75 kilometer allein auf der flucht. Knapp zwei Kilometer vor dem Ziel eingeholt, im Sprint nur um Zentimeter geschlagen: Es sind Momente wie dieser in jener neunten Etappe der Tour de France im September 2020, die den Radsportfan stundenlang vor den Fernseher fesseln: Das Mitfiebern mit dem Fahrer, der mutig und verrückt genug ist, am zweiten von fünf Bergen allein anzugreifen. Der stockende Atem, wenn er in den Abfahrten alles riskiert. Das Sekundenzählen, wenn er sich bis zur Ziellinie gegen die Favoriten wehrt, die von hinten angebraust kommen. Das Herz des Sportfans leidet mit jenen, die selbst richtig leiden.
Jener 6. September, als Marc Hirschi nach langer Solofahrt Etappendritter wird, ist sein Lieblingsmoment der Saison 2020. Nicht von der Bedeutung her, natürlich sind die Siege grösser als ein Podestplatz. Aber von der Art und Weise her, wie er gefahren ist. «Ich habe mehr Reaktionen bekommen als bei jedem Rennen, das ich gewonnen habe», sagt er.
Geschätzte Steigerung des Salärs von 70 000 auf eine Million Euro pro Jahr
Die Schweiz hat wieder einen Spektakelfahrer, dem die ganze Velo-Welt zuschaut. Noch vor einem Jahr konnte man zwar ahnen, dass es so kommen würde, schliesslich hat Hirschi auf Nachwuchslevel verschiedentlich brilliert. Aber was der Berner nun in einem einzigen Jahr erlebt hat, bietet Stoff für eine halbe Karriere, wenn nicht mehr: Im Winter plagen ihn Hüftprobleme; als Corona die Saison unterbricht, entschliesst er sich, nicht zu operieren, sondern konservativ zu behandeln. Er bekommt die Schmerzen in den Griff, und als die Saison im August, komprimiert auf die wichtigsten Rennen, beginnt, ist er in Höchstform. Er gewinnt eine Etappe der Tour de France und den Klassiker Flèche Wallonne, holt Bronze an der Weltmeisterschaft, wird Zweiter bei Lüttich–Bastogne–Lüttich.
«Wenn es im Training mal läuft, mache ich mein eigenes Ding»
Marc Hirschi
Dann wechselt er im Januar vom Team Sunweb zu UAE Emirates, trotz laufenden Vertrages – was im Radsport immer noch selten vorkommt. Entsprechend verursacht der Transfer Wirbel – es ist das erste Mal, dass sich Marc Hirschi einer Situation ausgesetzt sieht, in der es nicht um seine Leistung geht. Vor allem als sich die Spekulationen nicht mehr nur um die Frage drehen, ob er wegen des Geldes wechselt – die französische Sportzeitung «L’Equipe» vermutet eine Steigerung seines Salärs von rund 70 000 Euro jährlich auf eine Million. Nein, die holländische Zeitung «Algemeen Dagblad» will von einer Quelle aus dem Umfeld seines ehemaligen Teams wissen, dass das mit strenger Hand geführte Sunweb Hirschi als «Risiko für den Ruf des Teams» angesehen habe, weil er nicht alle «vom Team geforderten Informationen» preisgegeben habe. Alle Involvierten aber schweigen, wie vertraglich vereinbart. Klar ist: Es ist ein ziemlich turbulentes Jahr für einen 22-Jährigen.
Aufgewachsen ist Hirschi im Berner Vorort Ittigen, wie sein Vorbild und heutiger Manager Fabian Cancellara. Sein Vater Heinz ist ebenfalls ein begeisterter Radsportler. Nach dem Militär entdeckt er das eben aufgekommene Mountainbike, und Marc zieht mit, tritt dem Radrennclub Bern bei. Der Vater hält die Pulswerte seines Sohnes fest, lässt ihn ein Trainingstagebuch führen. Und bringt ihm früh bei, Mitfahrer und Gegner während der Rennen zu beobachten. Übersicht und Cleverness – Hirschis Renninstinkt ist einer seiner Trümpfe.
