Nicht nur in der Schweiz hat dieser junge Velofahrer in den vergangenen zwei Wochen jede Menge neuer Fans gewonnen: Mit seinen Angriffen, seinen langen Solofahrten, knappen Niederlagen und schliesslich, endlich, dem Etappensieg, fuhr sich Marc Hirschi in die Herzen der Tour-de-France-Zuschauer. Und das bei seiner ersten grossen Rundfahrt, mit 22 Jahren! Acht Jahre ist es her, letztmals ein Schweizer eine Etappe an der Tour de France gewonnen hat: Fabian Cancellara. Doch Hirschi ist nicht nur in dieser Statistik der Nachfolger des erfolgreichsten Schweizer Radrennfahrers der Neuzeit. Die beiden verbindet viel mehr. Beide leben im Berner Vorort Ittigen, beide besitzen Veranlagungen, die sie von der breiten Masse abheben. Nun hat sich der zweifache Olympiasieger Cancellara mit 39 Jahren als Manager etabliert. «Das war schwieriger, als Rennen zu fahren», sagt er. Und zu seinen Klienten zählt: Hirschi, der mit dem Gewinn des U23-WM-Titels 2018 ähnlich fulminant in seine Karriere gestartet war wie damals Cancellara. Wir wollten mehr wissen. Und haben uns bereits Anfang dieses Jahres zu einem Gespräch fernab von Peloton und Zielgerade getroffen.
”Nun gelten höhere Ansprüche: Ich will den ersten Sieg bei den Profis“
Marc Hirschi
Marc Hirschi, wie autoritär ist Fabian Cancellara als Chef?
Cancellara: Ich bin nicht der Chef!
Hirschi: Er ist umgänglich und freundschaftlich. Wir arbeiten nun seit ein paar Monaten zusammen. Der Kontakt intensivierte sich in den vergangenen Jahren sukzessive. Fabian kann mir wertvolle Tipps geben, weil er bis vor kurzem selber aktiv war.
Wie ist es, mit dem eigenen Vorbild zusammenzuarbeiten?
H: Sehr speziell. Bis vor drei, vier Jahren hätte ich mir dies nicht vorstellen können. Zu Beginn war ich jedes Mal sehr nervös, als ich mit Fabian sprechen durfte. Unser erster direkter Kontakt war übrigens hier in Ittigen, im Jahr 2008, als Fabian nach seinem Olympiasieg von Peking geehrt wurde. Ich holte mir ein Autogramm und war sehr stolz darauf.
Fabian Cancellara, wann haben Sie Marc zum ersten Mal richtig zur Kenntnis genommen?
C: Das war 2016, als er auf der Bahn Weltmeister im Zweier-Mannschaftsfahren wurde. Solche Resultate sind Zeichen, die sofort wahrgenommen werden. Damals wurden wir gemeinsam geehrt – Marc für den Junioren-
WM-Titel, ich für den Olympiasieg in Rio de Janeiro. Es gab übrigens einen weiteren hoffnungsvollen Nachwuchsfahrer aus Ittigen – Gabriel Chavanne. Ihm blieb der grosse Durchbruch verwehrt. Dieses Beispiel zeigt, wie schwierig der Weg nach oben ist. Man muss im richtigen Moment am richtigen Ort sein, und es braucht auch das nötige Glück.
Wenn Sie über Marc Hirschi lesen, er sei ein Supertalent, was weckt das in Ihnen?
C: Wichtig ist, dass sich Marc von solchen Schlagzeilen nicht aus der Spur bringen lässt. Er darf nicht jemanden anderen imitieren wollen. Er wird nicht ein zweiter Cancellara. Für mich steht Marc Hirschi als Mensch und Persönlichkeit im Vordergrund. Deshalb fühle ich mich auch nicht als sein Chef. Ich will ihn auch sportlich vorwärtsbringen. Aber ich will ihm auf keinen Fall künstlichen Druck auflasten und übertriebene Erwartungen an ihn stellen. Es gibt viele talentierte Fahrer, ob sie dies auf der höchsten Stufe umsetzen können, entscheidet sich exakt in der Phase, in der sich Marc nun befindet.
Worin besteht Talent im Radsport? Geht es hier nicht in erster Linie um Leidensfähigkeit, Ausdauer und Disziplin?
H: Ich glaube, dass es sich vor allem um -physische Voraussetzungen und um ein Talent für Ausdauerleistungen handelt. Etwas ist aber klar: Fleiss und Trainingsaufwand bilden die Basis dazu, ausländische Teams auf einen aufmerksam zu machen. Und weil es in der Schweiz momentan kein World-Tour-Team gibt, führt der Weg für ambitionierte Nachwuchsfahrer ganz zwangsläufig über das Ausland.
C: Marc hat die Skills, die es braucht. Aber Talent drückt sich auch in einem breiten Interesse und einem Wissenshunger aus. Das spürt man bei Marc deutlich. Er interessiert sich für technische, aerodynamische und trainingsspezifische Details. Und er hat die mentale Stärke, die es braucht. Er weiss, wo er hinwill. Marc besitzt alle Voraussetzungen, um eine schöne Karriere zu machen. Ich bin überzeugt, dass er auf dieser Basis aufbauen und seinen Weg machen kann.
