Mauro und Gino Caviezel, was ist Ihre erste Erinnerung ans Skifahren?
Gino: Erinnerung ist schwierig, aber Fotos gibt es. Ich stand mit circa eineinhalb Jahren erstmals auf Ski. Und auf Video habe ich gesehen, dass ich mit gut zwei Jahren Mauro hinterhergefahren bin. Hingegen kann ich mich erinnern an unser erstes Rennen in Paspels im Domleschg. Ich wurde damals disqualifiziert, weil ich zu jung war. Ich durfte dann trotzdem aufs Podest als Zweiter hinter Mauro.
Mauro: Ich erinnere mich an das Skigebiet in Tschappina am Heinzenberg, wo wir Ski fahren lernten. Mit der Familie zusammen etwas zu unternehmen, war grossartig. Das Geräusch vom Knistern im Schnee, wenn es kalt war. Das habe ich im Kopf.
Wer von Ihnen ist der bessere Verlierer?
Mauro: Wir verlieren beide nicht gern. Ich bin vielleicht etwas der Ruhigere, Gino der Impulsivere. Darum kann ich wahrscheinlich etwas besser damit umgehen.
Gino: Wir hatten immer wieder gegenseitige Vergleiche, glücklicherweise auch im Weltcup. Und ja, es stimmt, ich bringe mehr Emotion mit. Verliert Mauro, will er unbedingt sofort eine Revanche, damit er mit einem Sieg heimgehen kann. Egal bei welchem Spiel oder Rennen. Er gönnt mir den Sieg oft nicht. (lacht)
Was kann Ihr Bruder besser als Sie?
Gino: Besser Abfahrt fahren. Nein, ernsthaft: Er hat halt diese Ruhe. Er ist abgeklärter als ich, vielleicht reifer. Er hat ganz einfach einen anderen Charakter. Im Sport hilft ihm diese Ruhe sicher.
Mauro: Wir sind zwar beides Familienmenschen. Aber Gino pflegt den Familien- und Freundeskreis besser als ich. Er ruft mal an, meldet sich und zeigt den Menschen, wie wichtig sie ihm sind. Er ist ein Herzensmensch, der das aktiv macht. Ich mache das zwar auch, aber ich kann von ihm ganz sicher dazulernen.
Wo ticken Sie beide gleich?
Mauro: Wenn es um die Familie geht. Wir wollen, dass es allen in unserem Umfeld gut geht. Wir haben das Herz auf dem rechten Fleck. Das haben wir so von unseren Eltern mitbekommen. Wir sind privilegiert, dass wir so aufgewachsen sind.
Gino: Wir haben beide Füsse am Boden. Wir sind ehrgeizig. Der Wille ist einfach da. Wenn wir umfallen, stehen wir wieder auf. Das ist auch nach Verletzungen so.
Welcher Bruder ist der Liebling der Schwestern Sandra und Giannina und warum?
Mauro: Wir sind uns alle nah. Gino steht der jüngeren Schwester Giannina noch ein wenig näher, weil es die Zwillingsschwester ist. Das ist immer ein spezielles Verhältnis. Dazu sind es zu mir vier Jahre Altersunterschied. Die zweite Schwester Sandra ist hingegen nur ein Jahr älter als ich.
Gino: Ich glaube nicht, dass das Verhältnis zwischen mir und Giannina völlig anders ist. Aber wir hatten viel gemeinsame Zeit. Im KV hat sie mir bei den Aufgaben geholfen, respektive die Arbeit gezeigt, wenn ich etwas verpasst hatte. Wir verstehen uns aber alle sehr gut.
In welchem Moment des Lebens war Ihr Bruder sehr wichtig?
Mauro: Eigentlich war und ist Gino immer sehr wichtig. Wir sind Brüder, die das auch leben. Auch wenn wir im Winter ein unterschiedliches Programm haben, sind wir täglich in Kontakt, können uns in den anderen hineinversetzen.
Gino: Mauro war in meiner gesamten Laufbahn wichtig. Sei es als kleiner Bub, der mich überallhin mitnahm, oder später. Ich habe immer zu ihm aufgeschaut. Er machte bei Verletzungen auch schwierige Erfahrungen, die ich nicht machen musste. Aber ich konnte durch ihn lernen.
Was haben Sie voneinander gelernt?
Mauro: Der Lernprozess ist dauerhaft und passiert fast überall. Ob das im Konditionsbereich ist, oder wenn ich von seiner Riesenslalom-Technik etwas abschauen will, bis hin zum Material. Seine emotionale Art kann mich von Fall zu Fall auch inspirieren.
