Das Wasser plätschert an die Wand des Bootes. Da sind Stimmen. Sie flüstern geheimnisvoll. Kommen näher, entfernen sich. Dann werden sie lauter. Es müssen Menschen da draussen im Hafen sein. Wahrscheinlich feiern sie ein Fest. Warum sind sie so laut? Gabi Schenkel wirft den Kopf auf dem Kissen hin und her. Sie ist schweissgebadet, will hinaus und allen sagen, dass sie Ruhe braucht. Sie schlägt die Kabinentür auf. Und schaut in ein schwarzes Loch. Die Nacht schwankt wie betrunken und hält sich am Boot fest. Sie hört die Wellen und merkt, dass sie weit weg vom Hafen ist. Ihr Boot treibt mitten auf dem Atlantik. Erst der fünfte Tag der Reise ist vorbei. Gabi Schenkel ist seekrank, hat eine starke Hals- und Ohrenentzündung. Und hohes Fieber. Sie weiss, sie ist allein hier draussen.
Rudern war ihr ein Leben lang fremd. Doch jetzt liegt ein Ozean vor ihr, den sie überqueren soll. Sie hat Fieberträume. Und es sind noch über 4000 Kilometer bis ins Ziel.
Die «Atlantic Challenge» von der Kanaren-Insel La Gomera nach Antigua in der Karibik ist das härteste Ruderrennen der Welt. Es warten 4723 Kilometer, haushohe Wellen, Stürme und unberechenbare Strömungen. Warum machen Menschen so etwas? «Es gibt kein Warum», sagt Gabi Schenkel. Eines Morgens im Herbst 2018 wacht sie auf und weiss, dass sie über den Atlantik rudern wird. Allein. Die eigenen Grenzen auszuloten, ist nichts Neues für sie. Seit 20 Jahren läuft die Osteopathin aus Zürich Ultra-Marathon, Distanzen bis zu 200 Kilometer am Stück. Wenn andere beginnen, sich leid zu tun, wird es für sie spannend. Dann lernt sie viel über sich. Aber gerudert ist sie nie. Im Spätsommer 2019 hat sie ein Team. Und ein Boot. Die Firma «Dutch Ocean Expeditions» um den holländischen Abenteurer Mark Slats baut ihr für 75 000 Franken die elegante «Miss Universe». Das Boot aus Aluminium ist 7,4 Meter lang, 1,8 Meter breit. Auf dem Ozean bleibt es eine Nussschale. Im August lebt die 42-Jährige an der holländischen Küste einen Monat lang auf dem Boot, um sich damit vertraut zu machen. Am 12. Dezember trauen sich nur sechs Männer allein ins Rennen. Und als einzige Frau Gabi Schenkel. Auf den 27 anderen Booten sprechen sich zwei bis fünf Teilnehmer Mut zu.
«Ich ruderte los», sagt sie. «Hinaus aus dem Hafen. Ich hörte die Böllerschüsse, das Johlen der Leute. Kaum ist man 100 Meter draussen, kommt der Wind. Dann geht es an der Boje vorbei. Ich wusste, in welche Richtung ich zuerst musste: Südlich.» Sie ist nervös. Das Wasser türmt sich drei Meter hoch, es folgen böige Winde mit über 55 Stundenkilometern. Sie probiert zu rudern, wird hin- und hergeworfen. Nach fünf Stunden knöpft die Nacht ihren Mantel über dem Meer zu. Sie hat den Autopiloten eingeschaltet und probiert das Boot so auszurichten, damit es vorwärts geht. «Aber ich war parallel zu den Wellen. Das Boot leerte sich zur Seite aus. Als ich zurück kam, wollte ich das Ruder in die Hand nehmen, aber es ging nicht. Ich schaute mit der Stirnlampe nach und sah, dass es im rechten Winkel geknickt war. Es war gebrochen.» Bereits nach fünf Stunden muss sie das erste von zwei Ersatzrudern einsetzen. «Das war ein Schock für mich. Wenn mir schon nach fünf Stunden ein Ruder bricht, was passiert mir dann auf dem Rest der Reise? Das ist viel zu früh.» Zu diesem Zeitpunkt ist Gabi Schenkel schon seekrank. Sie fühlt sich elend. Dann hört sie auf mit rudern. Und lässt sich treiben.
