GRUEN: Marlen Reusser, Sie beschreiben Ihr Leben als Athletin oft als «Egotrip». Schwingt da ein schlechtes Gewissen mit?
Marlen Reusser: Als Sportlerin trägst du nicht wirklich etwas zur Gesellschaft bei. Ich fahre einfach Velo, das bringt niemandem sonst etwas. Der einzige Wert ist, hoffentlich anderen Menschen Freude zu bereiten. Sie zu inspirieren, sich sportlich zu betätigen. Mein Umfeld erlebt mit mir tolle Momente, aber alle müssen auch viel Rücksicht nehmen und zurückstecken. Insofern ist man als Athletin schon sehr auf einem Egotrip.
Sie liessen während des Shootings durchblicken, dass Sie erst mit Ihrer Familie diskutierten, bevor Sie für unsere Geschichte zusagten. Wieso?
Jetzt muss ich etwas ausholen: Ich kritisiere die Haltung, wenn man durch Konsum grün werden will. Nachhaltige Energie und Ressourcen, in der Schweiz produzieren … das alles sind gute Sachen, aber nicht die Lösung gegen den Klimawandel. Wir müssen klar an der Menge schrauben. Die Botschaft muss sein: Kauf weniger, und entscheide dich für das Richtige. Als Athletin und Ärztin habe ich nichts mit Mode und Lifestyle zu tun. Wenn ich hinstehe und hübsche Bilder von mir machen lasse, muss ich dies mir gegenüber rechtfertigen können. Und darum ist mein Bruder, Simon Reusser, als externes Gewissen dazugekommen. Wir haben lange darüber diskutiert, ob es moralisch vertretbar ist, bei dieser Geschichte mitzumachen, und wir sind zum Schluss gekommen: Es ist okay. Aber nur, wenn ich den Menschen erkläre, dass nachhaltige Produkte kein Freipass sind, um masslos zu konsumieren. Das will ich nicht unterstützen! Aber ich stehe drauf, schöne Fotos zu machen. Ich hatte grosse Freude am Shooting (lacht).
Die Idee, beim Shooting Kleider des Onlineshops Laufmeter zu tragen, kam dann von Ihrer Schwester. Sie interessiert sich für Mode, und ich gab ihr den Auftrag nach einem Berner Label zu suchen, das nachhaltige Schweizer Mode verkauft. Interessieren Sie sich überhaupt nicht für Mode?
Doch! Eigentlich wäre ich eine grosse Konsumentin. Ich kaufe sehr gern schöne Sachen. Dem versuche ich zu widerstehen, indem ich mir sage: Nein, nein, nein … erst mal abwarten statt kaufen.
Haben Sie sich noch andere Regeln für den Kleiderkauf verpasst?
Ich kaufe mir fast gar nichts mehr, nur Hosen. Jeans müssen einfach sitzen. 95 Prozent meines Kleiderschranks habe ich nicht selbst ausgesucht. Meine Mama geht gern in Brockenstuben und an Kleiderbörsen. Sie hat sich einen Namen als Umschlagplatz für Secondhandmode gemacht. Frauen aus der Verwandtschaft, die schnell mal in einen Shoppingrausch kommen, bringen säckeweise alte Kleider hierher. Darunter finde ich immer etwas zum Anziehen.
Als Gymnasiastin seien Sie ein Sportmuffel gewesen, sagen Sie. Heute besitzen Sie eine olympische Silbermedaille. Super Geschichte, aber eigentlich auch schwer zu glauben.
Aber sie stimmt. Am Gymmer, ich war 16, mussten wir uns entweder für einen Inlineskating-Wettkampf oder den Stadtlauf GP Bern anmelden. Ich fand das eine Zumutung und hölle gemein! (Lautes Gelächter.)
Wie kam der Wandel?
Erst beim Wettkampf. Ich rannte mit meiner Kollegin Lena den GP, und es hat einfach gfägt. Danach meldete ich mich sofort beim Lauftraining an. Leider war dann das Laufen wegen der Sprunggelenke an meinem Fuss nicht das Richtige. Was fasziniert Sie am Radfahren? Es ist fetzig, man hat alles selbst im Griff, spürt seinen Körper. Und der Körper bringt einen vorwärts. Das Velo ist ein wunderbares Fortbewegungsmittel im Alltag!
Lässt Sie Ihr Charakter gern leiden?
Früher sicher. Da machte ich krasse Sachen. Radelte an einem Amateurrennen mit einem Scheissvelo über Pässe, und zwar 136 Kilometer Vollgas. Einmal, es war dreissig Grad warm, war ich so im Flow, dass ich am dritten Pass, dem Susten, gegen ein Mäuerchen fuhr und kurz weg war. Eine Packung Chips, etwas zu trinken, danach war es wieder gut – aber meine Zeit war natürlich futsch. Das hat mich geärgert, denn diese wäre überragend gewesen. Velo fahren ist klimafreundlich, der Profi-Radsport mit den vielen Begleitfahrzeugen und motorisierten Transfers weniger.