Gino: Von ihm habe ich gelernt, den eigenen Weg zu gehen, Entscheidungen zu treffen und dazu zu stehen. Schau nicht zu viel links und rechts. Und lass nicht alles an dich heran.
Was würden Sie machen, steckten Sie für einen Tag in der Haut des Bruders?
Gino: Dann würde ich 200 Kilo mit Kniebeugen heben wie er. (lacht) Nein, es wäre spannend, in seinem Körper zu stecken. Zu spüren, wie sich das anfühlt, wo die Handicaps sind, die er über die Jahre kompensieren und verbessern musste. Und trotzdem zum Siegfahrer wurde.
Mauro: Es wäre interessant, ja. Zu merken, wie er innerlich tickt. Und zu verstehen, warum er morgens nicht aus dem Bett kommt. (lacht) Ob er wirklich so im Tiefschlaf ist. Ich bin ja eher der Frühaufsteher und der Frühzubettgeher. Bei ihm ist es umgekehrt.
Wer ist das grössere Nervenbündel?
Mauro: Schwierig zu sagen. Wir hatten beide schon Situationen, in denen wir Nerven brauchten. Und wir waren beide schon Nervenbündel.
Gino: Ganz klar, dass Mauro das grössere Nervenbündel ist… (Augenzwinkern) Er war einmal im Kitzbühel am Start und sagte mir im Ziel: Heute musste ich schauen, dass ich den Puls und die Spannung hochkriege. (lacht) Seinen Puls hochkriegen? Wenn du in Kitzbühel am Start stehst und die Spannung und der hohe Puls nicht da sind, dann weiss ich nicht, wie du das noch hinkriegen willst.
Wer ist der bessere Businessmann?
Gino: Das ist interessant. Wir haben ja täglich mit der Firma des Vaters, Swissflex Eyewear, zu tun. Mauro wird hundertprozentig mal ein guter Businessmann. Wenn er eine gute Idee hat, zieht er sie durch. Ich sehe mich eher im Verkauf.
Mauro: Wir wissen beide nicht im Detail, was unsere Rolle sein wird. Aber das Tüfteln und Testen, um das Beste herauszuholen, liegt uns – auch durchs Skifahren – natürlich im Blut.
Was ist das Schlimmste, Lustigste, Wildeste, das Sie als Kind angestellt haben?
Mauro: Ich erinnere mich, dass es immer hiess: Mauro, klettere nicht auf die Mauer! Ich machte es dann doch. Und fiel hinunter. Mit blauen Flecken und einem blauen Auge. Davon gibt es Fotos. Ich habe die Grenzen immer etwas verschoben.
Gino: Es gibt viele Geschichten. Ich war als Junger ständig unterwegs. Ob beim Skifahren mit Sprüngen oder sonst wo. Da ging es wild zu und her. Auch beim Motocross. Wir sind einmal auf einer richtigen Motocross-Strecke gefahren. Obwohl ich mit den Füssen den Boden nicht erreichte, gab ich Gas, wurde immer schneller, fuhr auf einen Sprung zu. Alle schauten wie versteinert zu. Es funktionierte, ich blieb oben. Das war etwas verrückt.
Erzählen Sie vom Moment, wo der Bruder das erste Mal auf dem Podest stand.
Gino: Das erste Podest für Mauro war die Bronzemedaille an der WM 2017 in St. Moritz. Daran erinnere ich mich sehr gut. Die ganze Familie war vor Ort. Ich war der Einzige daheim in Lenzerheide, weil ich die Vorbereitung auf den Riesenslalom machte. Ich verfolgte sein Rennen am Fernsehen. Es war eine brutale Emotion. Ich schrie. Ich hatte danach keine Stimme mehr. Daheim an einer WM eine Medaille – das war unglaublich. An diesem Abend noch fuhr ich nach St. Moritz an die Rangverkündigung. Es waren Super-Emotionen.
Mauro: Bei Gino kann ich mich nicht mehr erinnern. (lacht) Nein, ich scherze. Natürlich war es unglaublich. Ich weiss, was in ihm vorgeht. Ich weiss, was er kann. Es hätte schon lange passieren müssen. Und im vergangenen Jahr hat es im Eröffnungsrennen in Sölden geklappt. Im ersten Lauf führte er, und ich konnte erahnen, was in ihm vorging. Dass er dann aber das Podest ins Ziel brachte, löste viel bei uns aus. Ich hatte eine Riesenfreude. Weil ich weiss, wie viel es braucht. Es ist eine schöne Erlösung. Ich weiss auch, dass es für ihn nicht immer einfach war, wenn es bei mir klappte. Damit musst du umgehen können. Und das konnte er. Es hätte auch umgekehrt sein können.