Wenn ich rudere und tief durchatme, ist die Übelkeit erträglich, denkt sie am nächsten Tag. Aber jedes Mal, wenn sie etwas isst, kommt es wieder hoch. Die nächsten dreissig Stunden weht der Wind stark vom Norden. «Zu diesem Zeitpunkt wurde ich krank. Ich merkte, dass mein Kopf heiss war. Es fühlte sich an, als ob er gleich explodiere.» Sie ruft den Arzt an. Er rät ihr, Antibiotika zu nehmen. Seine Stimme wirkt wie eine warme Decke. Sie beruhigt sich. Schläft zehn Stunden pro Nacht. Am Tag rudert sie 30 Minuten, geht eine Stunde schlafen, rudert wieder 30 Minuten. So geht das tagelang. Sie ist schwach, muss aber das Boot bewegen. «Ich konnte nicht anders, als mich der Situation zu ergeben», sagt sie. Allein auf dem Ozean. Wenn etwas schiefgeht, kommt so schnell niemand. Wer ein «Mayday» absetzt, einen Notruf, muss warten. Vielleicht schafft es ein Segelboot in zwei Tagen zur Rettung, vielleicht ein 400 000-Tonnen-Tanker. Jemand wird kommen. Das ist Gesetz auf hoher See. Aber ist es früh genug?
Auf dem boot gibt es ein GPS, einen elektronischen und einen magnetischen Kompass, einen Autopiloten, der das Ruder in die Richtung hält, in die das Boot soll. Ein Funkgerät, ein Erkennungsgerät, mit dem die «Miss Universe» von anderen Booten identifiziert werden kann. Dazu eine Wasserentsalzungsmaschine fürs Trinkwasser. Den Strom generieren Solarzellen auf der Kabine. Wenn der Autopilot eingeschaltet ist und der Nordostwind und die Wellen zusammenarbeiten, schieben sie es in die richtige Richtung. Aber das tun sie meistens nicht. Nur einmal wird Gabi Schenkel im Schlaf vom Meer belohnt. Am Morgen ist sie 37 Kilometer weiter.
Als sie nach 14 Tagen wieder gesund ist, spürt sie Energie. Sie will den Anschluss nicht verpassen. Aber was macht der Körper mit? In den ersten zwei Wochen verliert sie vier Kilo Gewicht. Sie muss essen. Zwingt sich. Lange schafft sie nur 2000 Kalorien. Viel zu wenig. 3500 wären Pflicht. Sie kocht die gefriergetrockneten Mahlzeiten. Isst dazu Nüsse. «Das Essen kam mir immer wieder hoch. Dann schluckte ich es halt wieder runter. Ich wusste, es bringts nicht, es auszuspucken und dann einen neuen Bissen zu versuchen.»
