Jolanda Neff erwischt den letzten Flug, bevor Präsident Trump die Grenzen der USA Ende März schliesst. Seither lebt und trainiert die St. Gallerin bei ihrem Freund Luca Shaw, einem Downhill-Profi, in North Carolina – Rennen finden momentan keine statt. Es ist das zweite Mal innert eines halben Jahres, dass das junge Paar gemeinsam durch eine aussergewöhnliche Zeit geht. Denn wenige Tage vor Weihnachten 2019 ändert sich das Leben der Cross-Country-Weltmeisterin von 2017 auf einen Schlag: Bei einem Trainingsunfall in den USA stürzt sie so schwer, dass die Lunge halb kollabiert, die Milz reisst und sie sich eine Rippe bricht. Es ist ein Sturz, der in vielerlei Hinsicht Spuren im Leben der 27-jährigen dreifachen Gesamt-Weltcupsiegerin hinterlässt.
« Ich war wie im Überlebensmodus, konnte gar nicht klar denken. »
Jolanda Neff
Jolanda Neff, wann haben Sie realisiert, dass bei diesem Sturz nicht einfach wie gewohnt Knochen gebrochen sind?
Augenblicklich. Ich weiss, wie sich ein gebrochener Knochen anfühlt, und habe sofort gespürt, dass etwas anders ist.
Was war das für ein Gefühl?
Zuerst einmal hatte ich Glück, dass ich nicht nur mit dem Filmer meiner Videoserie unterwegs war, sondern eine Minute später auch drei Wanderer vorbeikamen. Sie halfen uns zum Auto, das waren nochmals 15 Minuten zu Fuss. Als man mir im Spital sagte, dass die Milz gerissen ist, wusste ich: Ich komme nicht mit einem blauen Auge davon. Noch in der Notaufnahme habe ich meine Familie angerufen, und da kamen schon die Ärzte, um mich für die Operation mitzunehmen.
Hatten Sie Angst um Ihr Leben?
Um mir solche Gedanken zu machen, hatte ich weder Zeit noch Energie. Ich war wie im Überlebensmodus, konnte gar nicht klar denken. Im Spital fühlte ich mich in einem komaähnlichen Zustand, konnte nicht länger als zwei Minuten am Stück wachbleiben. Wenn jemand mit mir sprach, schlief ich ein. Es war bereits anstrengend, die Augen zu öffnen. Das Schlimmste war, dass ich in der ersten Nacht das Gefühl hatte, zu verdursten. Ich kam ja direkt aus dem Training, durfte aber 24 Stunden lang nicht einmal einen Schluck Wasser trinken. Mein Mund war so trocken!
Wie war das, in diesem Moment einen Ozean weit weg von der Familie zu sein?
Wir haben diskutiert, ob sie herüberfliegen sollen. Aber wir wussten nicht recht, ob sie mir überhaupt helfen könnten. Luca und seine Eltern waren hier und schauten extrem gut zu mir. Luca übernachtete sogar bei mir im Zimmer auf einem viel zu kleinen Sofa. Am Anfang ging es mir elend. Ich bekam so viele Schmerzmittel und schlief keine Minute. Selbst in bester Verfassung würde man sich da elend fühlen. Nach dem Sturz, dem Eingriff, dem massiven Blutverlust, dem zerschundenen Gesicht und mit gebrochener Rippe erst recht. Zehn Tage lang lag ich ausschliesslich und auch danach noch den Grossteil der Zeit. Erst nach dreieinhalb Wochen flog ich in die Schweiz, früher wäre es nicht möglich gewesen. Zu Hause habe ich mich sehr gefreut, meine Familie zu sehen.
Wie sah Ihr Alltag in den ersten Wochen aus?
