Gefahr! Das ist es, was der Körper rund um einen Rennkurs ständig signalisiert. Vielleicht ist es der ohrenbetäubende Lärm, der einen in diesen Zustand versetzt, vielleicht die Geschwindigkeit, mit der die Maschinen aus dem Nichts über die Hügel preschen. Die schiere Kraft und Gewalt, der es auszuweichen gilt, weil sie kaum auszurechnen ist. Im Sturmlauf also zu Fuss über die Trainingspiste, durch den Sand auf eine sichere Anhöhe. Dann fliegt die Nummer 91 durch die Luft. Jeremy Seewer, der 25-jährige Bülacher, der WM-Zweite der vergangenen Saison, schlägt mit beiden Rädern auf dem Boden auf, beschleunigt, dann entschwindet er hinter der nächsten Sanddüne. Riola Sardo, eine Motocross-Strecke im Westen Sardiniens, ein paar Kilometer nur vom Meer entfernt. Hier, zwischen Büschen und Hügeln, trainiert im Januar die Weltelite für die neue Saison. Aber von Welt ist das nicht. Die meisten Teams haben nur kleine Transporter dabei, keine luxuriösen Mobile Homes. Motocross bedeutet Camping-Atmosphäre, ein Universum von Dreck und dröhnenden Motoren. Auf dem grossen Kiesplatz zwischen den Autos schrauben Mechaniker an den Maschinen. In der Mitte steht eine kleine Hütte mit Plastikstühlen, wo es Piadine gibt. Wahrscheinlich die besten des Planeten. Sicher aber bis Oristano, der nächsten Stadt.
Seewer rast über eine Welle in Richtung einer Kurve. Dort hat sich ein Fahrer mit seiner Maschine in den Sand gelegt. Seewer verlangsamt, fragt, ob alles in Ordnung sei. Dann heult sein Motor auf, und er fährt weiter. Zehn Minuten später lässt er sich in einen Stuhl fallen. Heftige Böen wehen vom Meer her. Seewer zieht sich den Kragen in den Nacken. «Risiko? Ich habe gelernt, es besser abzuwägen», sagt er. «Bis 18 kannte ich das nicht. Bis dahin blendet man es aus. Alles geht – denkst du.» Vor zwei bis drei Jahren fing es an, dass er mehr zu überlegen begann. Unterschätze ich diese Kurve nicht? Kann ich das alles Vollgas fahren? Was passiert, wenn es nicht aufgeht? «Ich fahre heute taktischer», sagt Jeremy. «Ich muss einen Plan B im Gepäck haben, nicht nur Vollgas.» Es gibt ein Leben danach.
”Die Maschine ist unbezahlbar. Die Arbeit und das Wissen kann man mit Geld nicht beziffern“
Jeremy Seewer
Im Herbst vergangenen Jahres wird das der Szene mit einem Schlag wieder bewusst. Der ehemalige WM-Fahrer Aleksandr Tonkov stürzt bei einem Rennen auf der Halbinsel Kamtschatka im Osten Russlands so heftig, dass er schwere Wirbelverletzungen erleidet. Er wird nach Moskau geflogen, wo mehrere seiner Brust- und Halswirbel mechanisch stabilisiert werden. Tonkov hat Glück, dass er nicht im Rollstuhl landet. Zwischen Triumph und Tragödie liegt ein schmaler Grat.
Seewer steht vor seiner zweiten Saison im Werksteam von Yamaha, seiner dritten Saison in der Königsklasse MXGP. 2019 trennen ihn und den slowenischen Weltmeister Tim Gajser in der Endabrechnung über 200 Punkte. «Zu Beginn kämpfte ich mit stumpfen Waffen», sagt Seewer. «Vor dem ersten Rennen lag ich mit einer Lungenentzündung im Bett. Nur schon die Treppe nach oben ins Zimmer war eine Herausforderung. Danach brauchte ich Zeit und Geduld. Zum Glück gab es nach den ersten paar GPs eine fünfwöchige Pause. Da konnte ich physisch aufholen. Danach lief es.» Sechs Mal steht er auf dem Podest. Dieses Jahr soll es noch besser werden.