«Ich konnte jede Emotion herauslassen. Es tat gut»
Als Kind ist Gabi eine gute Schwimmerin. Mit den Eltern und der 15 Monate jüngeren Schwester Sonja geht es in den Ferien oft ans Meer. In einem Sommer in Monterosso an der ligurischen Küste merkt sie erstmals, wie trügerisch das offene Wasser sein kann. Trotz roter Flagge schwimmt sie hinaus. Die Wellen spülen über sie hinweg. «Ich wusste nicht mehr, wo oben und unten ist. Der Salvataggio holte mich raus. Fast wäre ich ertrunken.». Dabei ist Gabi eher zurückhaltend. Sie schiebt die kleine Schwester vor, wenn sie ein Gelato bestellen will. «Ich war nie sehr mutig», sagt sie. Die Kindheit ist abwechslungsreich. Die Mädchen geniessen Freiheiten, treiben viel Sport. Es geht in die Berge, mit dem Velo der Donau entlang. «Wir machten spannende Sachen. Es war oft abenteuerlich.» Daheim begleitet sie die Musik. Mutter Verena spielt Geige, der Vater Klavier. «Wir sind mit klassischer Musik aufgewachsen. Mein Klavierlehrer deckte mich mit Béla Bartók ein. Dabei konnte ich mit ihm nichts anfangen. Aber ich spiele immer noch Klavier.» Als Gabi in die dritte Klasse kommt, zieht die Familie nach Olten. «Ich war geprägt durch die Herausforderung, als kleines Mädchen mit einem anderen Dialekt eine neue Heimat zu finden. Ich fing an zu Oltnern. Ich wusste, das ist mein Ticket zu Freunden.» Sie ist Meisterin der Anpassung. Die Schwester passt sich nicht an. Und hat eine harte Zeit. Irgendwann ändert sich das. Sonja entwickelt so Persönlichkeit, Gabi ist verunsichert. Aber sie ist gut in der Schule, gut im Sport. Sie ist bei den Buben beliebt, weil sie jedes Fussballresultat kennt, über jedes Überholmanöver in der Formel 1 diskutieren kann. Aber den Mädchen ist sie mit ihrer direkten Art ein Dorn im Auge. «Sie haben mich nach einer Stunde rausgenommen, einen Kreis um mich gemacht und gesagt, ich soll mich ändern. Sie sagten: ‹Wenn nicht, schaffen wir es, dass sie dich zwangsversetzen.› Ich sagte, ich würde mich für niemanden ändern. Dann ging ich geradeaus in die Toilette und fing an zu weinen.» Am nächsten Tag erhält sie von der Klasse die Forderung schriftlich. Alle unterschreiben, obwohl die Buben gar nicht wissen, was im Brief steht. Gabi zerreisst das Blatt. Die weiteren sechs Jahre an der Schule werden zum Spiessrutenlauf. Das Wort Mobbing kennt Ende der Achtziger noch kaum jemand. «Aber das erlebte ich. Es war ganz schlimm.» Sie hat das Glück, dass daheim eine verständnisvolle Mutter auf sie wartet. Fast täglich sprechen sie darüber. Fast täglich heult sich Gabi aus. «In dieser Zeit wurde das Laufen mein Freund», sagt sie. «Ich rannte bis zu fünfmal pro Woche jeweils fast eine Stunde. So konnte ich meine Aggression, die ich im Körper angestaut hatte, abbauen. Die Energie, die ich verbrannte, war extrem. Darum blieb mein Körper so. Das ist ein Teil meiner Jugend, der sehr schwierig war. Aber es war eine Lebensschule. Die Jugend hat mich gefestigt, zu sein, wie ich bin.»
«Ich wusste nicht mehr, wo ich aufhöre und das Wasser beginnt. Ich fühlte mich durchsichtig»
Die Frustration auf dem Meer wächst mit jedem Tag. Sie kommt nicht vorwärts. Und geht hart mit sich ins Gericht. Sie weiss, mehr als 50 Kilometer pro Tag sollten möglich sein. Aber gerade bei Flaute bringt sie oft nur 35 Kilometer hinter sich. In diesen Momenten hilft die Stimme ihrer Schwester am Telefon. Der Winter ist anders als sonst: Im Norden wehen viele Stürme. Die starken Wellen drücken sie Richtung Süden. Sie muss mit aller Macht dagegen anrudern.
Die Menschen fehlen ihr. Der physische Kontakt. Es ist ein komisches Gefühl, am Geburtstag und an Weihnachten nicht in die Arme genommen zu werden. Sie nimmt auch anderes wahr. «Ich begann, mich mit dem Meer zu verbinden. Wir bestehen zu 70 Prozent aus Wasser.» Ihr kommt es vor, als löse sie sich auf. «Ich wusste nicht mehr, wo ich aufhöre und das Wasser beginnt. Ich fühlte mich durchsichtig.», sagt sie. «Es war seltsam.»
