Sie ist eine der ältesten Sportarten, eine der Gründungsdisziplinen der Olympischen Spiele der Neuzeit. Der pure Kampf, eins gegen eins, so dass es trotz aller Modernität an die Duelle aus der Geschichte erinnert. Die Eleganz, der Fokus, das Abtasten – und dann der blitzschnelle Angriff, das Vorschnellen, die Explosion der Gefühle. Fechten lebt von seinen dreiminütigen Duellen, ist intensiv für Kopf und Körper.
Die Schweizer Degenfechter gehören seit Jahren zu den Besten. An jeder der fünf letzten Weltmeisterschaften holten sie mit dem Team eine Medaille, 2018 gar Gold. Im Einzel ist Max Heinzer, 33, der Fechter mit den meisten Weltcupsiegen überhaupt. Benjamin Steffen, 39, war an den Olympischen Spielen 2016 Vierter. Dennoch heisst der letzte Olympiamedaillengewinner aus der Schweiz Marcel Fischer, und das ist bereits 17 Jahre her. Die Spitze ist breit, doch weshalb? Was macht die Sportart so komplex, dass sie auch das physische Schach genannt wird? Sportlehrer Steffen und Profi Heinzer geben Einblick in die Heraus-forde-rungen ihrer Sportart.
Benjamin Steffen, Max Heinzer, von 32 Fechtern in Tokio kann laut Ihnen etwa die Hälfte gewinnen. Weshalb gibt es keine dominanten Fechter, Seriensieger?
Heinzer: Erstens ist die Wettkampfdauer extrem kurz. Ich vergleiche es mit einem Tie-break im Tennis. Würde man das auf andere Spielsportarten anwenden, würde es dort auch mehr unterschiedliche Sieger geben.
Steffen: Dann gibt es zwei weitere Komponenten. Es geht teilweise sehr schnell, etwa wie im Judo, wo du in einer Sekunde weg sein kannst. Wir haben zwar mehrere Treffer, aber solche Sekundenbruchteile entscheiden bei vielen Treffern. Und wir haben kein fixes Feld, sondern ein bewegliches Ziel, das sich bücken kann, einen Schritt vorwärts machen, so dass die Trefferfläche sofort ganz woanders ist. Das verändert viel. Für die Reaktion auf eine Aktion hast du sehr wenig Zeit, eine Viertelsekunde, das macht es sehr komplex.
Gab es deshalb seit Marcel Fischer 2004 keine Schweizer Olympiamedaille mehr, obwohl Sie seit Jahren Weltspitze sind?
Steffen: Die Schweiz ist in der Tat Weltspitze, leider bekommt das der «Alltagsschweizer» nur alle vier Jahre mit, wenn Olympia ansteht und wir zu den Medaillenhoffnungen gehören. Ich bezweifle, dass allen bewusst ist, dass wir an den letzten drei Weltmeisterschaften einen kompletten Medaillensatz geholt haben. Wir können also liefern, wenn es drauf ankommt, aber Olympia ist immer eine Geschichte für sich – und bestätigt die Komplexität des Degenfechtens. Man muss auch sehen: Seit 2004 gab es nur dreimal Olympia, und dabei haben wir drei Diplome geholt – und in Rio die Medaille nur ganz knapp verpasst. Ich finde, wir haben immer unsere Leistung gezeigt. Für eine Medaille muss wirklich einfach alles perfekt passen. Und man muss auch sehen, mit welchen Mitteln wir im Vergleich zu anderen Nationen auf Medaillenjagd gehen.
Heinzer: Mich hat die Niederlage in London 2012 gegen den späteren Olympiasieger Limardo aus Venezuela für einige Wochen aus dem Tritt gebracht. Meine Enttäuschung war enorm. Erst mit einiger Verzögerung konnte ich für mich beschliessen, die Weltcups und die Welt- und Europameisterschaften genauso wichtig zu nehmen wie Olympia. So hat mich die Viertelfinal-Niederlage in Rio gegen den aktuellen Olympiasieger Park aus Südkorea viel weniger getroffen.
