«Ich war damals noch U23-Fahrer und gewann im Vorfeld der Spiele in Val di Sole den WM-Titel in jener Kategorie. Das gab etliche Diskussionen, weil die WM der letzte Qualifikationsevent für Peking war. Bei den Aktiven siegte Christoph Sauser vor Florian Vogel und Ralph Näf. Doch nicht zuletzt, weil ich im Weltcup schon die Nummer drei der Schweiz war, schickte man statt Näf mich an die Spiele. Er als WM-Dritter musste zu Hause bleiben. Schon hart. Für mich aber war die Selektion bereits ein Riesenerfolg.
«Kontakte mit den Einheimischen? Fehlanzeige. Das war krass»
Nino Schurter
Wegen des heissen und feuchten Klimas und der Zeitverschiebung reisten wir zur Angewöhnung schon zwei Wochen vor dem Wettkampf nach China. Dort wohnten wir weit abgelegen von allem nahe der Chinesischen Mauer in einem Camp mit norwegischen und Schweizer Sportlern. Es war eine Art Magglingen für China, ziemlich spartanisch eingerichtet und mit Gittern um die Anlage, wohl damit uns niemand belästigen kann. Mir kam es allerdings eher vor, als sollten die Sportler daran gehindert werden, abzuhauen … Trainiert haben wir praktisch nur auf der Strasse, weil es keine richtigen Trails gab. Das hatte seine Tücken; wir fanden den Weg zurück ins Camp mitunter nur mit Hilfe von Abfotografieren der komplett unidentifizierbaren Wegweiser. Kontakte mit den Einheimischen? Fehlanzeige, das war krass. Einmal wagte ich mich ins Gelände, aber da verfolgten mich Hunde, da liess ich das lieber bleiben. Wenigstens lag ein Besuch der Chinesischen Mauer drin.
Zwei Tage vor dem Olympiarennen dislozierten wir ins Village in Peking. Weil das MTB-Rennen jeweils am letzten Tag der Spiele stattfand, bekamen wir aber nicht mehr viel mit von der Stimmung. Die meisten Athletinnen und Athleten waren bereits abgereist, und auch das Schweizer Haus war schon geschlossen. Ich habe als Einziges einen Schwimmwettkampf live mitbekommen. Von Land und Leuten haben wir kaum etwas gesehen. Mal gings für einen Medientermin in eine Nudelfabrik und an einen Tee-Verkaufsstand, das wars auch schon. Immerhin konnte ich meinen Vater, der kurz vor dem Rennen angereist war, bei einem Tempel in der Nähe treffen. Was aber extrem war: Die Luft in Peking war hervorragend! Total anders als beim Testevent ein Jahr zuvor; da hatte man den Himmel wirklich kaum gesehen durch den grauen Smogschleier, und die Augen brannten permanent. Vor den Spielen wurden Verkehr und Industrie einfach lahmgelegt.
«Ich war etwas explosiver als Susi und holt die Medaille. Es war wohl meine emotionalste, weil unerwartetste»
Das Rennen ist rasch erzählt. Christoph Sauser und ich kämpften am Ende einsam um Bronze. Ich war etwas explosiver als «Susi» und holte die Medaille. Es war wohl meine emotionalste, weil unerwartetste. Es heisst übrigens, die Strecke sei auf einem alten Friedhof angelegt gewesen. Ich weiss nicht, ob das stimmt. Tatsache ist, dass wir nach der Siegerehrung extrem pressieren mussten, um es an die Schlussfeier zu schaffen. Und am anderen Tag gings weiter an den Weltcup in Australien. Da hatte ich allmählich mit Heimweh zu kämpfen. Peking war aber meine olympische Premiere und deshalb ein riesiges Abenteuer für mich.
Schaue ich heute zurück, so kann ich sagen, dass London nach Bronze in Peking mit Silber ein logischer Schritt auf dem märchenhaften Weg zum Olympiasieg war. Eine perfekte Choreografie. Aber damals war der zweite Rang für mich nichts anderes als die bitterste Niederlage meiner Karriere. Ich war nach einer Siegesserie im Weltcup als Favorit gestartet und liess mich kurz vor dem Ziel von Jaroslav Kulhavy naiv übertölpeln, nachdem wir von Anfang an einen harten Kampf geführt hatten.