70 Prozent Fahrer, 30 Prozent Maschine machen in dieser Motorsport-Sparte den Erfolg aus – heisst es. Nicht wie in der Formel 1 oder bei den Strassenmaschinen, wo der fahrbare Untersatz entscheidet, wer zu der Handvoll Stars gehört. Seewer schaut hinüber zu seinem Motorrad, das aufgebockt in der Sonne glänzt. Bis Saisonbeginn muss die Abstimmung perfekt sein. Vom Material her ist seit Jahren fast alles ausgereizt. Es wird immer schwieriger, etwas zu finden, was ein anderer noch nicht hat.
«Die Maschine ist unbezahlbar. Viele Teile kann man gar nicht kaufen. Der reine Materialwert liegt vielleicht bei 75 000 Franken. Aber die Arbeit und das Wissen, das in der Maschine stecken, kann man mit Geld gar nicht beziffern. Das ist alles exakt auf mich abgestimmt.» Hier eine Karbonabdeckung, damit der Stiefel nicht im Loch hängenbleibt, da zwei Fussraster aus Titan, der Bremshebel ist aus speziellem Kunststoff und abgeschliffen, auf Seewers Hand angepasst. Ein Puzzle aus tausend Dingen. Von der Elektronik gar nicht zu reden.
Volker Lindner ist Seewers persönlicher Mechaniker im Werksteam von Yamaha. In den dreieinhalb Wochen, welche die Crew auf den unterschiedlichen Strecken auf Sardinien trainiert, ist er Seewers wichtigste Ansprechperson. «Die Maschinen sind leistungsmässig ausreichend», sagt er und grinst. Er weiss, dass dies eine gnadenlose Untertreibung ist. Die 450-ccm-Maschinen mit 70 PS sind wahre High-Tech-Geschosse. «Mehr Leistung kannst du kaum umsetzen. Wir können nur noch schauen, dass das Fahren leichter wird.» Seit 2019 arbeitet er mit Seewer. «Er ist fortgeschritten, weiss, was er will, hat ein hohes technisches Verständnis. Auf spezifische Fragen kommt bei ihm eine detaillierte Antwort. Dabei ist es nicht so einfach, die Technik zu verstehen. Heute testen wir die Federung. Er will eine andere haben. Sein Feedback kommt sehr präzis.»
Das Niveau im Motocross-Sport hat sich in den vergangenen Jahren nochmals erhöht. In der Klasse MX2 wurde das Alterslimit auf 23 Jahre festgesetzt. Wer es danach nicht auf einen begehrten Stuhl in der Königsklasse MXGP schafft, für den hört auf der Reise nach Jerusalem die Musik abrupt zu spielen auf. Es gibt keine Rückfallposition wie für Tom Lüthi, der nach dem missratenen Abenteuer in der MotoGP zurück in die Moto2 wechselte. «Das sind alles junge Kerle», sagt Lindner. «Für ihre Karriere geben sie alles, denken nur an den Moment. Sie haben ein anderes Risikoverständnis. Darum ist alles am Limit. Und wenn es jedes Jahr junge Leute da hineinspült, die eine andere Risikobereitschaft haben, die sich beweisen wollen, dann wird die Luft dünn. Nur: Tollkühnheit allein reicht nirgends hin. Erfahrene Piloten wie Jeremy lösen die Probleme anders. In der ersten Kurve nach dem Start beispielsweise musst du ganz stark sein, da muss alles passen. Das kann Jeremy wie kaum ein anderer.»
”Ich muss nicht Weltmeister werden, auch wenn es natürlich mein Traum ist “
Jeremy Seewer
Am nächsten morgen macht sich Seewer zu einer Radtour mit dem Italiener Alberto Forato bereit, einem befreundeten MX2-Piloten. Die Fahrt durch die Hügel der Region soll der Erholung dienen. «Denn was wir dem Körper abverlangen, ist im Grenzbereich. Auch im Training liegt der Puls ständig bei 190. Es geht in die Waden, Beine, in den Rücken. Die Belastungen für den Körper sind extrem.» Er hat sich der grösseren, leistungsstärkeren Maschine angepasst, im Schulterbereich an Muskelmasse zugelegt.
