«Eine Woche lang nicht zu McDonald’s gehen.» Nach dem Workshop von Girls on Ice in einer St. Galler Kantonsschule notieren sich die Schülerinnen und Schüler des Geografie-Ergänzungsfachs Ziele. Solche fürs Klima. Dinge, die sie eine Woche lang durchhalten wollen. Kein Fast Food – zum Beispiel. Kein Fleisch essen. Kleider nicht einfach wegschmeissen, sondern weitergeben.
Die Jugendlichen wissen, wo man als Einzelne und Einzelner ansetzen kann, um die CO2-Emissionen zu verringern. Und damit die Gletscher zu erhalten, über die sie davor zwei Lektionen lang unterrichtet wurden. Diese schmelzen der Schweiz nämlich davon.
Für den Workshop steht Lena Hellmann, 35, im Auftrag des Vereins Girls on Ice vor der Klasse. Die Geografin leitet regelmässig solche Kurse, und das immer zusammen mit einer Freiwilligen im Alter der Schüler und Schülerinnen – einer ehemaligen Teilnehmerin der jährlichen Girls-on-Ice-Gletscherexpeditionen. «Dass jemand Jugendliches den Workshop mit mir führt, macht die Inhalte für die anderen Jugendlichen zugänglicher», sagt Hellmann. «Und es überträgt Verantwortung.»
Einmal im Jahr steigt Lena Hellmann mit einer Gruppe von Wissenschaftlerinnen, Bergführerinnen und neun Mädchen zwischen 15 und 17 Jahren auf einen Schweizer Gletscher. Verweilt, schläft, wandert, experimentiert dort während elf Tagen. Dieses Jahr fand das Wissenschaftscamp von Girls on Ice im Juli statt. Auf dem Findelgletscher im Wallis auf 2700 Metern über Meer.
An den Camps sollen Mädchen teilnehmen, denen das privat nicht ermöglicht wird
Dort seien die Bedingungen besonders gut, sagt Lena Hellmann. «Im Wallis ist das Wetter meist schön. Der Findelgletscher ist relativ gut untersucht, sehr zugänglich, und trotzdem gelangen wir nach einem vierstündigen Fussmarsch an einen Ort, an dem kein Mensch vorbeikommt.» Ein Ort, an dem man nur mit Erlaubnis Karte auf: Mit Girls on Ice sensibilisiert Lena Hellmann junge Frauen für die Wissenschaft und den Klimaschutz. Die internationale Dachorganisation inspiringgirls.org Der Schweizer Verein inspiringgirls.org/schweiz Die Zusammenarbeit mit dem Paul Scherrer Institut psi.ch Die Gesellschaft dahinter scnat.ch Das Treffen mit Lena Hellmann kafifranz.ch zelten darf. Das Eis liegt hier 200 Meter dick in einem gewaltigen Kessel. Der Wind verpasst dem Schnee eine raue Oberfläche. Eine scharfe Linie trennt Eis und Himmel.
Die Teilnahme am Camp ist für die Schülerinnen kostenlos. Sie müssen sich aber dafür bewerben. «Der Prozess dazu ist ausgefeilt», sagt Hellmann. Als eine der Organisatorinnen will sie möglichst viel über die Anwärterinnen wissen. Über ihre Motivation, ihren Hintergrund. Sie wollen besonders solche mit in die eisigen Höhen nehmen, denen das privat nicht ermöglicht wird. Junge Frauen, die nicht jedes Wochenende mit dem SAC in den Bergen sein können. Und wieso ausschliesslich Mädchen? «In einer Gruppe mit nur Girls entsteht eine ganz andere Gruppendynamik. Sie können viel mehr so sein, wie sie sind, können sich besser öffnen», findet Lena Hellmann. Und das passiert. «Ich habe bei den Feedbackrunden am Schluss regelmässig Tränen in den Augen, wenn die Mädchen erzählen, was unsere gemeinsame Zeit in ihnen bewirkt hat.»
Auch sie selbst käme jedes Mal anders vom Gletscher runter, als sie hochgegangen sei, erzählt die gebürtige Süddeutsche. «Es ist eine Extremsituation.» Das intensive Erlebnis in den Gruppen, das Zelten an einem Bergsee zwischen Moränen und mit dem weiten Blick aufs Matterhorn, die Steigeisen anzulegen, über das Eis zu laufen, es zu hören, zu spüren – das verändere jede. Damit kriege man alle zum Staunen.
Neben den körperlichen und sozialen Herausforderungen, die auf die Mädchen warten, geht es bei Girls on Ice auch darum, Wissenschaft aus einem anderen Blickwinkel zu sehen. Die Teilnehmerinnen führen während des Camps Experimente durch unter der Leitung der anwesenden Wissenschaftlerinnen, aber auch selbstständig. «Viele Gedanken, die sich die Mädchen machen, sind schon Wissenschaft. Man muss ihre Beobachtungen nur noch etwas ausformulieren. Das wollen wir ihnen auch so vermitteln.»
Auch wenn keine Treibhausgase mehr produziert würden – die meisten Gletscher sind verloren
«Ich kann es nicht fassen, wenn Mädchen erzählen, dass das Thema Klimawandel im Unterricht nicht behandelt wird», sagt Hellmann. Das mache solche Expeditionen und die darauf folgenden Workshops umso relevanter. Denn Fakt ist: Seit der Jahrtausendwende überdauert immer weniger Schnee den Sommer. Die seit Jahren warmen Verhältnisse haben Folgen. «Stellen Sie sich das Landschaftsbild der Schweiz ohne Gletscher vor! Sie sind mehr als nur ein Wasserspeicher. Ihr sukzessives Abschmelzen birgt Gefahren», sagt Hellmann. Dadurch werden in den kommenden Jahrzehnten immense Wasserreserven freigesetzt. Gletscherseen und Flutwellen, die talwärts schiessen, können ganze Regionen bedrohen. Es kommt zu Felsstürzen, verursacht durch den auftauenden Untergrund, den schwindenden Permafrost – dieses «Klebemittel».
Wie schnell die Riesen schwinden, sehen die Mädchen im Wissenschaftscamp vor Ort quasi in Echtzeit. Das Bambusstöckli, das sie zur Messung ins Eis gebohrt haben, sei nach zwei Tagen bereits umgekippt, erinnert sich Hellmann. All diese Eindrücke trägt sie nun, jeweils gemeinsam mit einer Expeditionsteilnehmerin, vom Gletscher in die Schulen. Auch der St. Galler Klasse wird so schliesslich verdeutlicht, wie unaufhaltsam das ewige Eis schmilzt. Ein kurzer Clip zeigt den rapiden Rückgang des Aletschgletschers, des grössten Gletschers der Schweiz in den Berner Alpen. Wenn wir so weiterfahren wie bisher, wird er bis 2100 komplett verschwunden sein. Das erzeugt Reaktionen. Protest murmelt durch den Raum. Sogar energischer als davor beim Vorschlag, die Pause durchzuarbeiten. Nach so einer erschütternden Erkenntnis erscheint der Verzicht auf Fast Food dann doch absolut machbar