Herr Kessler, der Terminal ist fertiggestellt, die Männlichenbahn nimmt den Betrieb auf. Herrscht Freudenstimmung?
Die Männlichenbahn und der neue ÖV-Anschluss Grindelwald Terminal sind die ersten Meilensteine im Gesamtprojekt V-Bahn. Ich freue mich nun auf die
Gesamteröffnung am 12. Dezember 2020.
Ist die V-Bahn vergleichbar mit dem Bau der Jungfraubahn 1912?
Nein, ein solcher Vergleich ist vermessen. Was Adolf Guyer-Zeller mit dem Bau der Jungfraubahn von 1896 bis 1912 geleistet hat, ist heute noch ein Meisterwerk der Eisenbahngeschichte. Das sind andere Dimensionen.
Aber mit der V-Bahn sind auch Sie ein Pionier.
Ich sehe mich nicht als Pionier. Mein Ziel war, die Region weiterzuentwickeln und sie für die nächsten 50 Jahre konkurrenzfähig zu positionieren. Das Geniale an der V-Bahn ist, dass wir zum ersten Mal nicht auf Einzelinte-ressen der involvierten Bahnen und Akteure geschaut haben, sondern auf das Gesamtinteresse von Grindelwald und der Jungfrau Region. So gelang es uns, die Jungfraubahnen, die Männlichen-bahn und die Berner-Oberland--Bahn (BOB) optimal ins Gesamtprojekt zu integrieren.
Es gab grosse Widerstände. Sie waren persönlichen Angriffen aus-gesetzt, erhielten Morddrohungen, Ihre Reifen wurden aufgeschlitzt.
Es gab sicher schwierige Zeiten, vor allem wenn ich da an all die Abstimmungen denke. Am meisten Substanz brauchte es für die 17 Einsprachen. Ich habe hierfür allein 2017 insgesamt 108 Abende und Wochenendtage aufgewendet, um in Grindelwald mit den Einsprechern zu verhandeln und Lösungen zu finden.
Was hat Sie angetrieben?
Wenn man die Kunden nicht kennt, produziert man am Markt vorbei. Ich wusste genau, dass die V-Bahn für unsere Kunden das richtige Produkt ist. Wir können damit sowohl das Sommer- wie auch das Wintergeschäft beleben. Gerade für unsere Zubringer-Situation im Wintersport habe ich mich in den letzten Jahren geschämt. Und ich bin hundertprozentig überzeugt, dass die V-Bahn ein Wirtschaftsmotor für die Region sein wird, besonders für die Hotellerie in Grindelwald.
Die Jungfraubahnen investieren 470 Millionen in die V-Bahn. Wie setzt sich das zusammen?
Es teilt sich auf zwischen BOB, Männlichenbahn und Jungfraubahnen. Die BOB steckt 120 Millionen Franken ins Rollmaterial, Werkstätte und in die neue Haltestelle Grindelwald Terminal. In die Station Eigergletscher investieren wir 60 Millionen, der Eiger Express kostet 50 Millionen, der Terminal in Grindelwald-Grund 72 Millionen, das Parkhaus 33 Millionen, die Männlichenbahn 38 Millionen, die Niederflurzüge der Jungfraubahn 44 Millionen und die Panoramazüge der Wengernalpbahn 54 Millionen.
Gewaltige Summen …
… aber gut verkraftbar. Die Jungfraubahnen waren jahrelang prak-tisch schuldenfrei. Jetzt mussten wir erstmals wieder Fremdkapital aufnehmen. Doch ohne Innovation und unternehmerisches Risiko gibt es auch keinen Erfolg. Wir bauen die V-Bahn für die nächsten 50 Jahre!
Dabei rentiert der Wintersport für die Jungfraubahnen nicht.
Das stimmt. Umso mehr wollen wir mit der V-Bahn zurück zum Erfolg – und in die Champions League der Skigebiete. Wenn man im Wintersport nicht zu den Besten gehört, hat man keine Chance. Mittelmass ist langfristig nicht gefragt.
«Wenn man richtige Berge sehen will, kommt man in die Schweiz, in die Jungfrau Region»
Urs Kessler
Wo ordnen Sie die Jungfrau Re-gion künftig ein?
Wir wollen in Europa in die Top Five, also dorthin, wo Zermatt, Sölden, Ischgl-Samnaun oder die Super-Dolomiti sind. Wir haben drei Trümpfe: Eiger, Mönch und Jungfrau. Wenn man richtige Berge sehen will, kommt man in die Schweiz, in die Jungfrau Region. In Österreich gibt es ja keine 3000er, also keine richtigen Berge (lacht). Ich sage jeweils auf meinen Auslandsreisen: «If mountains have a home, it’s Switzerland – and definitely the Jungfrau Region.»
Was sind Ihre konkreten Ziele?
In den letzten Jahren hat die Jungfrau Ski Region Marktanteile verloren und ist unter eine Million Gästeeintritte gefallen. In der Saison 2007/08 hatten wir noch über 1,2 Millionen. Unser Ziel mit der V-Bahn sind 1,4 Millionen Gästeeintritte und 50 Millionen Franken Verkehrsertrag.
Obwohl der Skisport ein bestenfalls stagnierender Markt ist?
Mit der künftigen Infrastruktur und Qualität werden wir wachsen, in Deutschland, in den Be-neluxstaaten, in Grossbritannien und natürlich in der Schweiz. Gerade im Grossraum Zürich sehen wir viel Potenzial. Zürich kriegt nun neben dem Üetliberg drei neue Hausberge: Eiger, Mönch und Jungfrau. Ich sehe nicht ein, warum die Zürcher alle nach Davos, Arosa oder Laax fahren – und dabei vorwiegend im Stau stehen (lacht). In zwei Stunden sind sie in der Jungfrau Region bereits auf den Ski, mit einer Kapazität von 4000 Personen pro Stunde wird es in Grindelwald Terminal nie mehr Warte-zeiten geben. Wir wollen im Skitourismus neue Märkte erschliessen, in Osteuropa, Skandinavien, Asien. Das Wichtigste ist aber, unseren Nachwuchs wieder auf die Piste zu bringen. Deshalb fahren bei uns Kinder in Begleitung Erwachsener am Samstag gratis. Ich bin überzeugt, dass die Faszination Skisport, dieses einzigartige Naturerlebnis, auch in Zukunft erfolgreich sein wird.
Trotz Klimawandel?
Der Klimawandel ist eine Tatsache, aber zurzeit auch etwas Panikmache. Wir sind uns bewusst, dass die Winter kürzer werden. Aber wir werden auch noch in 50 Jahren auf der Kleinen Scheidegg Ski fahren – und dies noch viel mehr geniessen als heute.