Was tun Sie, um in Duellstimmung zu kommen?
Steffen: Ich stehe auf der Bahn, schaue den Gegner an und klappe die Maske herunter. Es ist, als würde ich klassisch das Duell beginnen, wenn ich das Visier herunterklappe.
Heinzer: Ich mache ein gutes Warm-up, damit ich heiss bin und Wettkampftemperatur bekomme. Im Callraum komme ich wieder herunter. Kurz vor dem Kampf gebe ich mir Ohrfeigen und schreie auf den Boden, damit ich weiss: Jetzt bin ich da, jetzt beginnt es.
Bei einem direkten Duell ist das Lesen der Mimik des Gegners wichtig. Wie funktioniert das mit Maske?
Steffen: Man sieht mehr vom Gesicht, als man denkt. Du bist immer wieder mal näher dran. Und du merkst es an der Körperhaltung, lernst die Gegner ziemlich gut lesen.
Wie genau analysieren Sie den Gegner vor dem Kampf?
Heinzer: Ich schaue mir auf Videos seine Stärken an, versuche aber vor allem, Lösungen zu finden, wie ich ihn treffen kann. Deshalb wähle ich eher Kämpfe, die mein Gegner verloren hat. Ansonsten bekomme ich zu viel Respekt und Angst und reagiere nur noch.
Steffen: Max ist seit langem gesetzt und kennt den Gegner immer früh. Ich hab da manchmal schon den ganzen Tag gefochten und hatte nicht mehr so viel Energie. Aber ich bin auch nicht gleich pedantisch wie er. Ich schaue Sequenzen an, aber mir tuts allgemein nicht gut, wenn ich ihm zu lange auf Video zusehe. Sonst bin ich fast zu stark in der Theorie und fechte zu sauber. Dabei bin ich jemand, der es eher spüren muss.
Benjamin Steffen, Sie sind bald 40 Jahre alt. Ist die Spritzigkeit nicht so entscheidend?
Steffen: Der Silbermedaillengewinner in Rio war 41! Die Spritzigkeit ist sicher wichtig, aber ich glaube, es gibt zwei verschiedene Schnelligkeiten: Das eine sind die Muskelfasern, die im Alter langsamer werden. Das merke ich in jedem Leistungstest. Ich muss viel arbeiten, dass ich das Niveau wenigstens halten kann. Aber es gibt fechtspezifische Bewegungen, und da holst du viel heraus, wenn du balanciert bist auf den Beinen. Stabil stehst, so dass du jederzeit die Richtung ändern kannst und den Moment spürst, diese Fechtbewegung schnell vorwärts bringen kannst.
Heinzer: Auch die Erfahrung ist sehr wichtig im Fechten, im Alter hast du viel mehr Coolness als ein 20-Jähriger, der vielleicht übermotiviert ist oder Angst hat und verkrampft.
«Wenn ich die Maske herunterklappe, bin ich bereit. Wie beim klassischen Duell»
Beni Steffen
Dann spielt also Schlafmangel keine so grosse Rolle? Sie haben beide kleine Kinder.
Steffen: Ich habe das Glück, dass mein Sohn momentan ein guter Schläfer ist. Aber den Nachteil, dass ich sehr schlecht wieder einschlafe, wenn ich mal wach bin. In der Olympia-Vorbereitungszeit schlafe ich deshalb in einem anderen Zimmer.
Heinzer: Eine Olympiasaison mit zwei kleinen Kindern hatte ich nicht geplant, doch da war dann die Verschiebung … Es ist halt so: Früher war immer der Sport die Nummer eins. Nun bin ich mega glücklich, dass ich zweifacher Vater bin. Ich weiss, dass ich etwas weniger Energie habe fürs Training. Aber ich habe auch manchmal ein Einzelzimmer, und meine Frau macht mehr als ich, sonst würde es gar nicht gehen. Wenn ich nur den Sport hätte, wäre ich etwas fokussierter, dafür bin ich so insgesamt glücklicher und entspannter. Früher war ich nach einem schlechten Turnier schon mal drei Wochen lang genervt.
