In Landquart geht gerade die Welt unter. Der Wind bläst eiskalten Regen in die Wiesen und Felder. Und die bewaldeten Gebirgszüge links und rechts des Tals stecken das letzte Licht des Tages frühzeitig in ihren dunkle Manteltasche. Conner Manning steht unter einer Tanne neben dem Sportplatz. Sie breitet ihre Äste über ihm aus wie ein Schirm. Gleich wird der 24-jährige Quarterback mit seinen neuen Teamkollegen, den Calanda Broncos, zum Training in diese Wand aus Wasser laufen. Fast 10 000 Kilometer weit weg ist seine Heimat Lake Forest im Süden Kaliforniens, gleich neben Laguna Beach und der Sehnsuchts-Strasse Highway 1. Dort, wo es selbst im Dezember und Januar meist 15 Grad warm ist und es ab Mai bis in den Herbst kaum mehr einen Regentag gibt. Laguna Beach ist das Klischee-Kalifornien. Mit einem Surf-Spot, einem Meeresaquarium, einer lebendigen Kulturszene. Und manchmal haben Touristen einen Puls-Sprung von vielleicht 100, wenn ein Helikopter per Megafon ankündigt, sie sollen zügig, aber ohne Panik aus dem Wasser gehen, weil 15 weisse Haie in Strandnähe sind. Man trägt Shorts – meist das ganze Jahr. Jetzt friert Manning in Landquart bei vier Grad an den Hintern. Er schaut auf die Wiese des Sportplatzes Ried. Und vielleicht fragt er sich gerade, wo er hier eigentlich gelandet ist. Das jedenfalls sagt sein Blick, der irritiert von links nach rechts und wieder nach links pendelt.
Die Broncos sind immerhin die beste Adresse in der Schweiz, was American Football betrifft. Neunfacher Schweizer Meister, zuletzt 2015, 2017, 2018. Eurobowl-Sieger 2012. Knapp 900 Zuschauer kommen regelmässig an die Spiele an der Churer Ringstrasse. Zu dieser Mischung aus Amateur- und Profisport. Wo Leute aus der Gegend, die zweimal pro Woche ein Hobby ausüben, auf sogenannte Imports aus dem Ausland treffen, die sich einen Frühling und Sommer lang verpflichten lassen. Und während gewisse Schweizer Spieler erst ein paar Monate dabei sind und gerade die eine oder andere Feinheit des Sports so richtig begreifen, hat Manning schon vor über 100 000 Zuschauern brilliert. Der Spielgestalter hat glänzende Jahre als ju-gend-licher Footballer hinter sich. Er bricht diverse High-School-Rekorde in Südkalifornien und sieht später mit den in der höchsten Division antretenden College-Teams von Utah und Georgia State die grosse Welt. Nicht einmal die Profiliga NFL ist so populär wie die Auswahlen der Universitäts-Teams, welche in den USA ein Milliarden-Business sind. Mit Schulen, die bis zu 100 Millionen Dollar pro Saison einnehmen. «Mein Traum war es, College-Football zu spielen», sagt Manning. «Die Tradition, die Fans, das Brimborium – es gibt dir Gänsehaut. In meinem letzten Jahr spielten wir im Stadion der Penn-State-Uni vor 108 000 Zuschauern. Der Lärm war ohrenbetäubend. Das war einer der coolsten Momente meines Lebens. Ich werde es nie mehr vergessen.»
”Ich spielte vor 108 000 fans. das vergesse ich nie“
Conner Manning
Manning, der dank seines Studiums einen Masterabschluss in Sport-Administration ausweist, merkt früh, dass sein Weg nicht in den Profi-Sport und die NFL geht. «Ich war nicht nah dran, gedraftet zu werden. Ich ging auch nicht zum Pro Day, wo jedes Team seine Spieler den Scouts präsentiert. Nach meinem letzten Jahr machte ich den Schritt ins richtige Leben und fing in Atlanta an, an der High School zu coachen. Damals wusste ich schon, dass mein Ziel Europa ist.» Viele gehen aufs College und haben keinen Plan, was sein wird, wenn sie es nicht in die NFL schaffen. «Sie sehen nur das. Und wenn es nicht geht, stehen sie vor dem Nichts. That troubles a lot of kids», sagt Manning. Das beunruhigt viele Junge.
