an ihnen zu forschen, ist nur schon ethisch bedenklich. Dazu kommt die Verletzung ihrer Würde. Forschung ist auch ohne Tiere möglich. Ich verzichte seit 25 Jahren auf Medikamente, die an Tieren getestet wurden. Lieber ernähre ich mich gesund.
Essen Sie Fleisch?
Nein, ich bin seit 33 Jahren Vegetarier, und mir ist pudelwohl.
Lederschuhe tragen Sie aber.
Ja, und ich pflege sie auch sehr gut. Anstatt jedes Jahr ein Paar Sneakers zu kaufen, lasse ich meine alten Schuhe lieber neu besohlen.
Sie kleiden sich elegant. Irgendwie stellt man sich einen Ökoanwalt anders vor.
Rastas gehen natürlich nicht (lacht). Mit meiner Kleidung möchte ich auch ein Signal senden: Ich bin anschlussfähig, propagiere keine extremen Lebensformen.
Sind Sie darum kein Veganer?
Genau. Ich werde auch etwas ungeduldig, wenn sich die Tierschutzdebatte immer wieder darum dreht, ob jemand tierische Erzeugnisse isst oder nicht. Nur gerade sein eigenes Leben dem Veganismus zu widmen, ist mir zu wenig.
Was schlagen Sie vor?
Es gibt etliche Länder, bei denen der Tierschutz nicht einmal im Gesetz verankert ist. Ich finde, wir Schweizer haben eine Bringschuld auch den Heim-, Versuchs-, Wild- und Sporttieren im Ausland gegenüber und müssen hier und im Ausland vor allem im rechtlichen Bereich aktiv werden. Deswegen habe ich auch den Verein Global Animal Law GAL gegründet.
Welches Ziel verfolgt er?
Wir möchten eine Welt, in der Mensch und Tier in Frieden miteinander leben. Dazu müssen wir weltweit die Strukturen verändern und dem Tier eine Stimme im Rechtssinne geben. Zum Beispiel haben wir eine Uno-Konvention zur Gesundheit und zum Schutz der Tiere verfasst. Jetzt geht es darum, dass die Uno diese annimmt und die Mitgliedstaaten sie dann umsetzen.
Letzte Frage: Haben Sie Haustiere?
Nein, momentan könnte ich ihnen nicht gerecht werden. Ich hatte allerdings mal einen Wackeldackel, falls das zählt.
Verein Global Animal Law GAL: www.globalanimallaw.org
Stiftung für das Tier im Recht: www.tierimrecht.org