”Vieles im Radsport spielt sich im mentalen bereich ab“
Fabian Cancellara
Marc Hirschi, fühlen Sie sich als Supertalent?
H: Ich fühle mich dadurch geehrt. Aber es ist auch klar, dass in den Medien einiges übertrieben dargestellt wird. Und der Wind kann schnell drehen.
C: Bei Stefan Küng hiess es, er sei der nächste Cancellara. Bei Marc heisst es, er ist ein Supertalent. Letztlich sind dies Floskeln, für die man sich nichts kaufen kann. Rennen gewinnt man nicht mit Vorschusslorbeeren.
H: Bei Küng lag der Vergleich mit Fabian aufgrund der Physis und des Fahrstils auf der Hand. Ich denke aber, dass ihn dies unnötig belastet hat. In meinem Fall ist es sicher anders: Ich bin ein ganz anderer Rennfahrer als Fabian: kleiner, leichter – und kaum der Mann für dieselben Rennen.
C: Wir werden vor allem deshalb miteinander verglichen, weil wir aus dem gleichen Ort kommen. Diese Verbindung schafft einen gemeinsamen Nenner. So ist unsere Zusammenarbeit quasi natürlich gewachsen.
Marc Hirschi. Wie beurteilen Sie Ihre Position nach dem ersten Profijahr?
H: Ich darf zufrieden sein. Mehrmals war ich knapp davor, ein Rennen zu gewinnen. Ausserdem konnte ich an der Elite-WM wertvolle Erfahrungen sammeln. Für die zweite Saison gelten höhere Ansprüche: Ich will den ersten Sieg bei den Profis herausfahren. Grundsätzlich ist die nächste Saison aber immer noch Teil des Aufbaus, ein weiteres Entwicklungsjahr. Das längerfristige Ziel ist, dass ich in den nächsten zwei, drei Jahren an den Herausforderungen wachse und allmählich eine Leaderrolle übernehmen kann.
Kann man eine Karriere im Radsport derart kontrolliert planen?
C: Man holt sich die Härte in den Rennen – und man lernt seinen Körper auch in den Regenerationsphasen immer besser kennen. Die Erfahrung ist eminent wichtig. So gesehen, ist Marc mit Bestimmtheit im Hinblick auf die nächste Saison deutlich weiter als vor einem Jahr. Mit der ersten dreiwöchigen Rundfahrt wird seine Entwicklung einen zusätzlichen Schub erhalten. Ob er dann gleich durchstarten kann wie Egan Bernal (der letztjährige Tour-de-France-Sieger/die Red.) ist eine andere Frage. Ist er schon so weit wie Remco Evenepoel, der nach zwei Jahren in der Weltspitze fährt? Hat er sogar Fähigkeiten wie Mathieu van der Poel, der mit einer grandiosen Intensität Mountainbike, Radquer und auf der Strasse fährt? Es gibt im Radsport kein Patentrezept an die Spitze – umso mehr, als sich der technische Einfluss enorm erhöht hat.
Wie meinen Sie das?
C: Ich wurde Profi mit einem Pulsgurt – das war in technologischer Hinsicht das Nonplusultra. Marc dagegen arbeitet schon lange mit allen erdenklichen Daten und Analysetools.
H: Ich bin damit gross geworden – mit Wattmessungen, Pedaldrehungs-Messungen, Intensitäts-Messungen, Laktatmessungen, Kalorienverbrauch, Trainingsanalyse.
C: An der Tour de France 2019 wurden durch die Sensoren 128 Millionen Datensätze der Teilnehmer gesammelt, erfasst und ausgewertet.
H: Ich merke aber, dass bei den Profis wieder aufs Gefühl geachtet wird. Die Datenanalyse war besonders auf Junioren- und Nachwuchsstufe ausgeprägt. Nun aber stehen wieder weiche Faktoren wie der Renninstinkt und
das Antizipationsvermögen im Vordergrund. Letztlich bleibt das Körpergefühl das Wichtigste.
C: Definitiv; sonst würde Marc nur immer mit 380 Watt fahren – und wenn jemand attackiert, würde er nicht reagieren, weil es ihn in der Theorie bei 390 Watt verblasen würde. Aber so läuft der Rennsport nicht: Vieles spielt sich im mentalen und psychologischen Bereich ab. Mit einer Attacke im richtigen Moment kann man die Gegner unter Druck setzen, zermürben und in Zugzwang bringen. Aber dafür braucht es Gespür und Instinkt für die Rennentwicklung. Diese Daten kann dir kein Computer liefern. Darin liegt wohl exakt der Unterschied zwischen dem Talent und dem Supertalent. Marc weiss, was zu tun ist, auch wenn der Computerscreen ausfällt oder die Anweisungen über Funk nicht mehr zu hören sind.