Das Meer kann alle Geräusche machen. Oft ist es lärmig. «Es erzählt sehr viel. Es ist selten ruhig. Und wenn es ruhig ist, ist es sehr komisch.» Es gibt zwei Tage, da ist das Wasser spiegelglatt. Sie sieht Fische. Einmal schwimmt ein Speerfisch mit, dann sieben riesige Mahi Mahi. Am vierten Tag fliegt ihr ein Vogel in den Hals. Er erholt sich an Bord vom Zusammenstoss. Gabi nennt ihn Reginald. Er fliegt weg, kommt aber wieder. Über 60 Tage lang. Auf der Reise sieht sie acht Wale. Als der erste Zwergwal unter ihr durchschwimmt, erschrickt sie. «Der Wal nahm dann Abstand, als ob er es gemerkt hätte, dann kam er nochmals zurück und schwamm schliesslich weg.» Ein anderes Mal begleitet sie eine ganze Walfamilie. Von diesen Begegnungen zehrt Gabi Schenkel. Nie hat sie das Gefühl, unter ihr öffne sich ein dunkler Abgrund. Unter dem Boot sind ein paar Kilometer Wasser. Aber sie hat immer das Gefühl, getragen zu werden.
Am Morgen des 9. Januar kämpft Gabi Schenkel mit starkem Wellengang und stürmischen Winden. Sie will mit der Kamera filmen, wie sie mit dem Boot surft. Eine Welle schiebt sie weiter. «Ich sah von der Seite diese riesige Welle kommen. Eine Geisterwelle, die von einem anderen Wellengang her kommt. Sie war höher als normal. Drei Meter entfernt und zwei Meter über mir brach sie. Dann schrie ich.» Die Welle bringt das Boot zum Kentern. Gabi Schenkel wird ins Meer geworfen. «Ich nahm zuerst nichts wahr. Dann hatte ich das Gefühl, dass mir jemand einen Arm um den Bauch hält. Das war das Zeichen von Leben.» Ihre Seele sei schnell aus dem Körper hinaus. Wie schon einmal. Jahre zuvor prallt sie mit einem Roller in ein Auto, das ihr die Vorfahrt nimmt. Ihr Kopf prallt aufs Autodach. «Ich war erst wieder im Körper, als ich auf der Strasse sass. Die Ärzte sagten damals, dass man so etwas normalerweise nicht überlebt.»
Die Rettungsleine hält sie in der Nähe des Bootes. Sie klettert auf Deck, kniet sich hin, legt die Hände auf die Oberschenkel, atmet tief durch. Ein weiteres Ruder ist kaputt. Sie holt das noch intakte Ruder rein, räumt das Deck auf, geht in die Kabine. Dann weint sie.
Sie ist durch heftige Winde und Regen gerudert, hat an einem Tag acht Gewitter überstanden. Aber der Sturz vom Boot macht sie nachdenklich. Sie räumt unter Deck -auf. Es geht weiter. Sie glaubt daran, dass fast jeder Mensch die Herausforderungen bekommt, die er meistern kann. «Wenn die Bedingungen schlecht sind, heisst es, auf die Zähne beissen. Denn es ändert wieder. Manchmal in einer Stunde. Da muss man durch.»
Auf Deck ist alles festgemacht. Das Handy, die Musikbox, die Tasche mit den Snacks, der Seesack mit Sonnenschutz und Creme für den Hintern, der schmerzt. Eine halbe Stunde bevor die Sonne untergeht, duscht sie. Sie leert sich eine Flasche Wasser über die Haare, spült sie aus, wäscht sich die Sonnencreme weg. «Ich wusch meine Haare dreimal in 75 Tagen. Aber sie rochen nicht schlecht. Das Meer hat einen modrigen, ledrigen Geruch. Irgendwann riechst du wie das Meer.» Manchmal ist der Ozean ein poetischer Ort. «Eine Welle von zweieinhalb Metern kann sanft wie ein Kätzchen sein, welches den Mittagsschlaf in der Sonne macht. Eine gleich grosse Welle kann dich ins Gesicht schlagen, als ob dich ein Lastwagen rammt. Es lag an mir, auch in harten Momenten das Schöne zu sehen.» Sie spricht mit dem Meer, auch mit einzelnen Wellen. Im Sturm schreit sie: Ihr seid Idioten! «Und manchmal sagte ich einfach: Du bist wunderschön! Mal ist es leer wie eine amerikanische Wüste, mal wie eine toskanische Hügellandschaft. Mal unruhig. So aggressiv, dass ich wusste: In der Umgebung fühle ich mich nicht wohl. Ich will weg. Es war jeden Tag eine andere Landschaft.»