Warum er letztlich in den Bündner Bergen landet, hat mit dem amerikanischen Trainer der Broncos zu tun. Geoff Buffum war einst Mannings High-School-Coach. Der Kontakt blieb. Letztlich führte er dazu, dass die Broncos den vielleicht talentiertesten Quarterback ihrer bald 30-jährigen Geschichte in ihren Reihen haben. Der Anreiz für die amerikanischen Spieler in den leis-tungsmässig bescheidenen europäischen Ligen ist vor allem einer: Sie lernen einen anderen Teil der Welt kennen, reisen durch Europa und arbeiten neben dem Sport ihre touristische Bucket-list ab, die Streichliste der Sehenswürdigkeiten auf dem alten Kontinent. Athen, Prag, München und London hat Manning schon gesehen. «Jetzt will ich bald nach Rom. Aber, hey, auch hier ist es schön. Ich war am Caumasee, mit dem Glacier-Express unterwegs – da fehlen dir die Worte.» Sonntags bis mittwochs haben die Übersee-Spieler mehr oder weniger frei und tun, was sie wollen, donnerstags und freitags stehen Trainings an, samstags ist Spieltag. Reich werden die Imports nicht. Der Monatslohn liegt zwischen 1000 und 1500 Franken, dazu kommt bei den Broncos ein ÖV-Ticket und ein Mittagessen pro Woche. Die Unterkunft ist ein Zimmer im Bündner Lehrlingsheim, wo sich die meisten Bewohner WC und Etagendusche teilen. «Aber ein Schock ist das nicht für unsere Amerikaner», sagt Broncos-Vizepräsident Daniel Zinsli. «Im College haben sie ja auch kleine Zimmer. Und der Coach schenkt ihnen vor der Verpflichtung reinen Wein ein, was sie hier erwartet.» Neben zwei Amerikanern gibt es drei Deutsche, einen Österreicher und einen Franzosen im Team. Sie hingegen reisen nur an den Spieltagen an – gegen Unterkunft und etwas Spesengeld. Der Marktplatz für ausländische Spieler ist die Internet-Jobbörse Europlayers, wo sie ihre Dienste anbieten und Vereine ihre offenen Positionen. Ein Kader zusammenzubringen, ist schwierig. 45 Spieler laufen am Match-Tag auf. Und die Schlüsselpositionen müssen gut besetzt sein. «Wir investieren in Line-Spieler, also Offensive Line und Defensive Line», sagt Zinsli. «Denn wenn wir keine Leute haben, die dem Quarterback Zeit geben, bringt dir der beste Wide Receiver nichts. Und wenn deine Defense dem gegnerischen Quarterback zu viel Zeit gibt, nützt dir der beste Passverteidiger nichts.»
”Hier sehe ich noch echte freude, wenn einer seinen ersten Ball fängt“
Headcoach Geoff Buffum
Wie kompliziert es ist, ein einigermassen erfolgversprechendes Gleichgewicht zu finden, zeigt ein Blick auf die sechs Teams in der höchsten Schweizer Liga. Während sich die Calanda Broncos und die Geneva Seahawks vorn auf Augenhöhe bewegen und die Bern Grizzlies oder die Basel Gladiators an einem guten Tag auf eine Überraschung hoffen, sind die Winterthur Warriors und die Luzern Lions überfordert. Das hat auch damit zu tun, dass sich die Broncos und Seahawks einen Vollzeit-Coach leisten, der ungefähr einen Drittel des Gesamt-Budgets von 300 000 Franken kostet und von der Spielerverpflichtung bis zum Ballpumpen alles Mögliche übernimmt.
Weit hinten auf dem Trainingsfeld in Landquart rammt ein Duo den Blockschlitten mit einem Ruck über die Wiese, trippelt mit den Beinen. Weit weg davon übt Connor Manning mit ein paar Leuten einen Spielzug. In diesem Universum von Hobbyspielern ist er gleichzeitig Star und Entwicklungshelfer. «Wir waren in der High School schneller und präziser als meine Kollegen hier. Aber sie sind fasziniert und wollen sich jeden Tag verbessern», sagt er. Der Quarterback trägt als Einziger ein rotes Shirt, damit er gut sichtbar ist, ihn keiner berührt. Manning ist im Training unantastbar. Das Verletzungsrisiko ist zu gross. Ihn zu ersetzen wäre eine mittlere Katastrophe. «Wenn ihn einer anfasst, schickt ihn der Coach zur Hölle», sagt Zinsli.
