Es gibt Sportler, die sprechen gern und ausgiebig über sich. Und dann gibt es jene, über die eher andere gern und ausgiebig reden. Loïc Meillard, 25, gehört zu Letzteren. Lassen wir diese anderen über ihn reden. Zum Beispiel in der Dokuserie «Bending Gates» von Red Bull, in der die beiden Schweizer Teamleader Meillard und Marco Odermatt ein halbes Jahr lang mit der Kamera begleitet wurden. Odermatt, 24, teamintern grösster Rivale im Kampf um den Gesamtweltcup, sagt darin: «Loïc und ich sind ähnlich, aber auch wieder total unterschiedlich. Er ist unglaublich energiegeladen. Und er hat eine aussergewöhnliche Disziplin.»
Man weiss zwar nicht genau, wo die Ähnlichkeit aufhört und die Unterschiede anfangen. Aber man hört die Hochachtung heraus, die der Innerschweizer für den Romand hegt. Riesenslalom-Teamkollege Justin Murisier, 29, bestätigt Odermatts Charakterisierung Meillards als «energiegeladen» mit dem Begriff «hyperaktiv». Und weist auf einen anderen Wesenszug seines Walliser Kollegen hin: «Skifahren ist ein totaler Egoistensport. Loïc aber schaut manchmal fast zu wenig auf sich selbst. Er ist unglaublich generös mit Tipps, die er uns anderen gibt, überlegt immer auch fürs Team. Ich denke manchmal: Sei etwas egoistischer.»
Der vierte Keyplayer des rot-weissen Riesenteams, Gino Caviezel, 29, beschreibt Meillard so: «Marco ist derzeit der Star der Schweiz, über den alle sprechen. Loïc wird oft unterschätzt. Es fehlt nur ein Hauch, und er wird zum Siegfahrer. Vor allem gefällt mir, wie offen und zugänglich er als Mensch ist. Er redet viel im Team und verbreitet immer positive Stimmung. Medial mag er vielleicht etwas verschlossen wirken, aber das ist nur die Seite, die er gegen aussen zeigt.»
So viel zum Charakter Meillards. Und dann gibt es natürlich die «technische» Seite, jene seiner sportlichen Kompetenzen. Da lässt sich Loïc eher zu einer Selbsteinschätzung hinreissen: «Obwohl ich noch recht jung bin, habe ich schon viel Erfahrung. Meine grösste Stärke ist wohl die Kurventechnik. Und ich kann mich gut in unterschiedliche Anforderungen hineinversetzen. Es gehört ein gutes Gefühl und viel Routine dazu, mehrere Disziplinen nebeneinander erfolgreich zu bestreiten. Die schnelle Umstellung auf ganz unterschiedliche Bewegungsabläufe, auf völlig anderes Material, damit kann ich gut umgehen.»
Es sind nur wenige Skirennfahrer, die die Voraussetzungen mitbringen, echte Allrounder zu sein. So aufwendig es ist, in allen vier Disziplinen vom Slalom bis zur Abfahrt zu trainieren und zu starten. «Im Moment tun sich nur Alexis Pinturault und ich dieses Programm an. Eine Voraussetzung, um eines Tages vielleicht den Gesamtweltcup zu gewinnen. Ein Ziel von mir ist er auf alle Fälle.»
So viel Gradlinigkeit in der Analyse der eigenen Möglichkeiten ist nicht alltäglich. Schon gar nicht für einen Schweizer, und noch weniger für einen, der sagt: «Ich zeige in Interviews selten meine wahre Gefühlslage. Das ist nichts für die Öffentlichkeit.» Aber es ist Welten entfernt von überheblichem PR-Geschwätz in eigener Sache. Denn Helmut Krug bestätigt das schier grenzenlose Potenzial Meillards: «Von der Gabe, der Beweglichkeit, der Technik her ist Loïc für mich der beste Skifahrer der Welt. Was nicht heissen muss, dass er auch der schnellste ist. Marco Odermatt beispielsweise ist der Gefühlsfahrer, der bei einem missglückten Schwungansatz spürt, wie er die Kurve trotzdem noch schnell machen kann. Loïc hingegen ist ein reiner Vollstrecker seines Plans.»
Der einzige Skiathlet, mit dem sich Meillard vergleichen lässt, ist für Krug der Österreicher Günther Mader, der in den späten Achtziger- und frühen Neunzigerjahren Siege in sämtlichen Disziplinen herausfuhr. So weit wie Mader damals ist Loïc Meillard noch nicht. Aber irgendwie lässt einen das Gefühl nicht los, es sei bei ihm wie mit der ominösen Ketchup-Flasche: Zuerst kommt nichts, dann alles, im Übermass. Wobei «nichts» sehr zu relativieren ist. Einen Weltcup-Rennsieg hat er bereits in seinem Palmarès. Wenn auch in der nicht sehr hoch eingeschätzten Sparte Parallel-Riesen. Dazu kommen sieben weitere Podestplätze in Riesenslalom, Slalom und Kombination.