Sie hört Musik. Oft klassische. Beethoven, ein Oboenkonzert von Albinoni. Dann rudert sie. Und lässt ihren Geist dorthin, wo er will. Alte Geschichten kommen auf. Denn sie hat alle Zeit der Welt, Gefühle noch einmal zu durchleben. Und Beziehungen mit Männern. «Ich ging die abstrusen Momente durch, an denen Beziehungen von mir in die Brüche gingen. An meinem Geburtstag. Oder einen Tag vor Weihnachten. Ich dachte daran, wie ein Mann nach mehreren Treffen sagte: ‹Du wirst nie meine Freundin sein, denn du siehst nicht gut genug aus.› Mit fast 40 Jahren. Ich konnte über solche Situationen lachen. Die meisten Männer fanden nach mir die Frau, die sie später heirateten. Da könnte ich etwas Negatives herausziehen. Aber ich sehe das anders.» Die hohe See ist auch eine Auseinandersetzung mit dem Leben. Gabi räumt auf und lässt los. Wirft vieles über Bord. Alle drängeln sich in den Vordergrund. Die Wellen, der Wind – und manchmal ihr Herz.
«Ich spürte, dass ich ankomme. Das war ein Urgefühl»
Jeden Tag weint sie, vergiesst Tränen für jede Emotion. «Ich weinte, wenn ich Freude hatte, wenn ich gerührt war, wenn ich dankbar war, wenn ich müde, wütend und frustriert war. Ich konnte die Emotionen nicht zurückhalten und musste es auch nicht. Denn es war ja niemand da, dem ich es hätte erklären müssen. Es tat gut, es herauszulassen. Ich merkte, ich halte die Emotionen sonst viel zu oft zurück.» Draussen auf dem Meer ist das Weinen harmonisch. Meditation hilft ihr. Sie wird dahin getragen. «Das Meer lupft einen drauf. Wenn man sich dagegen sträubt, wird es nur schwieriger.» Immer wieder hält sie mit dem Universum Zwiesprache. Mit «denen da oben», wie sie sagt. Sie spürt eine Vielzahl von Unterstützern und Engeln. Sie kann sie nicht benennen. Aber sie weiss, dass Kräfte am Arbeiten sind, welche über das Hinausgehen, was man beweisen kann. Sie schreit: Helft mir endlich! Ich brauche euch jetzt! «Ich kommuniziere lieber und sage, was ich brauche. Damit ich wieder in meiner Kraft bin, um aus mir selber zu funktionieren.»
Vier Mal geht sie freiwillig ins Wasser. Der Unterboden des Bootes muss geputzt werden. Sonst setzen sich Muscheln fest. Die verlangsamen das Boot. Sie hat einen Eis-Schaber. Und wenn das nicht funktioniert, benutzt sie ihre Fingernägel. Bevor sie ins Meer steigt, dreht sie die GoPro-Kamera im Wasser, nimmt sie heraus und schaut, ob keine Haie in der Nähe sind. Wenn der Ozean leer ist, gleitet sie hinein, dreht sich noch einmal um 360 Grad. Dann beginnt sie zu putzen. Schaut wieder. Putzt. Es ist nie angenehm. Aber es ist nicht so wie beim schottischen Elite-Soldaten John Davidson, der nicht allzuweit entfernt von ihr rudert. Als er einmal mit dem Unterboden fertig ist, klettert er hinauf, schaut auf der anderen Seite ins Wasser, direkt neben ihm schwimmt ein Hai, der so lang ist wie sein Boot. Sieben Meter. Es ist das letzte Mal, dass Davidson ins Wasser steigt. Beim vierten Tauchgang löst sich am Handgelenk von Gabi Schenkel der Knoten der Leine, mit welcher der Schaber befestigt ist. Sie kann nur zusehen, wie er sich im Kreis dreht und verschwindet. Dorthin, wo alles endet. Und neu beginnt.
