Still sitzen und Geduld haben – das sind nicht Aline Danioths Stärken. «Alles, was ich gern mache, hat mit Action und Bewegung zu tun», sagt die 23-Jährige. «Ich lese nicht gern, schaue nicht gern fern, liege nicht gern rum.» Still sitzen und Geduld haben – dazu war Danioth in den vergangenen Jahren immer wieder verdammt. Und so gezwungen, ihre Karriere aus neuer Perspektive zu betrachten.
Die Urnerin aus Andermatt fährt Ski, seit sie zwei Jahre alt ist. Die Liebe zu Natur und Piste liegt in ihren Genen: Ihr Vater ist Pisten- und Rettungschef von Andermatt, ihre Mutter fuhr FIS-Rennen. Auch Aline fährt früh Rennen, geht mit zum Skitouren oder Freeriden mit dem Bruder – die heimischen Berge sind für sie Spielplatz, Abenteuerwelt und Trainingsgelände zugleich. «Skifahren bedeutet für mich Heimat und Freiheit. Es ist das beste Gefühl und mit nichts vergleichbar.»
Die Technikerin macht schnell Fortschritte. Mit 17 Jahren holt sie an Jugendolympia vier Medaillen, dazu Junioren-WM-Gold in der Kombination. Sie ist auf der Überholspur – bis sie Ende 2016 einen Kreuzbandriss erleidet. Sie kämpft sich zurück und deutet auf Elite-Stufe ihr grosses Potenzial an: An der WM in Åre 2019 wird sie im Slalom 15. und ist Teil des Teams, das Gold holt. Im Weltcup schafft sie in der folgenden Saison zwei Top-ten-Plätze, bevor im Januar 2020 wieder das Kreuzband reisst – diesmal im rechten Knie.
Es ist der 13. Oktober 2020, als Aline Danioth auf der Diavolezza im Engadin für den Saisonstart trainiert. Die Slalom-Spezialistin hat gerade sieben Monate Reha, intensives Aufbau- und zwei Monate Schneetraining hinter sich. «Es lief super, ich war wieder richtig fit.» Dann passierts: Danioth stürzt und verletzt sich erneut am Kreuzband, zudem am Innenmeniskus. Es ist die vierte schwere Verletzung in ihrer noch jungen Karriere. Als beim Arzt herauskommt, dass sie zwei Operationen braucht – eine nur schon, um die Bohrkanäle des ersten Eingriffs zu füllen – und klar wird, dass sie wieder ein Jahr nicht Ski fahren kann, denkt sie: Das schaffe ich nicht mehr. «Der seelische Schmerz, wenn du weisst, es fängt alles wieder von vorn an, war schlimm. Ich bin ein emotionaler Mensch und habe viel geweint in den paar Tagen.»
Im Innersten weiss sie schnell, dass sie sich ein Leben ohne Skifahren nicht vorstellen kann. Doch sie nimmt sich Raum und Zeit für die Entscheidung und die Kommunikation, «um zu schauen, ob mir das ‹normale› Leben vielleicht doch zusagt».
«Mir wurde bewusst, dass ich nicht so schnell wie möglich, sondern vor allem noch so lange wie möglich Ski fahren will»
Als Danioth im Herbst 2020 die erste Operation hinter sich hat und die Krücken los ist, macht sie eine Reise, welche im Spitzensportler-Alltag sonst keinen Platz hat: einen Sprachaufenthalt in Hawaii – um räumlich und im Kopf Abstand zu gewinnen. Wer nun an sonnenbaden, am Strand liegen und ans süsse Nichtstun denkt, kennt Aline Danioth wenig. Um sich die Comeback-Möglichkeit offen zu halten, steht sie täglich um sechs Uhr auf und absolviert ihr Krafttraining. Damit sie danach Zeit hat für anderes: wandern, surfen, Yoga. Ihr Vorhaben, mal nicht übers Skifahren zu sprechen, scheitert kläglich: «Jeder fragte: Ah, du bist Schweizerin, kannst du Ski fahren?», sagt sie und lacht. «Ich habe gern erzählt und gemerkt, dass Skifahren zu mir gehört und ich nicht ohne sein kann.»