Ständig geht es ums Optimieren, um die paar Prozent, die es irgendwie noch herauszuquetschen gilt. «Es ist ein Riesenpuzzle, das ich lösen muss», sagt er. Auf der Maschine muss er auch an schlechten Tagen die Leistung bringen. Totaler Fokus, ohne zu verkrampfen. Einfacher gesagt als getan. Denn die Werksteams leisten sich die Fahrer nur, solange sie eine reelle Chance auf Siege und den Weltmeistertitel haben. «Ich muss jetzt nicht Weltmeister werden», sagt er trotzdem, «auch wenn es mein Traum ist. Ich muss die Balance zwischen Entspannung und Druck finden.» Und er fügt an: «Manchmal gibt es auch Tage, da habe ich einfach die Schnauze voll und will an etwas anderes denken. Irgendwann ist der Bogen überspannt.»
Gerade war seine belgische Freundin Dagmar für ein paar Tage auf Besuch. Dann sprechen sie über andere Dinge. Sie hat den Masters-Abschluss in Marketing und Kommunikation, dazu Grafikdesign studiert, eine eigene Firma. Auch Seewer will sich später in einem neuen Feld versuchen. «Drei, vier Jahre gebe ich mir hier schon noch. Aber viel älter als 30 werde ich auf der Rennstrecke nicht.»
”Am Limit mit der Maschine. Dann existiert nichts anderes auf der Welt. Ich bin frei“
Jeremy Seewer
An der Südspitze der Halbinsel Sinis liegt Tharros, eine der wichtigsten Ausgrabungsstätten Sardiniens, wo phönizische, karthagische und römische Häuser und Mauern freigelegt wurden. Jeremy Seewer sitzt in einer Cafeteria in der Nähe und rührt in seinem Espresso. «Ah, schau, grande Tim», sagt er und nickt mit dem Kopf Richtung Fenster. Auf einem Mountainbike fährt Tim Gajser vorbei, der Weltmeister. «Er ist körperlich eine ziemliche Maschine, im Kopf sehr stark», sagt Seewer anerkennend. Der Titel geht wohl auch 2020 über den Slowenen. Im Prinzip ist mit allen Werksfahrern von Yamaha, Honda, Kawasaki, KTM und Husqvarna zu rechnen. Neben Gajser (Honda) und Seewer (Yamaha) haben der Holländer Jeffrey Herlings (Weltmeister 2018), die italienische Legende Antonio Cairoli (7-facher Weltmeister) und der erst 19-jährige spanische MX2-Champion Jorge Prado García (alle KTM) die besten Chancen, Weltmeister zu werden. Prado García wird gar zugetraut, in der höchsten Klasse durchzumarschieren. Wobei er nach einem Oberschenkelbruch im Dezember – so viel zum täglichen Risiko – ein Handicap aufzuholen hat.
Der Titel bringt einen auch finanziell in eine andere Liga. Gajser hat in seiner Weltmeister-Saison rund eine Million Franken verdient. «Ich deutlich weniger als die Hälfte», sagt Seewer. Aber er will sich nicht beklagen. Er zählt zu den guten Verdienern. Und doch: «Wenn ich zurückdenke, wie viel Zeit, Geld und Arbeit wir da hineingesteckt haben – vor allem meine Eltern hineingesteckt haben – wie viel es braucht, bis man hier ist, dann sind die paar hunderttausend nicht viel. Eigentlich zu wenig. Aber es ist schön, einer derer zu sein, die davon leben können. Meine Eltern sind stolz, ein Teil dieser Story zu sein.»
René und Anita Seewer sind am Mittag mit dem Campervan auf Sardinien angekommen. Im Gepäck Jeremys Enduro, mit der er nun am Rand der Siedlung Tharros über die Dünen hinunter ans Wasser fährt.
Jeremy schaut über den Lenker aufs Meer hinaus. Er ist zufrieden. Die Mühe und der Schweiss zahlen sich aus. «Wenn du am Sonntagabend oben stehst und das Gefühl hast, etwas Grossartiges geleistet zu haben, hat sich alles gelohnt. Das Gefühl macht einen süchtig. Es ist unersetzbar.»
Wahrscheinlich sei sein innerer Antrieb aber ein anderer. «Wenn ich in meinem Element bin auf meinem Motorrad. Ich bin allein, habe die Strecke vor mir, denke an nichts anderes. Ich habe keine Probleme, bin in einer Blase, kann am Limit mit so einer Maschine fahren. Dann existiert nichts anderes auf der Welt. Ich bin frei.»