Knapp 500 Seemeilen vor dem Ziel hat Gabi Schenkel nur noch einen funktionierenden Autopiloten. Dann steigt auch der aus, weil die Mechanik die ständigen Korrekturen nicht mitmacht. Sie muss mit den Steuerseilen von Hand steuern. Am Abend kontrolliert sie die Position nochmals, fixiert die Seile, um auf Kurs zu bleiben. Sie geht schlafen. In den nächsten sechs Stunden gerät das Boot aber in eine Strömung und wird südwärts gezogen. Als sie erwacht, ist sie 15 Kilometer zu weit südlich. 350 Meilen vor dem Ziel. Zudem erwischt sie ein Strudel, der sie wieder nach Osten zieht. Es bleibt ihr nichts anderes übrig, als zu rudern, bis sie sich befreit hat. Schenkel verschickt eine Sprachnachricht an die Organisatoren. «Aber es kam keine Aufmunterung. Niemand sagte mir, du kannst das! Ich dachte: Ihr werdet bald ganz still werden!» Später hört sie, dass in der Rudergemeinschaft gemunkelt wurde: Sie schafft es nicht. Sie ist zu dünn, kennt das Rudern nicht, hat ein zu grosses Boot. Weiss nicht, worauf sie sich einlässt.
Tag 73. Es ist heiss. Gabi Schenkel hat am ganzen Körper Hitzepickel. In den Kniekehlen, den Unterarmen, Achseln, Oberschenkeln. Sie spürt drei Finger der linken Hand nicht mehr. Ihr Hintern ist wund. Der Körper schmerzt. Aber es gibt keinen anderen Weg. Sie sagt sich: Rudere! Sie weiss, dass der Wind bald ändert. Von inexistent zu einem starken Nordostwind. Ihr Satellitenmodem kann sie nicht mehr laden. Sie muss es ständig eingesteckt lassen, wenn sie es benutzt. Und dort stört es den Kompass. Die Koordinaten, die sie von der Rennleitung bekommt, liegen für sie um 10 bis 20 Grad daneben. Also berechnet sie selber einen Punkt auf der Karte, visiert eine Stelle südlich von Antigua an. Sie schläft kurz, isst noch drei Mahlzeiten. Sie weiss, wenn der Wind zu früh dreht und sie nicht rudert, könnte sie das Ziel verfehlen. Also rudert sie. Manchmal schläft sie am Ruder für Sekunden ein. Dann schlägt sie sich, um wach zu bleiben. «Das war hart. Sehr hart», sagt sie. Sie rudert die ganze Nacht hindurch.
Es wird hell. Ein Motorboot kommt auf sie zu. Ein Mann schreit: «Gabi, you’re doing awesome!» Sie weint hemmungslos. Sie rudert eine Stunde weiter. Dann geht die Sonne auf. Sie merkt, dass der Wind abnimmt. Es drückt sie nicht mehr gegen Süden. Die Schutzzone des Landes ist erreicht. Sie macht die Antigua-Fahne fest, weint und singt. Im Hafen hupen die Boote. Nach 74 Tagen 23 Stunden 56 Minuten legt sie an. Später wird sie sagen, sie hätte immer gespürt, dass sie ankomme. «Das war ein Urgefühl. Die Leute sollen merken, dass sie viel mehr können, als sie denken.» Sie geniesst Umarmungen von fremden Menschen. Doch am Abend ist es ihr zu laut. Sie geht hinaus. Hört das Meer flüstern. Den Ort, der sie weinen liess. Der oft so dunkel war. Und noch mehr Licht brachte.
Und wünscht sich zurück.