«Im Moment tun sich nur Alexis Pinturault und ich dieses Programm an. Eine Voraussetzung, um eines Tages vielleicht den Gesamtweltcup zu gewinnen. Ein Ziel von mir ist er auf alle Fälle»
Loïc Meillard
Schon früh deutet er an, was man von ihm erwarten darf, als er 2015 und 2017 drei Junioren-WM-Titel im Riesen und in der Kombination gewinnt. Es ist die Konsequenz der grossen Hingabe, mit der Meillards Karriere von klein auf gefördert wird. Zwölf Jahre alt ist Loïc, als die Eltern beschliessen, aus dem Neuenburgischen nach Hérémence ins Wallis umzuziehen, damit die Skikarrieren ihres Sohnes und seiner zwei Jahre jüngeren Schwester Mélanie optimal vorangetrieben werden können.
Beide erreichen tatsächlich bald die Stufe Weltcup. Aber während Mélanie stets aufs Neue durch gesundheitliche Probleme zurückgeworfen wird, setzt sich Loïc bei den Besten durch. Seit seinem Weltcup-Debüt 2015 beim Riesenslalom von Adelboden halbiert er in etwa seinen finalen Saisonrang im Gesamtweltcup jährlich. Von Endposition 104 im ersten Winter schafft er es bis auf Rang 4 in der vergangenen Saison 2020/21. Kontinuität statt sprunghafte Verbesserungen, regelmässige Fortschritte statt Leistungsexplosionen. Lohn der gezielten und seriös geleisteten Aufbauarbeit, eines Plans.
Es gibt ebenfalls in der erwähnten Doku-Serie die Szene, die belegt, wie Loïc Meillard sein riesiges Bewegungstalent mit der nötigen Seriosität zu paaren versteht. An einem Trainingstag mit dem Riesen-Team im italienischen Kronplatz herrschen schwierige Pisten- und Sichtverhältnisse. Im Zielraum unterhalten sich die Fahrer über Gefahren und Risiken des Trainings an diesem Tag – und räumen schliesslich ihr Material zusammen.
Meillard dagegen fährt noch einmal auf den Berg hinauf und absolviert einen weiteren Trainingslauf unter den ungünstigen Bedingungen. Es ist der pure Wissensdrang, wie die eigenen Grenzen noch mehr Richtung Perfektion verschoben werden können. «Manche sagen, ich hätte fast einen akademischen Fahrstil, sei zu sehr auf der Suche nach der vollkommenen Bewegung auf Ski. Vielleicht muss ich mich ja etwas mehr gehen lassen», mutmasst Loïc.
Es ist das kleine Spürchen Unzufriedenheit, das ein anderes Phänomen bei ihm hinterlassen hat: So oft wie wohl wenige beendet Meillard Rennen auf vierten oder fünften Plätzen. «Natürlich stehe auch ich lieber auf dem Podest als knapp daneben. Und es wurmt mich manchmal, andere jubeln zu sehen», sagt der leidenschaftliche Hobby-Naturfotograf. «Aber ich kann es ja auch positiv werten: als Beweis meiner Konstanz. Die Podestplätze müssen so irgendwann regelmässig kommen und dann hoffentlich auch der erste Sieg in einer ‹grossen Disziplin›.»
«Vielleicht muss ich mich auf den Ski etwas mehr gehen lassen»
Aber wo beginnt das siegen am ehesten? Im Slalom, traut man Loïc Meillard zu, im Riesenslalom sowieso. Und mehr und mehr auch im Super-G. Die ausgeprägte Vielseitigkeit, die bisher möglicherweise seine ersten grossen Rennsiege verzögert hat, ist sein Trumpf im Gesamtweltcup.
Dass er bei der WM dieses Frühjahr in Cortina d’Ampezzo zwei Bronzemedaillen in der Kombination und im Parallelrennen geholt hat, ist Indiz für seine grosse Stärke, die eben auch ein wenig Schwäche sein kann. «Ich habe mich von Anfang an als Allrounder gefühlt. Aber weil der Trainingsaufwand enorm ist, gerade auch physisch, habe ich mich zuerst etwas mehr auf die technischen Disziplinen konzentriert», erklärt Meillard. «Nun aber habe ich mehr und mehr Lust auch auf die Tempodisziplinen. Ich habe auf den Slalom- und Riesenslalomski inzwischen so viel Sicherheit, dass ich mich vermehrt auf die Super-G- und Abfahrtsbretter wage. Im Training sehe ich, dass ich, abgesehen vom Gleiten, recht gut mit den Spezialisten mithalten kann. Und schliesslich habe ich mich im Riesen ja auf den flachen Passagen ebenfalls sehr verbessert.»
Was das für die Weltcup-Gesamtwertung bedeutet, kann man sich leicht vorstellen. Das Beispiel Pinturault zeigt es. Kommt dazu, dass mit Marco Odermatt ein enger Kollege richtungsweisend ist: «Er ist ein harter Konkurrent um die grosse Kugel, klar. Aber diese Situation hilft uns beiden, weil wir wissen, dass wir in jedem Training und Rennen voll attackieren können, da wir den besten Massstab in nächster Nähe, im eigenen Team haben.»
Loïc Meillard – vielleicht mit Pinturault der letzte «echte» Allrounder im Weltcup. Weshalb das so ist? Er könnte ausufernd analysieren. Aber weils auch mit der Persönlichkeit zu tun hat, spricht er wenig darüber. Das überlässt er anderen.