Wie eine Wand. So kam es Laurien van der Graaff, 34, vor. Plötzlich hat sie dieses Bild im Kopf. Bis hierhin und nicht weiter. Das wars. Zeit, etwas Neues zu beginnen. «Ich war froh, spürte ich es so deutlich, dass der Rücktritt vor mir steht. So kann ich dieses Kapitel besser abschliessen», sagt die Davoserin. Zusammen mit ihrer Teamkollegin und Silberpartnerin Nadine Fähndrich, 26, hat sie sich ein paar Tage vor Saisonbeginn im hohen Norden Zeit für ein Gespräch genommen.
Noch ist ihre Form nicht da, der Kopf wohl auch nicht. Sie zuckt mit den Schultern, mag nicht ins Detail gehen. Schon gar nicht klagen – und lächelt ihr Unbehagen weg. Erst vor ein paar Tagen hat sie ihren Rücktritt öffentlich gemacht, der nach der Olympiasaison Tatsache wird. Und war überrascht, wie viele Menschen sie damit berührte. «Für mich war es schon eine Weile klar. In meinem Umfeld wussten es alle. Irgendwann habe ich es öffentlich ausgesprochen. Und erst dort realisiert, dass es für alle noch Neuigkeiten sind. Am nächsten Morgen war mein Handy voll mit Nachrichten.»
Nadine Fähndrich lächelt. Sie musste lange dichthalten, wusste bereits Anfang Sommer, dass ihre Freundin nur noch eine Runde dreht, eine letzte Saison fährt. Vor dem Exploit der beiden gab es 34 Jahre lang keine Schweizer WM-Medaille bei den Frauen. 1987 holte Evi Kratzer – ebenfalls in Oberstdorf – die Bronzemedaille über fünf Kilometer klassisch. In jenem Jahr waren die Frisuren schrecklich, Johnny Logan gewann für Irland mit «Hold me now» den Eurovision Song Contest, und acht Monate nach Kratzers Triumph kam im niederländischen Nieuwkoop Laurien van der Graaff auf die Welt.
Bewusst, dass das Zeitfenster für Profisport begrenzt ist
«Klar ist es schade, dass sie aufhört», sagt Fähndrich. «Wir sind ja oft zusammen unterwegs und haben viel Zeit zusammen verbracht. Aber wenn es für sie stimmt, ist es gut. Ich bin gespannt, wie es nächste Saison wird. Ich kann es mir nur schwer vorstellen.» Die 26-jährige Luzernerin feierte in der vergangenen Saison neben dem Coup in Oberstdorf einen Weltcupsieg im Einzel und beendete den Sprint-Weltcup als Gesamtzweite. Sie weiss um ihr Potenzial für weitere grosse Siege. Und ihr ist gleichzeitig bewusst, dass ihr Zeitfenster begrenzt ist. «Damit setze ich mich natürlich auseinander. Profisport ist nicht für immer. Das habe ich dieses Jahr mit mehreren Rücktritten stark mitbekommen.»
Es gibt Dinge, die Laurien van der Graaff nicht fehlen werden. «Trainings, die du nicht gern machst, Tage, an denen du lieber ausgeschlafen hättest. Aber das meiste wird mir fehlen. Ich bin gern mit den Leuten unterwegs. Immer noch. Ich habe viele Freiheiten genossen. Es ist ein Super-Leben.» Sie sagt, sie werde in den kommenden Monaten sicher etwas mehr nach links und rechts schauen. Eine Art Achtsamkeits-Training für emotionale Souvenirs. «Dieses Gefühl vor der Saison, wenn wir in den Norden fliegen. Dorthin, wo es den ganzen Tag dunkel ist. Du gehst da hin und hast diese Vorfreude, wenn du am Morgen die anderen triffst. Das werde ich vermissen.»