Wie könnte man dies ändern?
Indem man mehr aufs Fliegen verzichtet. Dass dies geht, hat Corona bewiesen. Bei der Verpflegung ist es wie überall eine Preisfrage. Teams, die eh schon sparen müssen, haben keine Lust, Bio-Sachen zu kaufen. Extrem ist auch der Verschleiss an Velos und mechanischem Material. Leider ist das Interesse für Ökologie klein.
Wie bringen Sie im Sport Ihre Überzeugungen mit den Gegebenheiten in Einklang?
Grundsätzlich ändert sich nichts, ob ich dabei bin oder nicht. Und Achtung: Das ist nicht dieselbe Aussage, wie wenn ich finde: Es ändert nichts, ob ich im Flugzeug sitze oder nicht. Dort ist man Teil der Nachfrage. Wenn du einen Flug buchst – auch wenn die Maschine sowieso fliegt und leer ist –, gehst du in die Bücher ein. Beim Radsport gibt es den Punkt der Nachfrage nicht. Daher mache ich lieber mit und kann ein Minimum an Ideen einbringen und Diskussionen anstossen. Man konnte lesen, dass Sie in Ihrem Team verlangen, nur noch Bio-Eier zu kaufen und zu verwenden. Ich bin Vegetarierin, und im Team essen wir immer Pasta und Fleisch. Also brauche ich eine andere Proteinquelle. Eier haben diesbezüglich eine super Zusammensetzung. Aber solche aus Batteriehaltung kann und will ich nicht essen.
Früher gab es auf dem Hof Ihrer Eltern Mastschweine. Als Teenager führte das zu vielen Diskussionen mit Ihrem Vater.
Oh, die Diskussionen haben schon viel früher begonnen. Aber die Schweine haben wir nicht wegen mir nicht mehr. Meine Eltern haben drei schicke Apartments gebaut, und diese lassen sich nicht vermieten, wenn es daneben einen Mastbetrieb hat. Die Leute wollen nicht miterleben, wie der Lastwagen die Schweine holt. Was wiederum die ganze Schizophrenie unseres Systems aufzeigt.
Wann wurden Sie Vegetarierin?
Das ist ein Streitpunkt zwischen mir und meiner Mutter: Ich habe das Gefühl, es war im Kindergarten. Meine Mutter sagt, in der ersten, zweiten Klasse. Wie haben Sie den Entscheid mitgeteilt? Mein Schulweg führte bei der Landi vorbei, und dort stand immer wieder ein Transporter mit Kisten voller Hühner. Ich stand oft lange davor, weinte manchmal, weil es mich so traf, dass einige Tiere tot waren und die anderen am Sterben – darum kann ich Eier von Hühnern aus schlechter Haltung nicht essen. Eines Mittags kam ich nach Hause und fand: Freunde, ich esse kein Fleisch mehr.
Sie politisierten als Teenager drei Jahre lang bei den Jungen Grünen. Was haben Sie von der Politik gelernt?
Dass deren Prozesse mega mühsam sind! Ich habe viel Respekt vor allen, die in der Politik sind.
Das Thema hat sich für Sie erledigt?
Nicht hundertprozentig. Aber es ist schwierig, es braucht einen sehr langen Atem. Eines Ihrer Lieblingsthemen ist die Situation der Frauen im Radsport.
Was muss sich ändern?
Der Radsport ist auf Männer ausgerichtet. Die Frauen sind erst dabei, ihren Platz zu finden. Unsere Rennen sieht man kaum am TV und wenn, sind sie schlecht kommentiert. So macht das Zuschauen keinen Spass. Folglich ist das Interesse der Sponsoren viel geringer. Wir haben viel kleinere Löhne, weniger Preisgelder und Boni. Als Frau musst du erst eine WM- oder Olympiamedaille gewinnen, um halbwegs vom Sport leben zu können.
Der Klassiker: Frauen müssen mehr leisten, um anerkannt zu werden.
Genau. Darum bin ich der BKW so dankbar. Sie hat mich bereits zu einem Zeitpunkt unterstützt, als ich noch keine gewinnbringende Sportlerin war. Das war mega, mega cool.
Heute wissen Sie, dass es sich gelohnt hat, Ihren Job als Assistenzärztin aufzugeben und voll auf den Sport zu setzen. Zweifelten Sie manchmal?
Nein. Die Frage, ob es sich lohnt, hat sich nie gestellt. Ich habe auch nie gedacht, wenn ich keine guten Resultate fahre, war der Entscheid falsch. Ich wollte es sowieso machen.