Gemeinsam sind sie auch an der Tour de Suisse und der Tour de France als Fans dabei: Dort fahren sie vor den Etappen selbst die abgesperrten Pässe hoch – Marc lässt damals schon viele andere Hobbyfahrer stehen – , jubeln später den Profis zu.
«Früher hatte ich keine Erfahrung, konnte also auch nichts einordnen»
Hirschi saugt als Jugendlicher alles auf, was die Gadgets zur Trainingsunterstützung und Leistungsmessung hergeben. Allerdings weniger aus Begeisterung über Technologie oder Zahlen, sondern weil es ihm hilft, besser zu werden. «Früher hatte ich gar keine Erfahrung, konnte also auch nichts einordnen. Was ist gut? Was schlecht? Mittlerweile weiss ich, was für mich gut ist.» Und fährt mehr nach Gefühl. Dass der mehrheitlich italienische Staff bei UAE die Zügel etwas lockerer lässt als jener bei Sunweb, kommt ihm entgegen. Im Team hat er gern einen Trainer als enge Bezugsperson, falls Fragen auftauchen. Er fährt nach Trainingsplan, die Trainingsdaten werden der Mannschaft jeden Tag übermittelt. «Doch wenn es einmal läuft, mache ich mein eigenes Ding.» Wenn er sich eine Woche lang nicht melde, laufe alles nach Wunsch. «Es gibt viele Situationen, in denen ich gern einmal meine Ruhe habe.»
«Ich biete gerne Spektakel. Aber im Vordergrund steht das Resultat»
Das gilt auch für einen anderen Punkt, weswegen ihn Cancellara einmal als «Bad Boy im guten Sinne» bezeichnete: Hirschi mag es nicht, zu viel über Rennen zu sprechen. Er beschäftigt sich mit der Strecke nur, so weit er muss, um gut vorbereitet zu sein. Besprechungen vor und nach dem Rennen mit dem sportlichen Leiter? «Natürlich, das macht mich ja besser.» Ansonsten aber heisst sein Motto Ablenkung. In jahrelangem Mentaltraining hat er gelernt: Nicht nur körper-liche Aktivität raubt Energie, sondern auch alles, was im Kopf passiert. «Wenn ich viel über ein Rennen spreche oder nachdenke, werde ich nervös und gestresst. Für mich ist das kontraproduktiv», erklärt Hirschi. «Mental stark bist du dann, wenn du möglichst schnell im Rennmodus bist.» Vorher also so locker wie möglich und dann trotzdem auf den Punkt parat sein.
Mit Freunden abschalten und mal nicht übers Velofahren reden
Das klappt bei ihm bereits in jungen Jahren hervorragend. Es ermöglicht dem U23-Weltmeister von 2018, in einem Etappenrennen sofort alles abzuhaken, gut zu schlafen und sich dann auf die nächste Etappe zu konzentrieren.
Hirschis Umfeld hilft ihm dabei. Da er meist etwas Zeit braucht, um Vertrauen zu jemandem zu fassen, hat er einen kleinen, engen Freundeskreis. Das sind zwar vor allem andere Rennfahrer aus seiner Region – Joel Suter, Joab Schneiter, Cédric Jolidon und Manuel Zobrist –, dennoch kann er mit ihnen während der Trainings abschalten und über anderes als den Radsport sprechen. Ist er in Trainingslagern, ist das Handy neben dem Velo sein wichtigstes Utensil – nicht für Games, «sondern weil ich jeden Tag wirklich sehr viel telefoniere. Mit meinen Freunden oder meiner Freundin.»