Neun Tage später. Im Garderobentrakt unter der Tribüne des Stadions an der Churer Ringstrasse wird ein türkisches Lied gebrüllt und dazu mit den Füssen auf den Boden gestampft, dass die Wände vibrieren. Die KOC Rams, ein Team einer Uni aus Istanbul, singt sich fürs Spiel der Central European Football League Mut an. Je zwei kleine Garderoben haben die Broncos und die Rams, die Meisterteams ihrer Länder. Der Platz ist so knapp, dass sich die Spieler Schenkel an Schenkel
auf die Bänke zwängen. Zwei bis drei stehen und sitzen vor den Garderoben, dazwischen Taschen, Flaschen, Schulterpolster. Ein verwegenes Chaos. «Du ninnsch d Fahna», sagt einer vor dem Einlaufen aufs Spielfeld und drückt dem Kollegen die Broncos-Flagge in die Hand. Cheerleaders haben sich auf dem Rasen zu einer Pyramide aufgetürmt. Dann rennen zwei Spieler mit Rauchkerzen in der Hand zur Mitte, der Rest hinterher. Nationalhymnen folgen. Um die 700 Zuschauer sind da. Ein paar haben Trommeln dabei. Viele halten ihre Schildchen in die Luft, auf denen «Let’s go Broncos» steht. Einer schreit, vom Patriotismus übermannt, «Türkiye! Türkiye!».
Seine Begeisterung wird im Keim erstickt. Nach dem ersten Viertel steht es schon 28:3. Manning passt fast nach Belieben zu Touchdowns. Lukas Lütscher oder der mit be-acht-lichem Speed ausgestattete Tino Muggwyler heissen zwei seiner Abnehmer. Dazwischen bedient er den Running Back, der durch die gegnerischen Reihen spaziert. Die schweren Brocken der Offensive Line verschaffen ihnen fast unverschämt viel Zeit und Raum. Jedenfalls fürs Verständnis von Menschen, die Football nur aus NFL-Übertragungen kennen. Es bleibt bis zum Schluss ein Klassenunterschied. Das 55:17 spricht Bände. Das ist oft so bei Vergleichen in Europa, wo nur die German Football League einen sehr kompetitiven Wettbewerb bietet. Auch wenn die Türken selber über gute Import-Spieler verfügen, reicht es nirgendhin. «Sie haben hart gekämpft und waren von der Reise wohl etwas müde», urteilt Manning grosszügig über den Gegner. Für ihn ist die Begegnung auch ein Wiedersehen mit einem alten Bekannten. Running Back Josh Quezada, auch er ein Süd-Kalifornier, hat vor zehn Jahren mit seinem Universitätsteam in Utah gegen Manning gespielt. «Er bringt ein Division-1-Niveau mit. Die hatten schon ein paar gute Spieler. Aber meine Leute haben mir alle Zeit der Welt gegeben.»