Die Vorgabe war, den Blutdruck tief zu halten, damit die Milz nicht wieder aufreisst. Treppen durfte ich nur ganz langsam steigen. Ich ging nirgends hin, es war wie ein kompletter Lockdown (lacht). Ich war aber auch lange Zeit so müde, dass ich gar nichts machen wollte. Irgendwann ging es mir so viel besser, dass ich wieder backen oder kochen konnte. Nach einem Monat begann ich damit, ganz locker Velo zu fahren. Ins Gelände durfte ich erst nach drei Monaten.
Was waren Ihre Einschränkungen?
Einmal buk ich einen Kuchen und wollte ganz oben im Schrank das Backpulver holen, kletterte hinauf und hüpfte hinunter. Erst dann merkte ich, dass ich das nicht darf. Die Milz sollte keine Schläge abbekommen, nicht durchgeschüttelt werden, keine schnellen Bewegungen ertragen müssen. Aber ich hatte dort keine Schmerzen mehr, ich spüre diese Verletzung nicht, deswegen musste ich mich dauernd daran erinnern, aufzupassen.
War das der Hauptunterschied zur Reha bei anderen Verletzungen?
Ja. 2018 hatte ich das Schlüsselbein gebrochen, und da hast du augenblicklich das Feedback. Wenn du es nicht mehr spürst, ist wieder alles gut. Wenn du bei der Milz etwas spürst, ist es richtig, richtig schlecht. In diese Situation wollte ich nicht kommen.
Wie schwer ist Ihnen das gefallen? Sie sind so energiegeladen, dass man sich nicht vorstellen kann, wie Sie stillsitzen.
Ja, deswegen musste ich für mich neue Projekte finden, damit ich nicht durchdrehe – ich wollte nicht zwei Monate lang Netflix gucken. Zuerst habe ich Tagebuch geschrieben, um den Unfall zu verarbeiten. Daraus sind Newsletter für meine Sponsoren entstanden, die immer länger wurden. Irgendwann kam ich auf die Idee, dass ich eine Zeitschrift schreiben könnte. Am ersten Mai kam sie heraus. 32 Seiten! Die letzten Wochen mit der Detailarbeit waren anstrengend, aber das Projekt gab mir einen roten Faden im Alltag.
Nochmals zur Milz. Die Ärzte in den USA haben Ihnen gesagt, das Organ sei tot. Aber nun ist sie wieder funktionstüchtig?
Ja, genau. Für mich war die Situation ziemlich beschissen. Ich habe so oft nachgefragt, ob es keine Hoffnung auf Erholung gebe. Die Antwort war immer nein – sie hatten die Blutzufuhr abgeklemmt, damit ich durch den Riss nicht noch mehr Blut verliere. Das war für mich ein Schock, der Tiefpunkt. Ich nahm Kontakt zu anderen Velofahrern auf, etwa dem Briten Ben Swift, der dasselbe erlebt hatte. Geraint Thomas musste sich die Milz sogar entfernen lassen und gewann trotzdem die Tour de France. Das gab mir Hoffnung, dass man trotzdem weiterhin Leistung bringen kann, obwohl das Organ ein wichtiger Teil des Immunsystems ist. Nach einem Monat eröffnete mir ein Spezialist am Kantonsspital St. Gallen dann, dass die Milz durchblutet sei.
Wie ist das möglich?
Er sagte, es sei ein kleines Wunder. Es ist wohl eine kleine Arterie, die vom Magen in die Milz führt. Da ich jung und aktiv bin, hat es die Arterie geschafft, genügend Sauerstoff zu liefern, damit ein Teil der Milz überleben konnte. Cool war, dass meine Schwester am Kantonsspital im Labor arbeitet. Sie war es, die mir bei der Kontrolluntersuchung nach drei Monaten bestätigte, dass die Milz funktionstüchtig ist.
Was ist der Stand heute? Wo brauchen Sie noch Geduld?