Es war ausschliesslich meine Schuld, dass ich Gold verpasste. Am liebsten wäre ich gleich aus dem Zielraum abgeschlichen. Doch ich pressierte mit den anderen dann doch an die Schlussfeier. Das war gut so, denn anschliessend gingen wir in London in den Ausgang, wo ich in einer Bar die australische Rad-Legende Cadel Evans traf. Er hatte vor dem Wechsel auf die Strasse zweimal den MTB-Weltcup gewonnen und war für mich eine grosse Figur. Zu nächtlicher Stunde mit ihm zu plaudern, tat mir gut zur Ablenkung.
Dabei wäre eigentlich alles angerichtet gewesen für Gold. Wir Biker waren vier Tage vor dem Rennen angereist und dislozierten direkt in unsere beiden extra angemieteten Häuser bei Hadleigh Farm, unmittelbar neben der Olympiastrecke und weit weg von London. Es war alles prima dort, beste Vorbereitungsbedingungen, und die Engländer sehr sportbegeistert bei den Begegnungen. Es waren Privathäuser, die Swiss Olympic für uns gemietet hatte, und ich schlief in einem pinken Mädchenzimmer. Doch gings beim Rennen, wiederum am letzten Olympiatag, eben nicht auf.
London und das olympische Dorf sahen wir genau zwei Mal von innen. Einmal fuhren wir extra für eine Medienkonferenz die einstündige Strecke ins Swiss House. Und nach der Schlussfeier und dem abendlichen Ausgang übernachteten wir im Village. Am Tag darauf wollten Florian Vogel, Ralph Näf und ich etwas Stadtluft schnuppern und mieteten Citybikes für eine Erkundungs- und Shoppingtour. Von Olympia war nicht mehr viel zu spüren, alles war geschlossen, und der Rückbau hatte schon begonnen. Ich habe mir in der Stadt ein paar ungebrandete Klamotten gekauft; ich hatte genug von den offiziellen Olympiakleidern. Es war schön, Nina, meine Eltern und ihre Freunde zu treffen, die fürs Rennen angereist waren. Eine schöne Erinnerung ist London 2012 heute trotzdem.»
Natürlich waren die Spiele in Rio meine liebsten, weil ich meinen Karrierehöhepunkt mit der Goldmedaille da erlebte. Diese Genugtuung nach dem Frust von London überstrahlt alles. Seltsamerweise war meine Siegeseuphorie im Ziel nicht überwältigend gross. Ich glaube, nach dem WM-Gewinn vor eigenem Publikum in Lenzerheide explodierte meine Freude viel stärker, war ich viel emotionaler. Ich hatte in Rio – dumm ausgedrückt – einfach den Auftrag erfüllt, den ich mir gegeben hatte: Sieg oder nichts, war nach London meine Devise. Erst in den Tagen danach fühlte ich eine grosse Erleichterung.
Die Voraussetzungen waren auch vor Ort gut. Wir waren auf alles bestens vorbereitet. Schon zwei Jahre zuvor waren wir Biker auf Inspektionsreise nach Rio gegangen und hatten uns die Wohn- und Trainingsverhältnisse angeschaut. Damals wurden wir zwar noch vom Verkehr überrascht und fuhren am Abreisetag in Badehosen zum Flughafen, als wir merkten, dass es nicht mehr zum Umziehen im Hotel reicht.
Doch wir nutzten damals auch den Aufenthalt für das touristische Sightseeing an der Copacabana oder dem Zuckerhut, so dass das quasi abgehakt war und wir an den Spielen keinen Programmstress erlitten. Unser Bungalowhotel während der ersten Woche in der Nähe von Petrapolis, etwa 200 km ausserhalb von Rio in den Bergen, war perfekt: ruhig, abgelegen, mit besten Trainingstrails. Da hatten Swiss Cycling und Swiss Olympic tolle Vorarbeit geleistet, viel besser, als es bei der Konkurrenz der Fall war.
Wir fünf Bikerinnen und Biker, Forster, Flückiger, Neff, Indergand und ich sowie der ganze Staff fühlten uns pudelwohl. Es gab auch einmal ein gemeinsames Abendessen auswärts und einen Halt an einer Kokosnuss-Bar auf einer Trainingsfahrt. Total beschaulich! Inzwischen habe ich genug vom abgeschotteten Leben während eines Grossanlasses. Das habe ich jetzt gesehen.
