Von wegen ruhige Naturidylle im Val de Bagnes! Zwar führt das Tal in südöstlicher Richtung weg von der Passstrasse des Grossen St. Bernhard, so dass der Grenzverkehr nach Italien Richtung Aostatal hier bald nur noch brummende Erinnerung ist. Vom Tal-Hauptort Le Châble sieht man weit oben in der Höhe schon die mondäne Skisportstation Verbier. Am Strassenrand, neben schwarzen Kühen, ein riesiges Plakat: «Bienvenue dans la Capitale de la Raclette». Die Chalets stehen auf Steinsockeln. Hier ist das Wallis frankofon. Und naturbelassen.
Doch dann biegt man von der Dorfstrasse ab, fährt durch den Wald, bis zu einer grossen Lichtung und dort um den Baggersee, bis ans hinterste Ende einer Kiesgrube. Unter einem alten Schlagbaum hindurch betritt man ein abgesperrtes, scheinbar verwildertes Areal. Und vorbei ists mit der Ruhe. Der kreischende Lärm eines Motors nähert sich, und plötzlich fliegt ein Motorrad in irrwitzigem Tempo durch die Luft, über einen aufgeschütteten Hügel, um bei der Landung im Matsch meterhohe Fontänen aufspritzen zu lassen. Der Pilot legt die Maschine halsbrecherisch schleudernd in die nächste Kurve und braust zwischen den Kieshaufen davon. Ohrenbetäubend, atemberaubend, akrobatisch. Da beherrscht einer sein Metier.
Ein paar Runden noch, dann lässt Justin Murisier, 29, die Maschine ausrollen, schiebt die Brille über den Helm und lacht. Verdreckt, verschwitzt, glücklich. Die private Crosspiste des Motoclub de Bagnes ist seine Spielwiese. Hier tobt er sich aus, hier schaltet er ab. «Auf der Motocross-Maschine denke ich an nichts anderes mehr. Ich bin zu hundert Prozent auf das Motorrad und die Piste konzentriert. Tempo und Gelände nehmen mich komplett gefangen. Ich liebe es!»
Der Mann, dessen sanfte und gelassene Art im Gespräch so gar nicht zum verwegenen Ritt über Stock und Stein passen will, überrascht mit seiner Antwort auf die entsprechende Frage: «Müsste ich wählen zwischen Ski- und Töfffahren, würde ich mich für den Töff entscheiden!» Um die Aussage aber gleich zu relativieren: «Klar, Skifahren ist mein Beruf, da habe ich keine Wahl, ob ich nun gerade Lust habe oder nicht. Wäre das Motorradfahren der Beruf und das Skifahren geliebtes Hobby, würde ich wohl andersherum antworten.»
Was der Skirennfahrer Murisier mit und auf dem Motorrad macht, ist mehr als nur Zeitvertreib. Seit er als Dreikäsehoch seine ersten Runden auf dem Pocket Bike gedreht hat, ist es ein Lebensinhalt für den Unterwalliser. Und das nicht von ungefähr: Die ganze Familie Murisier hat Töffbenzin im Blut. Papa Eddy, früher Lastwagenchauffeur und Rennfahrer, Mama Marie-Paule, einst Wirtin, Schwester Anaïs, 35, und Bruder Kevin, 32 – sie alle fahren am liebsten auf zwei motorisierten Rädern durch die Welt.
Der Bruder war 2015 gar Schweizer Meister U25 im Gelände. Die einstige Lastwagen-Garage des Papas gleich neben Justins Elternhaus im Dörfchen Versegères oberhalb Le Châble ist längst Motorrad-Werkhalle. Kevin, von Beruf Mechaniker, schraubt hier an den Maschinen, Justin erledigt ebenfalls Unterhaltsarbeiten. «Aber Kevin ist der Fachmann. Ohne seine Unterstützung würde es schwierig für mich», sagt der Skistar.
In der Garage stehen mehrere Motorräder, Strassenmaschinen und Crossbikes. Justins Gefährte sind eine KTM 1290 Super Duke R und eine KTM 300 EXC TPI. Letztere sein Sportgerät, mit dem es ins Gelände geht, erstere ein Strassenmotorrad. «Über Kevins Kontakte konnte ich mit KTM einen Deal abschliessen und erhalte jedes Jahr zwei neue Maschinen zur Verfügung gestellt. So habe ich immer Topmaterial.» Auf dem Strassen-Motorrad fährt er etwa ins Kondi-Training oder macht am Wochenende eine Pässefahrt. Öfters begleitet von Freundin Manon Besse. Logisch, dass auch sie Töff fährt.