Mir geht es wirklich gut, ich habe keine Schmerzen und kann alles machen. Geduld brauche ich noch im Training, das ich Schritt für Schritt aufbauen muss. Bei 80 Prozent anfangen. Dann 81, dann 82 und so weiter. Ich kann nicht drei Tage lang am Stück fünf Stunden voll trainieren und mich danach fit fühlen wie sonst im Frühling. Ich spüre, dass ich zwei Monate lange null Belastung hatte und nun viel schneller erschöpft bin.
Momentan weiss man noch nicht, wann und ob es 2020 überhaupt Rennen gibt. Hätten Sie es auf die Olympiasaison geschafft?
Ich wollte Ende April mein erstes Rennen fahren. Das war meine Hoffnung, mein Ziel. Für den Rest der Saison hätte ich sicher jeden Tag optimal nutzen müssen. Aber ich bin überzeugt, dass ich meine Form wieder gefunden hätte. Ich hatte schon zig ähnliche Situationen. Als ich 2017 Weltmeisterin wurde, hatte ich mich sechs Wochen zuvor an der Schulter verletzt. Nicht einmal an der WM konnte ich den Lenker hochziehen, weil ich das Band angerissen hatte – ich gewann das Rennen aber mit mehr als zwei Minuten Vorsprung. Dieses Wissen half mir jetzt, motiviert zu bleiben und mich um meinen Körper zu kümmern.
«Du bekommst die Chance, eine neue Perspektive aufs Leben einzunehmen.»
Jolanda Neff
Mit der Corona-Krise wurde Ihr Leben zum zweiten Mal innerhalb eines halben Jahres auf den Kopf gestellt. Gibt das eine Ruhe, weil Sie sich den Lockdown schon gewohnt sind, oder wären Sie erst recht wieder bereit gewesen fürs Leben?
Es trifft beides zu. Anfang März dachte ich: Ach, das habe ich schon geübt, ich weiss, was kommt. Nun bin ich aber am Punkt, an dem ich mich freuen würde, wieder Rennen zu fahren, zu reisen, in die Trainingslager oder wieder zurück in die Schweiz fliegen zu können. Ohne die Befürchtung, dass ich danach meinen Freund ein halbes Jahr nicht mehr sehen kann, weil die Grenze zu bleibt.
Gab es in der Rehaphase nochmals so schwierige Momente wie zu Beginn?
Ich muss sagen, dass es mir unheimlich gut ging. Ich wurde nie krank, was wichtig war, und hatte an jedem kleinen Schritt grosse Freude. Das Coole ist: Wenn du zuunterst bist, kann es ja nur aufwärts gehen. Ich freute mich, eine halbe Stunde am Stück wach bleiben zu können. Dann zum ersten Mal an die Sonne zu gehen. Und ich habe mich unglaublich gefreut, als ich zum ersten Mal draussen aufs Velo sitzen durfte. Ich konnte es kaum glauben. Es war, als ob ich eine Chance bekommen hätte, all das nochmals zu machen. Es war wie ein Geschenk. Ich habe alles sehr intensiv erlebt und geschätzt.
Was hat das in Ihnen verändert?
Es wurde mir bewusst, wer für mich wichtig ist. Allen voran meine Familie. Dass ich mit ihnen viel Zeit verbringen möchte. Und alles, was ich mache, gut zu machen. Dass ich lieb sein will zu allen. Du zoomst dich raus und fragst dich: Wenn das jetzt mein Leben gewesen wäre: War das alles, was ich machen wollte? Würde ich alles nochmals so tun? Du bekommst die Chance, eine neue Perspektive aufs Leben einzunehmen. Das fand ich faszinierend.
Hatten Sie die richtigen Prioritäten denn vorher verloren?