Die Beschaulichkeit änderte sich, als wir fünf Tage vor dem Rennen, als die Strecke eröffnet wurde, ins olympische Dorf umzogen. Wir hatten zwar supercoole Zimmer, ganz zuoberst, mit herrlichem Blick über die Stadt. Wir konnten die Zimmer übernehmen, weil ja der Grossteil der anderen Disziplinen bereits ausgetragen und die Teilnehmenden abgereist waren. Doch die Infrastruktur war – gelinde gesagt – lausig. WCs funktionierten nicht, Stromanschlüsse fehlten, vieles wirkte bereits baufällig, und auf den Lift wartete man volle fünf Minuten. Dafür schloss ich mit Marathonläufer Tadesse Abraham, einem der wenigen Verbliebenen aus der Schweizer Delegation, eine interessante Bekanntschaft.
Unmittelbar vor dem Rennen wurde es noch ganz schlimm: Wir hatten uns auf Hitze und einen trockenen, schnellen Parcours eingestellt. Dann regnete es die ganze Nacht, alles war anders. Eine Stunde vor dem Start war ich in der Krise, völlig verunsichert. Plötzlich ging es um den Grip, mit dem wir uns nicht zentral auseinandergesetzt hatten. Zum grossen Glück waren mein Teamchef Thomas Frischknecht und mein Mechaniker Yanick Gyger da und konnten mich beruhigen. Sie hatten alles im Griff.
Das Rennen verlief voll nach Plan. Kulhavy und ich führten vor der Schlussrunde gemeinsam, und ich war bereit, mich nicht nochmals von ihm übertölpeln zu lassen. Als er in einer rutschigen Passage einen Fehler beging, wusste ich, dass meine Stunde geschlagen hatte. Von der letzten Techzone bis ins Ziel flog ich richtiggehend. Doch eben, eigentlich hatte ich mir die Triumphfahrt irgendwie euphorischer vorgestellt.
Und nach der Zieleinfahrt wurde es hektisch. Meinen Vater Ernst, der entgegen der ursprünglichen Pläne doch noch aus der Schweiz angereist war, konnte ich an der Strecke kurz umarmen. Dann hatte ich nach der Pressekonferenz knappe 15 Minuten Zeit, mich für die Schlussfeier umzuziehen. Ich war der Schweizer Fahnenträger, viele waren ja nicht mehr da. Man hiess uns, mit der Fahne in der Hand in einer Tiefgarage auf unseren Einmarsch zu warten. Und in dem Loch sass ich geschlagene zweieinhalb Stunden und wartete. Immerhin hatte ich so Zeit, einen ersten Schub SMS-Glückwünsche zu beantworten.
Was soll ich sagen? Es wurde eine kurze Nacht … Wir Mountainbiker gingen in die Stadt, um endlich zu feiern. Zwei Stunden vor der Abfahrt des Busses zum Flughafen waren wir zurück im Hotel. Umso besser habe ich im Flugzeug geschlafen. Fürs Shopping reichte es nicht mehr. Dabei wars ja mein erstes Olympia, bei dem unsere Tochter Lisa auf der Welt war. Wenigstens konnte ich am Flughafen gerade noch einen Teddy als Mitbringsel für sie kaufen.
Rio wird speziell bleiben; ich freue mich drauf, 2022 erstmals wieder zurückzukehren, wenn der Weltcup dort Station macht.
Die kommenden Spiele könnte ich eigentlich sehr gelassen geniessen. Ich muss nichts mehr beweisen und fühle mich in der Lage, nochmals einen grossen Coup zu landen. Es wäre auch cool, weil das MTB-Rennen erstmals nicht am Schlusstag angesetzt ist, sondern am Tag vier. So könnten auch wir Biker endlich einmal an einer Eröffnungsfeier dabei sein. Das klappte bisher nie, weil zum Zeitpunkt der Eröffnung jeweils noch ein Weltcup auf dem Programm stand.
«Ich fühle mich im Stande, nochmals einen Coup zu landen»
Doch das ist alles Theorie. Wegen Corona wird es kaum eine Eröffnungsfeier im gewohnten Rahmen mit Hunderten von Teilnehmenden aus allen Ländern geben. Wir wohnen 200 Kilometer ausserhalb Tokio, in streng abgetrennten Bubbles. Und auch nach dem Rennen wird nichts aus fröhlichem Japanbesichtigen oder Wettkämpfebesuchen: Wir dürfen einen Tag zusätzlich bleiben und müssen am Flughafen bis zur Abreise in ein Exit-Zimmer, wie das anscheinend genannt wird. Ziemlich makaber! Aber ich habe bei den Spielen ja schon alles erlebt. Mir wird nichts fehlen in meiner persönlichen Olympia-Geschichte.»
Aufgezeichnet