Nadine Fähndrich nickt. «Mit Laurien verbindet mich viel. Wenn wir zusammen im Zimmer sind, einander gute Nacht sagen und uns dann doch noch eine Stunde lang im Dunkeln unterhalten übers Rennen, das nächste Essen, Gott und die Welt, das wird mir fehlen.» Die Davoserin hat ihr immer gesagt: Nimm den Sport nicht persönlich. «Ich fragte mich, warum sie das sagt. Weil ich ja verantwortlich bin für meine Leistung, gute oder schlechte Rennen. Jetzt verstehe ich, was sie meint. Es gibt einen Unterschied zwischen dem, wer du bist, und dem, was du erreichst oder tust. Ich kann darum besser mit Erfolg und Niederlagen umgehen.»
Auch Laurien konnte von der jungen Mitstreiterin profitieren. Wenn sie beobachtet, wie sie läuft, das Training macht. Wie sie dabei ist, alles gibt. Das hat sie beeindruckt. Es gab Momente, in denen sie sich sicher war: Dies oder jenes funktioniert nicht. «Aber sie hat mir oft das Gegenteil bewiesen. Das war Ansporn, mich auszureizen. Das Kraftvolle, Starke ist sehr beeindruckend.»
Die Winterspiele in Peking sind der Höhepunkt der Saison. Beide wollen sich aber nicht verrückt machen lassen. «Natürlich ist Peking mein grosses Ziel. Ich habe im Sommer gut gearbeitet, um da in Topform zu sein», sagt Nadine Fähndrich. Sie rechnet sich im Einzel viel aus. Gerade im Team-Sprint gibt es aber Fragezeichen. «An Olympia wird er im klassischen Stil gelaufen», sagt Fähndrich. «Alle Team-Sprints, bei denen wir Erfolg hatten, waren aber Skating-Rennen. Vor Olympia gibt es auch keinen klassischen Team-Sprint mehr. Von daher ist es schwierig zu sagen, wo wir stehen. Vielleicht hilft das ja. Wir können ohne Druck unser Bestes geben.»
Laurien mag Erfolg nicht aufs Podest fixieren. Ein achter Rang kann gut sein. Aber es sei gerechtfertigt, wenn die Leute aufs Podest schielen. «Wenn du Spitzensport machst, geht es nur um diesen Vergleich. Es gibt keine Nuancen.» Trotzdem: Dem Verständnis vieler Menschen, wie eine Karriere abzuschliessen ist – auf dem Höhepunkt der Leistungsfähigkeit und wenn möglich an einem Grossanlass –, kann sie nicht viel abgewinnen. «Viele Leute denken sich, dass es das perfekte Szenario ist. Aber für mich geht es nicht darum, ob ein Olympiajahr ist oder nicht. Es ist nur die Frage, ob es sich richtig anfühlt. Ob ich damit leben und abschliessen kann.» Darum versteht sie Roger Federer, der sich auch nicht zu einem Abschiedsdatum durchgerungen hat. Niemand sollte ihm sagen, wann es Zeit sei. Das müsse jede und jeder selber spüren. 2019, in einer grossen emotionalen und körperlichen Krise, überlegte sich Laurien den Rücktritt. «Ein Fussballer sagte mir: Hör nicht auf! Hör nicht auf! Wenn du zweifelst, ist es nicht gut.»
Der Luxus, keinen konkreten Plan haben zu müssen
Nadine ist ungeduldig, bis es endlich losgeht, und weiss, dass damit gleichzeitig das Ablaufdatum ihrer gemeinsamen Zeit näherrückt. «Umso mehr geniessen wir, was uns bleibt.» Für Laurien war der Fahrplan all die Jahre immer etwa gleich. Es gab einen roten Faden, der ihr Leben bestimmte. Den Sport. Jetzt freut sie sich auf den Luxus, keinen konkreten Plan haben zu müssen. «Ich will nicht vorgreifen. Vielleicht kommt alles anders im Frühling. Vielleicht etwas Unerwartetes», sagt sie.
Sie hat mit Gedanken gespielt. Geht es in diese Richtung? Soll ich das machen? Was sind nur Träumereien? «Ich habe es abgestellt, denn ich brauche die Energie für die Saison», sagt sie. Sie freut sich auch auf das Ende. Vielleicht werde sie kurz eine Leere verspüren. «Aber wie ich mich kenne, werde ich in etwas Neues hineinspringen.» Sie weiss, es kommt etwas, das den leeren Platz einnehmen wird.