«Beim Skifahren beschäftigt mich zwischendurch, am Lift oder so, auch anderes. Auf dem Töff bin ich frei und völlig eins mit der Maschine»
Justin Murisier
Zur Sache geht Justin nur im Gelände, mit Vorliebe als Enduropilot. Dabei gilt es, eine unwegsame Strecke in möglichst kurzer Zeit zu bewältigen, allein, gegen die Zeit, wie im Skisport. «Motocross mit seinen Massenstarts ist mir zu gefährlich, weniger berechenbar. Beim Enduro geht es rein um die Beherrschung der Maschine, um das Finden der optimalen Linie durch die Hindernisse.» Zwischen April und Juli trainiert Justin zwei Mal wöchentlich auf dem Crosstöff.
Wie ernst er die Sache nimmt, zeigt sich auch daran, dass er zusammen mit Bruder Kevin für rennfahrerische «Weiterbildungen» zum Profi-Rennpiloten Alfredo Gomez nach Spanien gereist ist. Und natürlich an seinen Teilnahmen an grossen Langstrecken-Rennen, von denen er nach Möglichkeit eines bis zwei pro Jahr bestreitet. Zuletzt im Juli, in den rumänischen Karpaten, wo er sich im ersten Viertel des Feldes klassiert. Da gilt es, in vier Etappen à 90 Kilometer über Stock und Stein mehr als 30 000 Höhenmeter zu überwinden. «Das geht sechs Stunden und mehr, und wenn du nach der Hälfte die ersten Krämpfe hast, wirds ganz hart.»
Gerade das Rennen dieses Sommers zeigt auch die Gefahren, die der Crosssport birgt. Österreichs Über-Skifahrer Marcel Hirscher ist ebenfalls in Rumänien am Start und bricht sich bei einem Sturz das Bein. «Marcel ist ein routinierter Fahrer. So ein Unfall kann halt passieren», sagt Murisier. «Ich selbst habe mich noch nie auf dem Töff schwer verletzt. Beim Enduro ist das Risiko besser kalkulierbar, weil es keinen ‹Verkehr› hat auf der Strecke. Weniger gefährlich als im Strassenverkehr ist es sowieso.»
Auf der anderen Seite dient das Enduro-Motorrad Justin Murisier als Trainingsgerät. «Kraft, Ausdauer, Rumpfstabilität und Gleichgewichtsgefühl sind zentral, wie im Skisport», nennt er den Nutzen der motorisierten Geländefahrt. «Und was im Training bei uns Skirennfahrern eher zu kurz kommt, aber von grosser Bedeutung ist: Die Augen-Körper-Koordination in hohem Tempo wird perfekt geschult.» Viele Skikollegen spielen in der wettkampffreien Saison Golf. «Für mich ist das Töfffahren der bestmögliche Ausgleich.» Gemeinsam mit seinem Konditionstrainer baut er es sogar ins «offizielle Vorbereitungsprogramm» ein. Als Ergänzung, nicht als Ersatz.
Ob der Verband das risikobehaftetere Hobby seines Athleten Justin Murisier wohl toleriert? Die Frage lockt den ruhigen Walliser aus der Reserve: «Der Verband kann mir das nicht verbieten. Wir sind selbständige ‹Unternehmer›, die bezahlen für die Leistungen, die der Verband für sie erbringt. Also tragen wir auch das Risiko selbst. Und ich habe in zwölf Jahren Weltcup nicht ein einziges Rennen oder Training wegen eines Töffunfalls verpasst.» Nein, ein gefügiger Athlet ist Justin bei aller Zugänglichkeit nicht.
«Motocross ist perfektes Training für die Augen-Körper-Koordination. Davon profitiere ich auf Ski»
Womit wir vom Hobby zum Beruf des Justin Murisier kommen. Denn seiner familiären Herkunft verdankt der gelernte Förster nicht nur die Liebe zum Bike, sondern auch jene zum Skirennfahren. «Meine Eltern konnten sich den Töffsport für alle ihre Kinder nicht leisten. Aber weil meine Grossmutter im Skigebiet von Bruson ein Bergrestaurant betrieb und Mama oft bei ihr aushalf, stand ich schon früh auf Ski. Und da ich auch schnell ziemlich gut war, gab es für mich nie eine Qual der Wahl zwischen den Sportarten.» «Ziemlich gut»? Ziemlich untertrieben! Justin ist so gut, dass er am Ende seiner Juniorenzeit als grösste Schweizer Skihoffnung gilt. In der Saison 2010/11 bestreitet er mit 18 Jahren seine ersten Weltcuprennen. Seite an Seite mit einem gewissen Alexis Pinturault aus Frankreich als weiterem Debütanten. Schon in seinem fünften Einsatz auf höchster Ebene fährt Murisier beim Slalom von Val d’Isère als Achter in die Weltelite. Der gleichaltrige Pinturault träumt da erst von Punkten.