Während Hirschi auf dem Velo draufgängerisch und selbstbewusst agiert, ist er daneben ruhig, zurückhaltend, wirkt manchmal fast verträumt. Er verbringt Zeit an der Aare, verfolgt andere Sportarten. Im Fussball vor allem die Young Boys und Paris Saint-Germain, im Eishockey den SCB, zudem ein bisschen Formel 1, Ski, Langlauf. Sich auf Social Media zu profilieren, daran hat er kein Interesse. Er besitzt auf den wichtigsten Plattformen zwar Konten. Das gehört für Sportler dazu, um den Sponsoren und dem Team eine gewisse Präsenz zu ermöglichen und Kontakt mit Fans zu halten. Wäre er kein Profi, könnte er aber genausogut darauf verzichten.
Nicht vergessen, an die langfristige Entwicklung zu denken
Auf Instagram folgen Hirschi 86 000 Leute. Die Zahl ist im vergangenen Sommer sprunghaft angestiegen. Seine Anhänger erwarten von ihm Ähnliches in diesem Jahr. Das weiss Hirschi, und auch er ist hungrig. Und doch versucht er die Euphorie ein wenig zu bremsen: Eigentlich befindet er sich in seinem dritten Profijahr immer noch im Aufbau. Über kurzfristige Resultate möchte er nicht seine langfristige Entwicklung vergessen. Heisst: (noch) nicht um jeden Preis nur auf bestimmte Rennen in Form sein, sondern eben überall lernen und aufbauen, damit er noch zahlreiche erfolgreiche Jahre vor sich hat. Aber: «Klar wird mir das auch schwerfallen.»
Sein Team sieht es genauso. UAE beschäftigt viele Spitzenfahrer mit demselben Jahrgang wie Hirschi, die er seit Jahren kennt: Tour-de-France-Sieger Tadej Pogacar, Mikkel Bjerg oder Brandon McNulty. Wie sie sich im Team entwickelt hätten, habe für ihn den Ausschlag für den Wechsel gegeben, sagt Hirschi.
«Sportlich ist es für mich das beste Team, um weiterzukommen»
Marc Hirschi
Über alles andere herrscht Schweigen. Dafür darf er darüber sprechen, wie es für ihn war, zum ersten Mal inmitten von Mutmassungen zu stehen. Dass der Teamwechsel Gesprächsstoff liefern würde, wusste er, versteht er. Er bereitete sich mit seinem Mentaltrainer darauf vor, was zu erwarten ist, wie die Mechanismen von Medien und Fans in solchen Momenten funktionieren. «So wusste ich, was auf mich zukommt.» Auch mit Fabian Cancellara, der sich während seiner Karriere immer wieder diversen Gerüchten ausgesetzt sah, sprach er: «Er hat gesagt, dass es dazu gehört und dich stärker macht. Früher oder später musst du sowieso lernen, damit umzugehen.»
Das Sportliche steht für ihn im Vordergrund
Hirschi macht auch klar, dass die Menschenrechtslage in Katar und die Vergangenheit von Mauro Gianetti, dem CEO seines neuen Teams, für ihn kein Thema ist. Den Tessiner brachte man im Laufe seiner aktiven und Manager-Karriere immer wieder mit Dopingskandalen in Verbindung. «Für mich steht das Sportliche im Vordergrund. Und ich finde, sportlich ist es für mich das beste Team, um weiterzukommen. Dann habe ich mir nichts vorzuwerfen.»
Hirschi hofft, dass er den Gesprächsstoff in Zukunft wieder auf dem Velo liefern wird. An der Tour de France wird er sich dieses Jahr in den Dienst von Vorjahressieger Pogacar stellen. Seine eigenen Ziele sind die Ardennen-Klassiker sowie das Olympia-Strassenrennen in Tokio, zudem darf er die Tour de Suisse fahren. Und auch wenn die Resultate im Vordergrund stehen: Ein bisschen Spektakel zu bieten, wünscht sich jeder Fahrer. «Das geht schon etwas Hand in Hand», gibt Hirschi zu. Ein wenig so wie am 6. September 2020, als Marc Hirschi die Velowelt vor dem Fernseher begeisterte.