”Spitzensportler zu werden, ist einfacher, als es zu sein“
Fabian Cancellara
Man sagt ja, dass der moderne Radrennfahrer ferngesteuert ist …
H: Grundsätzlich werden Taktik und Strategie langfristig festgelegt. Schliesslich hat jeder im Team seine Rolle. Während des Rennens kommen über Funk situative Inputs. Die sind aber nicht immer gleich gut zu hören. Wenn es regnet beispielsweise, kann die Verbindung abbrechen. Und an der WM gilt ein reglementarisches Funkverbot.
Wie lässt es sich als junger Fahrer vom Radsport finanziell leben?
H: Ich kann gut davon leben. In unserem Team beträgt das Mindestgehalt für einen Jungprofi 30 000 Euro – und es kann bis zu 100 000 Euro hochgehen. Wenn man mit dem Team unterwegs ist, hat man kaum Auslagen. Und weil ich noch bei meinen Eltern wohne, fahre ich auch hier kostengünstig (lacht).
C: Mein erstes Gehalt bei Mapei betrug 25 000 Euro. Im Vergleich zu den meisten Sportarten können wir gut von unserem Sport leben. Zum Fussball darf man aber nicht schauen – dort sind die Löhne nicht mehr normal. Dort würde Marc wohl schon jetzt Millionen verdienen. Denn er hat das Potenzial eines Kylian Mbappé (der 21-jährige Franzose verdient bei Paris St-Germain 17,5 Millionen Euro pro Jahr/die Red.).
Themawechsel. Fabian Cancellara, als Sie im Jahr 2000 Ihre Profikarriere lancierten, hiess der Tour-de-France-Sieger Lance Armstrong. Welche Gefühle weckt dieser Name bei Ihnen?
C: Keine grossen. Armstrong war damals ein Rennfahrer und damit mein Gegner – was später geschah, verfolgte ich in den Medien. Es verbinden mich aber auch gute Erinnerungen an ihn. So bezwang ich ihn 2004 im Prolog der Tour de France in Lüttich um 2,5 Sekunden. In der Schweiz wusste man von meinen Qualitäten, aber im Ausland war ich noch kein grosses Thema. Umso überraschter zeigte sich Armstrong, dass ich schneller war als er. Seine Irritation liess er mich deutlich spüren. Er war einer, der immer gewinnen wollte – und der die Gegner auch psychologisch unter Druck setzte. Seine Geschichte ist aber -brutal – zuerst die Geschichte seiner Krankheit, dann die Sportgeschichte und letztlich das Doping. Damit verspielte er allen Respekt.
Marc Hirschi, Sie stiegen in den Radsport ein, als sein Image gelinde gesagt steigerungsfähig war. Hatten Ihre Eltern keine Bedenken, dass Sie Veloprofi werden wollten?
H: Nein, das war eigentlich nie ein Thema. Bedenken hatten sie allenfalls wegen der Gefahren im Strassenverkehr – und weil der Sport ganz grundsätzlich gefährlich ist. Als ich begann, war Doping kein grosses Thema, auch weil ich einer anderen Generation Radfahrer angehöre. Als ich dann in die Kader von Swiss Cycling aufgenommen wurde, hatten wir Präventionsschulungen zu dem Thema, und wir sahen diverse Dokumentationen aus diesen Zeiten. Natürlich ist es so, dass im Geschäft oder ausserhalb der Radsportszene hie und da ein dummer Spruch fällt, wenn ich von meinem Beruf erzähle. Aber eine echte Skepsis unserem Sport gegenüber habe ich persönlich noch nicht erlebt.
Fabian Cancellara, Sie waren der letzte Schweizer Tour-de-Suisse-Sieger. Wird Marc Hirschi der nächste?
C: In seiner Generation ist er top. Er hat das Potenzial auf verschiedenen Ebenen – aber jetzt schon vom Gesamtsieg in der Tour de Suisse zu sprechen, wäre vermessen.
Einen härteren Job als denjenigen des Radprofis kann man sich kaum vorstellen. Marc Hirschi, bereuen Sie Ihre Berufswahl noch nicht?
H: (lacht) Nein. Am härtesten war es sicher während der Lehre. Die Ausbildung mit dem Sport zu verbinden, erfordert ziemlich grosse Energie, sehr viel Disziplin und eine minuziöse Planung. Als Profi zu leben, ist vergleichsweise einfach. Der Weg dorthin war das Härteste.
C: Das kann ich zu hundert Prozent bestätigen. Spitzensportler zu werden, ist viel schwieriger, als Spitzensportler zu sein. Profi zu werden ist hart – aber auch der Schritt in die nächste Karriere ist hart. Denn als Sportler wird dir vieles abgenommen. Du bewegst dich quasi in einer Parallelwelt. Der Spitzensport aber ist nicht die reale Welt. Das spürte ich, als ich meine Karriere beendete und wieder von vorn beginnen musste.
”Am härtesten war der Sport während der Lehre“
Marc Hirschi