Dann beginnt das skifahrerische Drama des Justin Murisier. Pinturault hat bereits Rennen in Serie gewonnen und nähert sich dem Gesamt-Weltcupsieg, als sein Schweizer Weggefährte noch immer auf den ersten Podestplatz der Karriere wartet. Grund dafür sind körperliche Hindernisse, die er nicht einfach mit PS-Power überspringen kann. Dreimal reisst das Kreuzband des Wallisers, die ersten beiden Male 2011 und 2012 innerhalb von elf Monaten, so dass er seine zweite und dritte Saison komplett verpasst. Und das dritte Mal 2018, gerade als er den Anschluss an die Weltspitze wieder geschafft hat und im Riesenslalom unter den top sieben der Welt klassiert ist. So viel Pech, so viel Leiden!
Das Versprechen, das er der Skiwelt vor einem Jahrzehnt gegeben hat, bleibt uneingelöst. Odermatt, Meillard, Caviezel – alle ziehen sie an ihm vorbei. «Ich war immer ein Kämpfer, puschte mich stets zu neuen Anläufen. Aber als mein damaliger Skiausrüster Nordica nach der erfolglosen Comeback-Saison 2019/20 signalisierte, dass man nicht weiter an einer Zusammenarbeit interessiert ist, fragte ich mich: Wars das jetzt? Ist das der Punkt, wo es nicht mehr weitergeht für mich?» Murisier durchlebt dunkle Momente. Den Versuch mit einem Sportpsychologen aber bricht er nach einigen Sitzungen ab. «Den Weg, den er mit mir beschreiten wollte, hatte ich während meinen Verletzungen von selbst absolviert. Ich dachte, ich kann das allein.»
In dieser Situation kommt quasi aus heiterem Himmel ein Angebot von Head. Eine nicht mehr erhoffte Wende? «Wenn die beste Skimarke kommt, muss man es ganz einfach noch einmal versuchen.» Und wie! Nur ein paar Rennen braucht er, dann ist er endlich am Ziel: Im Riesen von Alta Badia fährt Murisier im Dezember 2020 als Dritter aufs Podest. Er ist im Skihimmel. Nach 109 Rennen! Rennsieger Pinturault sagt in die Mikrofone: «Ich mag es ihm gönnen wie keinem sonst. Er hat so viel Pech gehabt, es ist mehr als genug.»
«Später will ich in den Motorsport einsteigen. Aber jetzt habe ich noch gute Skijahre vor mir»
Nun lässt Murisier von neuem träumen. Mit dem etwas weicheren Head-Material, das seinem gefühlsbetonten Fahrstil perfekt entgegenkommt, rast er im gleichen Winter auch im Super-G in die Weltelite. «Ich spüre, dass ich auch da Podest-Potenzial habe. Der Super-G kommt meinen intuitiven Fähigkeiten wohl am besten entgegen. Zudem gefallen mir die Speed-Disziplinen von jeher besser. Wenns von den Startplätzen im Weltcup her drinliegt, würde ich gern diesen Winter auch Abfahrten bestreiten. » Das Töfffahrer-Blut kocht. Murisier hat in seinen Jahren des Leidens gelernt. Im Training geht er «weniger mit dem Kopf durch die Wand», organisatorisch kann er sich vorstellen, Unterstützung in Anspruch zu nehmen. Seine Kopfsponsoren hat er selbst akquiriert und dabei erfahren, wie viel Energie Suche und Verhandlungen kosten.
Bei Didier Cuches Karriere findet Justin Murisier Inspiration: «Ich werde bald 30, aber Didier hat seine beste Zeit auch erst deutlich jenseits dieses Alters erlebt. Ich glaube, ich habe noch viele schöne Jahre im Weltcup vor mir.» Und wenns irgendwann vorbei ist mit dem Skisport, will Justin auf den Motorsport setzen. Wer ihn zu Hause beim Training im Val de Bagnes auf der Maschine beobachtet, zweifelt nicht, dass Murisier auch dort reüssieren wird. Und wenns erst im zweiten oder dritten Anlauf ist.