Den 12. 1. 21 wird Michal Svajlen nicht so schnell vergessen. Nicht wegen des einprägsamen Datums. Es ist der Tag, an dem der Handballspieler erfährt, dass er wohl mit dem Schweizer Nationalteam an der Weltmeisterschaft in Ägypten teilnehmen wird. Dass er sich seinen grossen Traum doch noch erfüllen kann – ganz unerwartet, in den letzten Monaten seiner Karriere.
Als an besagtem Abend sein Mobiltelefon klingelt und der Name des Nationaltrainers aufleuchtet, ist Svajlens erster Gedanke: Michael Suter muss sich verwählt haben. Denn Trainer und Spieler telefonierten bereits am selben Morgen zusammen. Svajlen, der wegen Knieproblemen nur noch reduziert in der Nationalmannschaft spielt, sagte Suter seine Unterstützung für die EM-Quali-Spiele im März und April zu. Die WM war zuvor zwar wegen Corona-Infektionen in anderen Teams auch bei Svajlen im Hinterkopf. Doch zu diesem Zeitpunkt ist das Thema für den Nati- und Pfadi-Winterthur-Spieler abgehakt. «Das wäre jetzt – nicht mal zwei Tage vor Turnierstart – unmöglich, dachte ich.»
Doch seit Beginn der Corona-Pandemie haben sich die Grenzen zwischen unmöglich und möglich verschoben. Und so überbringt Suter dem 31-Jährigen die News, dass die Schweiz ins WM-Hauptfeld nachrückt, weil die USA und Tschechien sich wegen Covid-Fällen im Team zurückziehen. So stehen die Schweizer zum ersten Mal seit 26 Jahren an einer Handball-WM. Svajlen folgt dem Aufgebot des Coaches, ohne zu zögern.
In 44 Stunden von der Stube auf den WM-Court. Als wenn das nicht Aufregung genug wäre, kommen weitere Hürden hinzu, bis das erste WM-Spiel für Svajlen Wirklichkeit wird: Die Masterprüfungen an der ZHAW lassen sich kurzfristig verschieben. Der Covid-Test fällt negativ aus. Doch als er beim Packen merkt, dass sein Schweizer Pass nur noch zehn Tage gültig ist, kommt er ins Schwitzen. Als Beweis seiner Schweizer Staatsbürgerschaft für die WM-Teilnahme reicht sein Pass aus. Doch für die Reise nach Kairo sind sechs Monate Gültigkeit nötig. Die Lösung: Der Doppelbürger reist mit seinem slowakischen Pass.
«Ich war von klein auf dieses Nomadenleben gewohnt und dass sich alles um den Sport dreht.»
Svajlen, den alle Mischa nennen, wird in Kosice, der damaligen Tschechoslowakei, geboren. Dort bleibt er aber nicht lange. Sein Vater Lubomir ist Handballprofi und als Torhüter international erfolgreich. Die Familie – Vater, Sohn, Mutter Monika und später auch die jüngere Schwester Alexandra – ziehen dorthin, wo der Vater Handball spielt. «Ich war von klein auf dieses Nomadenleben gewohnt und dass sich alles um den Sport dreht», sagt Michal Svajlen.
Die erste Station ist Bratislava, danach, als Michal im Kindergartenalter ist, folgt der Umzug nach Ungarn. In dieser Zeit beginnt er selber, Bälle zu werfen. «Ich durfte oft mit meinem Vater ins Training. Und hoffte immer, dass das Team nur das eine Tor benutzt, damit ich aufs andere schiessen konnte.»
In der Halle fühlt er sich wohl. Es ist für ihn auch eine Art Zufluchtsort. Denn er hat Mühe, sich in der neuen Heimat zurechtzufinden. «Ich war schüchtern, wollte weder in den Kindergarten noch die Sprache lernen.» Deswegen zieht die Mutter mit ihm in die Slowakei zurück, wo Michal eingeschult wird. Als zwei Jahre später der Umzug zurück nach Ungarn zum Vater erfolgt, wird er dort von der Mutter, einer Wirtschaftsinformatikerin und Basketballspielerin, zuhause unterrichtet. Als Mischa neunjährig ist, bekommt Lubomir Svajlen einen Vertrag bei ZMC Amicitia in Zürich. Seither lebt die Familie in der Schweiz.
Hierzulande fällt Svajlen junior die Eingewöhnung leichter. «Ich war ein Stück älter und mein Lernwille grösser.» Er realisiert auch, dass er diesmal keine Wahl hat. «Meine Eltern haben alles dafür getan, dass wir uns möglichst schnell integrieren und wohlfühlen.» So büffelt die Mutter mit ihm täglich auf dem Schulweg zehn neue Deutschwörter, während sie diese so gleich selber lernt. «Sie ist eine Perfektionistin. Und mein Vater sehr ehrgeizig und diszipliniert», sagt Svajlen, der diese Tugenden auch selber in sich trägt.