11. September 1994
Insta: @cmanning717
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Headcoach Geoff Buffum steht noch Minuten nach dem Sieg im Regen, analysiert mit den Verantwortlichen der Offense und der Defense Details. «Jetzt haben Sie gesehen, wie wichtig ein Quarterback wie Conner ist», sagt er, einst selbst erfolgreicher College-Quarterback. «Einer mit seinen Qualitäten kann Spiele entscheiden. Ich habe ihn als Teenager gekannt. Jetzt ist er ein Mann. Ohne gros-ses Ego, kein Bighead. Und wenn er eine Idee hat, liegt er meistens richtig.» Buffum ist froh, dass auch er richtiggelegen hat – mit Mannings Verpflichtung. Der Trainer ist seit 2011 hier, hat Wurzeln geschlagen. Auch darum, weil er eine Schweizer Frau kennengelernt und mit ihr eine Familie gegründet hat. «Ich habe nicht gedacht, dass wir hier so schnell so weit kommen. Vor zehn Jahren spielten hier so viele Imports, die Schweizer kamen kaum zum Zug. Jetzt stehen Leute auf dem Feld, die vor zwei Jahren erwachsene Rookies waren, blutige Anfänger. Und sieh’ sie dir jetzt an!» Nicht alle amerikanischen Coaches können den Jobs in Europa so viel abgewinnen. Einige halten es nicht aus, dass Football hier nicht die Welt bedeutet, sondern nur das körperliche Austoben nach einem Arbeitstag mit der Aussicht auf ein Bier danach. In Amerika kommt es nicht vor, dass einer im Training fehlt. Ausser er liegt im Koma. Das ist hier anders. Buffum hat aber auch Seiten entdeckt, die im Gegensatz zum in Amerika minuziös durchorganisierten und von Pathos durchtränkten Sport durchaus erfrischend sind. «Es ist einer der letzten Orte der Welt, wo ich noch echte Freude sehe, wenn einer seinen ersten Ball fängt. Die Leute spielen, weil sie Freude haben. Auch die Profis spielen nicht, um reich zu werden. Niemand kann hier für eine Villa sparen. Sie lieben es einfach, hier zu spielen. Und ich liebe es so – vielleicht trainiere ich noch ihre Kids!»
”Beim Skifahren musst du auch einen Fleck weghaben. Aber das hier ist gewaltig“
Marco Mahrer, Broncos-Captain
Bevor in der Kabine die Bier-Kanister geöffnet werden, legen die Spieler nochmals Hand an. Zelte abbauen, Teppiche zusammenrollen, die Tribüne wischen. Nur so funktioniert ein Verein wie dieser. Danach klatscht Marco Mahrer ein paar Freunde ab. Der 28-jährige Sohn des ehemaligen Skifahrers und Kitzbühel-Siegers Daniel Mahrer ist bei den Broncos Linebacker, Integrationsfigur, Captain. Dazu einer mit Ausland-Erfahrung. 2011 trainiert er ein Jahr in einem kalifornischen Junior-College, kämpft sich durch die Auswahl-Verfahren, kommt zu Einsätzen. Seither ist er bei den Broncos nicht wegzudenken. «Die Entwicklung gefällt mir. 2012 waren wir zwar eines der besten Teams Europas, aber mit viel mehr amerikanischer Hilfe. Jetzt stehe ich mit den Jungs auf dem Feld, mit denen ich schon Junioren gespielt habe. Das ist das Geilste! Und die Zuschauer schätzen das. Niemand hat so viele Fans. Die Atmosphäre bei uns ist mit Abstand die beste.» Mahrer fuhr einst so gut Ski, dass er bei Fis-Rennen startete. «Aber ich war mental nicht bereit. Dann habe ich mit Football begonnen.» Er liebt die physische Komponente des Sports. «Du musst es erlebt haben. Beim Skifahren musst du zwar auch einen Fleck weg haben. Aber das hier ist gewaltig! Ich empfehle das jedem.» Mahrer arbeitet als Architekt in einem Büro. «Football ist der perfekte Ausgleich, wenn du den ganzen Tag im Büro hockst und nur mit der Maus klickst. Am Ende des Tages ‹es biz de Grind go iitätsche schadt nid›», findet er.
8. Juni. fast geht alles auf. Es ist mehr geworden, als viele gedacht haben. Im Final der Central European Football League liegen die Broncos daheim gegen die Swarco Raiders aus Innsbruck lange in Führung. Auf der Zielgerade unterliegen sie aber noch 42:46. Wenn die Meisterschaft beendet ist, kehrt Quarterback Manning vorläufig nach Amerika zurück. Dort wird er erzählen. Von diesem Ort, wo sie Football nicht ganz so gut können – und es trotzdem innig lieben.
College-Football
Der Broncos-Quarterback Conner Manning spielte wie viele US-Imports in Europa früher College Football. Als Spielgestalter der Georgia State Panthers hatte er Auftritte vor bis zu 110 000 Zuschauern. Die Broncos zählen in der Schweiz immerhin auf treue 700 bis 900 Fans pro Spiel.