Zurück in der Schweiz nimmt Danioth, welche unter der Woche in Steinhausen ZG ein Studio bewohnt, das Training im Leistungszentrum «On your marks» in Cham ZG wieder auf. Nach Einheiten auf dem Therapielaufband im Wasser und Physiotherapie folgen Kraftaufbau und Schneetrainings. Ihr Knie hält selbst extremen Belastungen ohne Kreuzband so gut stand, dass Danioth den OP-Termin absagt, um eine erneute Pause und Reha zu vermeiden. Doch kurze Zeit später der Sinneswandel. «Mir wurde bewusst, dass ich nicht so schnell wie möglich, sondern vor allem noch so lange wie möglich Ski fahren will.»
Aline Danioth, wie hat Ihr Umfeld auf die Fortsetzung Ihrer Karriere reagiert?
Für meine Eltern war es schwierig, mich so oft verletzt zu sehen. Mami sagte, es sei schlimm für sie, mich leiden zu sehen. Sie fragten mich, ob ich nicht etwas anderes machen möchte. Ich dachte darum eine Weile, dass ich es meinem Umfeld nicht weiter zumuten kann, diesen Weg nochmals zu gehen. Aber als ich ihnen erklärte, wie glücklich mich das Skifahren macht, verstanden sie es und unterstützten mich.
Wie haben die Verletzungen Sie verändert?
Ich habe meine Emotionen besser im Griff, bin ausgeglichener. Mein Naturell ist es zwar noch, dass ich gefühlsbetont bin. Aber ich habe eine Balance.
Können Sie dem vergangenen Jahr mittlerweile gar etwas Positives abgewinnen?
Ich habe sicher viel gelernt. Auch Dinge, die für andere 23-Jährige wahrscheinlich normal sind, aber in einem Spitzensportlerleben zu kurz kommen. Einkaufen, um sich selber zu ernähren, die Wohnung putzen, den ganzen Haushalt machen – da war ich zu Beginn überfordert. Zudem habe ich viel hinterfragt und gemerkt, was ich brauche.
Zum Beispiel?
Es ist eine Gratwanderung zwischen Aktivität und Ruhe im Spitzensport. Das ist manchmal schwierig für mich. Ich habe das Gefühl, eine zehnstündige Bergtour gibt mir Kraft. Aber klar nimmt sie mir, physisch gesehen, auch Energie. Deswegen habe ich eine Weile auf diese Dinge verzichtet und fast nur noch im Kraftraum trainiert. Dann habe ich gemerkt: Das gehört zu mir, ich brauche das.
Wie vermeiden Sie, sich zu übernehmen?
Ich habe mit den Trainern eine gute Lösung gefunden: Auf dem Plan habe ich zwei Tage pro Woche frei: der eine ist ganz Pause, am anderen mache ich etwas Aktives für mich.
Es ist Mitte Oktober, 367 Tage nach dem Sturz: der erste Skitag für Danioth. Einen Monat später ist sie bei acht Tagen. «Ich hatte wohl noch nie so viel Spass beim Skifahren. Der Kampf hat sich bereits jetzt gelohnt.» Sollte ihr Fortschritt einmal ins Stocken geraten, erinnert sie sich an die Worte von Riesenslalom-Weltmeisterin Sonja Nef, mit der sie aufgrund ähnlicher Verletzungsgeschichten das Gespräch suchte. «Auch wenn der Funke Hoffnung noch so klein ist, kann daraus wieder ein Feuer werden! Und sollte es einmal Unsicherheiten geben, ist das ganz normal und kein Grund zur Sorge.»
Für das Renn-Comeback schwebt Danioth der Slalom in Lienz im Dezember vor. «Doch das Wichtigste ist, dass ich erst starte, wenn ich bereit bin.» Sie hat Geduld gelernt – ohne dabei ihr leidenschaftliches Wesen und ihre ungestüme Skiliebe zu unterdrücken.