Nicht verloren. Aber man lebt doch generell oft ein wenig in den Tag hinein. Man macht, was man immer macht, ist im Hamsterrad. Dieses Gefühl des Wegzoomens habe ich auch jedes Mal, wenn ich fliege und kurz vor der Landung die Welt von oben sehe. Du schaust auf die Welt und weisst, dass jeder in seinen vier Wänden ist, seine Sorgen, manchmal Scheuklappen hat. Ich bin auch so! Aber wenn du rauszoomst und siehst: Wieso mache ich mir darüber Sorgen? Weshalb betrachte ich jenes nicht auf diese Art? Dann schaust du die Welt mit anderen Augen an. Die Situation mit dem Sturz hatte auf mich diesen Flugzeugeffekt – nur zehnmal stärker. Du realisierst, was du vernachlässigt hast oder was dir wichtig ist. Und was eben nicht.
Wie war es körperlich? Sie haben einen der besttrainierten Körper der Welt, und plötzlich wird er zu einem sensiblen Gut.
Bisher dachte ich immer: Haut und Haare wachsen nach, gebrochene Knochen wachsen zusammen. Aber der Körper ist auch zerbrechlich! Es wurde mir bewusst, welch ein Geschenk, was für ein Wunder er ist und was für eine Regenerationsfähigkeit er hat. Als ich zum ersten Mal zurück auf dem Velo war, dachte ich: Keine Ahnung, wie man ohne Bewegung leben kann. Ich hatte eine so grosse Freude, es fühlte sich so gut an, mein Herz zu spüren, zu atmen! Ich finde, jeder Mensch sollte daran Freude haben.
Wenn man Ihnen zusieht oder von einem Unfall wie diesem hört, denkt man manchmal, Sie kennen gar keine Angst. Wie schmal ist dieser Grat zwischen Risiko, das zum Sieg nötig ist, und der Gesundheit?
(lacht) Ich bike jeden Tag im Gelände. Fuhr mein erstes Rennen als Sechsjährige. Wenn ich über einen grossen Stein auf dem Trail brettere, ist das nicht waghalsig – es ist täg-liche Routine! Es ist nicht gerade wie Zähneputzen, aber eine repetitive Bewegung, die du irgendwann intuitiv machst. Wie du das Gewicht richtig verlagerst, wie du reagierst, wenn du in der Luft bist und ein Luftstoss kommt, ist nach Jahren der Übung natürlich. Im Rennen fahre ich innerhalb meiner Fähigkeiten, fühle mich wohl und sicher dabei. Ich würde sagen: Ich bin die Fahrerin im Feld, die am wenigsten Risiko nimmt, verglichen mit dem, wie unser tägliches Training aussieht.
Was heisst das?
Es gibt viele Fahrerinnen, die einen Grossteil ihres Trainings auf dem Rennvelo machen. Dann kommen sie zum Weltcup, wo es einen riesigen Drop hat – und sie sind vermutlich seit dem letzten Rennen keinen mehr gefahren. Das ist waghalsig! Jede Runde wird so zur Überwindung. Ich aber fühle mich wohl in der Abfahrt. Natürlich sieht es von aussen spektakulär aus, und ja, es gibt keinen Raum für Fehler. Aber ich mache das täglich.
Dann sind die Stürze, die Sie hatten, die Fehler, die eben einfach passieren?
Dieser Sturz war blöd, weil ich den Trail nicht kannte und ihn fuhr, obwohl ich nicht wusste, wie er aussah. Das ist das Einzige, wenn ich zurückdenke an meine Stürze: Entweder waren sie im Renngeschehen, wo noch andere Leute sind, die dich vielleicht ummähen, das gibt es. Oder eben, wenn ich etwas nicht gekannt habe. Aber wenn ich ausrechne, wie viele Stunden ich in 20 Jahren auf dem Bike sass – da finde ich nicht, dass es viele waren.
Das klingt nicht, als ob Sie beim Fahren jetzt noch eine Blockade hätten.
Nein, überhaupt nicht! Bloss einmal dachte ich daran: Als wir beim Parkplatz vorbeikamen, wo wir nach dem Unfall aus dem Wald gekommen sind. Sonst muss ich sagen, ging es mir wirklich auch mental gut. Ich hatte gute Leute um mich herum und fand das schön. Ich habe fast mehr Freude am Leben als zuvor.