Der 25. Mai 2008 ist ein weiterer Tag, der Familie Svajlen unvergesslich bleibt. Michal spielt mit Amicitia im Titel-Duell gegen die Kadetten Schaffhausen. Vater Lubomir, der mit 44 zu dieser Zeit eigentlich nicht mehr aktiv ist, kommt zu einem unverhofften Comeback, weil der Torhüter verletzt ist. Er hält drei von vier Penaltys. Vater und Sohn feiern zusammen den Schweizer-Meister-Titel. Ebenfalls dabei: Ein aufkommender Schweizer Handball-Jungstar namens Andy Schmid.
Heute fühlt sich Svajlen in Winterthur ZH heimisch, wo er seit zehn Jahren beim Traditionsverein Pfadi Winterthur und heuer in seiner letzten Saison spielt. Und auch nach dem Rücktritt wird er dem Verein erhalten bleiben – als Assistenztrainer. «Ich habe immer Spieler bewundert, die lange beim selben Klub bleiben. Ich habe hier viel Vertrauen bekommen und viel durchgemacht – das verbindet», sagt Svajlen, der mit 196 cm und 95 kg optimale körperliche Voraussetzungen für den Handball mitbringt. Der langjährige Pfadi-Trainer Adrian Brüngger gibt das Kompliment zurück: «Das Vertrauen hat Mischa nicht einfach geschenkt bekommen, er hat es sich erarbeitet mit stetiger Weiterentwicklung.»
Was Brüngger anspricht: Svajlens Laufbahn ist auch von etlichen Rückschlägen geprägt. Als junger Spieler gilt er als grosses Offensivtalent. «Ich wollte nie Goalie werden wie mein Vater, sondern lieber selber Tore schiessen», sagt Svajlen, dessen Grossvater ebenfalls Torhüter war: Mit der tschecho-
slowakischen Fussballnationalmannschaft gewann er 1964 gar Olympiasilber.
Doch dann bekommt Michal Svajlen Knieprobleme. Mittlerweile hat er drei Operationen hinter sich. Körpertäuschungen und Sprungwürfe etwa werden zusehends schmerzvoller, so dass er sich zum Defensivspezialisten umorientieren muss. «Es war mental nicht einfach, das zu akzeptieren.»
Doch in seiner neuen Rolle als Abwehrchef ist er im Klub wie auch im Schweizer Nationalteam ein unverzichtbarer Wert – auch ohne Skorerpunkte. Unabhängig von seiner Position zeichnet ihn aus, dass er, im Gegensatz zu seinem Naturell, auf dem Handballfeld auch ellbögeln kann. «Ich bin ein introvertierter Typ. Doch wenns zählt, kann ich angreifen», sagt Svajlen, der reflektiert wirkt und im Interview ausgesprochen gesprächig ist. Zudem punktet er mit Ruhe und Abgeklärtheit, die ihn auch neben dem Platz ausmachen. «Er hat eine grosse Erfahrung, und man kann sich stets auf ihn verlassen», sagt Nati-Coach Michael Suter.
So auch an der WM in Ägypten. Doch bevor Svajlen für die Schweizer auflaufen kann, wirds noch einmal brenzlig. Nach der Ankunft in Kairo werden vom Verband die Pässe aller Spieler eingezogen, von Svajlen also der slowakische. Kurz vor Anpfiff des ersten Spiels will der Delegierte Svajlen deswegen nicht spielen lassen. «Unser Leistungssportchef Ingo Meckes musste in die Garderobe rennen und aus meinem Rucksack den Schweizer Pass bringen», erzählt Svajlen. Jetzt kann er darüber nur lachen.
Die Schweiz bezwingt zuerst Österreich und schliesslich in der Hauptrunde neben Algerien auch Island. Damit schaffen die Schweizer den Sprung in die Top 16. Ein unvergessliches Erlebnis für Svajlen. «Das alles hat mir gezeigt: Fürs Kämpfen, für die harte Arbeit wird man nicht immer sofort belohnt. Aber irgendwann, wenn man es vielleicht gar nicht mehr erwartet, kommt alles zurück.»
Den Entscheid, auf Ende Saison zurückzutreten, hat er deswegen nicht rückgängig gemacht. Er möchte in der Finanzwelt Fuss fassen. Zudem hofft er, dass ihm die Trainerrolle weitere denkwürdige Momente schenkt – und umgekehrt auch er dem Schweizer Handball.