Manches braucht Zeit. Und manches erübrigt sich mit der Zeit. Auch für Bettina Geiger-Frieden, 46. «Wir haben das alles nie richtig thematisiert zusammen. Und heute wissen wir auch so voneinander, was wir über all das denken. Wir haben längst eine Form der Beziehung gefunden, die für beide stimmt, sind erwachsen und stehen uns mit etwas räumlicher Distanz auf gute Art nahe.»
All das. Ein Olympiasieg bringt viel mit sich. Nicht nur für die erfolgreiche Athletin, sondern auch für ihr Umfeld. Die Schwester einer Gewinnerin zu sein, bedeutet nicht zwingend, dass der goldene Glanz auf einen fällt. Bettina Geiger kennt das. Mit dem Boardercross-Sieg ihrer zwei Jahre jüngeren Schwester Tanja Frieden 2006 in Turin ist einiges in ihrem Leben aus dem Lot geraten. «Es ist mir aber wichtig, festzuhalten: Die Probleme waren nicht die Schuld von Tanja als meiner Schwester, sondern davon, was die Gesellschaft mit Prominenten anstellt.»
Bettina und Tanja wachsen als Töchter eines norwegisch-schweizerischen Paars harmonisch in Thun auf. Die Familie ist sportbegeistert, in jeder Form. Ehrgeiz liegt allem sportlichen Tun zugrunde. Als Teenager beginnen die Frieden-Schwestern auch mit dem Snowboarden, die Ältere führt die Jüngere ein, beide haben Talent. Bald wird es ein Wettkampfsport bei Tanja. Bettina hätte das Zeug dazu auch, konzentriert sich aber lieber auf ihre Hochbauzeichnerlehre und später auf das Architekturstudium. Als Tanja Erfolge einheimst, denkt Bettina manchmal: «Gopf! Das hätte ich doch auch gekonnt.» Aber letztlich fehlen Lust und Ehrgeiz. Lieber bleibt sie beruflich dran, gründet eine Familie. Die Töchter sind heute 16 und 20 Jahre alt.
«Die Leute trugen ihr alles hinterher und strichen ihr um die Beine, in der Hoffnung, etwas von ihrem Ruhm abzubekommen.»
Bettina Geiger-Frieden
Dass Tanja in jungen Jahren mehr elterliche Zuwendung erhalten habe, verneint Bettina Geiger vehement. «Unsere Eltern waren sehr sensibel, gerecht und bewusst diesbezüglich. Es war überhaupt kein Problem.» Die beginnen erst 2006. Als Tanja in Turin als Olympiasiegerin ins Ziel fährt, sitzt ihre Schwester in Thun vor dem TV und schöppelt die Tochter. Sie freut sich mit Tanja — bis zwei Minuten später das Telefon klingelt. Ein Journalist eines Basler Radiosenders fragt: «Frau Geiger, wie fühlt man sich als frischgebackene Olympiasiegerinnen-Schwester?» Bettina Geiger ist konsterniert. «Wie es mir geht, wer ich bin, interessierte ihn gar nicht. Ich war nur noch ein Anhängsel.» In der Folgezeit akzentuiert sich das. Die sportliche Frau, die als freiberufliche Architektin Karriere macht, fühlt sich ausgenutzt, auf die Schwesternrolle reduziert. Und das nicht nur durch die Medien: «In Thun fragten mich die Leute auf der Strasse nicht, wie es mir, sondern nur, wie es Tanja gehe.» Dass sie im selben Haus wohnt wie ihre Schwester mit Familie, macht es nur schwerer. «Ihr Terminplan war plötzlich massgebend, egal, wie der gemeinsame Wäsche-, Putz- oder Gartenplan aussah. Ich hatte das einfach zu akzeptieren. Sprach ich sie darauf an, war ich kleinlich.» Der Olympiastar ist sofort gewohnt, dass ihr in der Heimat überall der rote Teppich ausgerollt wird. «Die Leute trugen ihr alles hinterher und strichen ihr um die Beine, in der Hoffnung, etwas von ihrem Ruhm abzubekommen.» Für die Eltern Frieden ist es auch nicht leicht; insbesondere die Mutter spürt den Konflikt, gerät gefühlsmässig zwischen Hammer und Amboss. Zum Glück ist für Bettina Geiger Ehemann Ruedi in dieser Zeit Mentor und Stütze. «Er half mir, alles zu relativieren, baute mein Selbstwertgefühl auf.»
Die Zeit heilt alle Wunden, doch wirklich Besserung bringt erst der Auszug Tanjas aus dem gemeinsamen Haus 2015. Heute verspürt Bettina Geiger-Frieden keine Zurücksetzung und auch keinen Neid mehr. «Ich weiss jetzt, dass Tanja wegen ihres Olympiasieges kein besseres Leben hatte als ich, nur eben ein anderes. Ich bin glücklich mit meinem Leben, meiner tollen Familie, dem Beruf.» Spricht jemand das Snowboard-Talent ihrer eigenen Töchter an und meint, das sei kein Wunder bei dieser Tante, dann kann sie darüber lächeln. Sie freue sich heute sogar mehr über Tanjas Olympiasieg als damals, sagt sie. Manchmal ist Reden wirklich nur Silber und Schweigen Gold.