Zurück auf die Planche. Ein Gefecht dauert nur drei Minuten oder auf 15 Treffer. Wie lernt man, jeden Punkt sofort abzuhaken?
Steffen: Da hat jeder Athlet seine Schlüsselwörter, mit denen er sich auf die Reihe bringen und beruhigen kann.
Heinzer: Das Einfachste ist, mit der Atmung zu arbeiten. Oder eine künstliche Pause zu erzwingen, die Schuhe neu zu binden.
Steffen: Max hat auch schon eine Linse gesucht, obwohl er keine trägt.
Wie lange darf man denn Zeit schinden?
Heinzer: Je nach Schiedsrichter. An den Olympischen Spielen sind sie sehr streng, da auch sie unter Druck sind: Der Fernsehzuschauer will solche Dinge nicht sehen.
Steffen: Du spürst es. Es ist ein Abtasten.
Heinzer: Nochmals zurück zur vorgigen Frage. Mein Ziel ist, dass ich immer weiss, was der nächste Punkt sein wird, bevor der Schiedsrichter «Los!» sagt. Sonst reicht es mir nicht, das zu überlegen. Das lernst du von Kindheit an, dass du zwischen zwei Punkten nicht zur Tribüne hochwinken kannst. Dazu kommt das Mentaltraining. Ich habe lange mit Jörg Wetzel zusammengearbeitet, einem Mentaltrainer aus dem Sport, und wende sehr viel von ihm an. Nun habe ich einen Psychiater, der nicht aus dem Sport kommt. Es sind gute Gespräche, du erzählst, bekommst Tipps. Es geht auch um das Gesamtpaket.
Max Heinzer, Sie sagen, Sie jubeln vor allem bei Glückstreffern, um den anderen zu irritieren. Sie jubeln, um den Gegner zu nerven?
Heinzer: Es ist nicht so, dass ich das immer bewusst mache. Aber wenn ich es schaffe, ist es ein cooles Mittel, um Druck auf den Gegner auszuüben. Das Ziel ist, dass der Gegner Schwächen zeigt, mental und körperlich.
Steffen: Ich bin ein bisschen anders, mehr der emotionale Jubler, wenns ein geiler Moment ist. Sonst bleibe ich ruhig, versuche bei mir zu bleiben. Es gibt auch Fechter, die ständig motzen, um dich aus dem Konzept zu bringen.
«Das Ziel ist immer, dass der Gegner Schwächen zeigt, körperlich und mental»
Max Heinzer
Haben Ihre Gegner damit Erfolg?
Heinzer: Ich bin so lange nett auf der Piste, bis jemand versucht, mich mental mit solchen Spielchen aus der Ruhe zu bringen. Dann werde ich auch so, und meistens liegt das bessere Ende bei solch gehässigen Kämpfen bei mir. Es zapft manchmal meine Extra-Energiereserve an.
Steffen: Das ist von aussen witzig anzuschauen. Ich versuche eher, cool zu bleiben und sie abprallen zu lassen, wenn sie mich irritieren wollen. Das hat auch etwas.
Heinzer: Kürzlich hatten wir die Deutschen hier für Trainingswettkämpfe. Einer hat gestöhnt, wie ein Tennisspieler. Kurz habe ich mich genervt, aber so verliere ich meine Konzentration, und er hat seinen Zweck erreicht. Also habe ich mich darauf konzentriert, zu stöhnen wie er. So prallte der Reiz, der mich genervt hat, an mir ab. Ich muss das aktiv verarbeiten.
Was nervt Sie sonst am Gegner?
Heinzer: Wenn sie mit Schimpfwörtern und Familienbeleidigungen anfangen, hörts bei mir auf. Damit habe ich Mühe.
Steffen: Die Grenze zum Unfairen. Zu bescheissen oder den Schiedsrichter zu beeinflussen, das geht bei mir gar nicht. Da ist der Gegner bei mir abgeschrieben, und nicht nur für dieses Gefecht.
Wie kann man denn bescheissen? Die Treffer zeigts ja elektronisch an.
Steffen: Manchmal ist nicht klar, ob der Boden getroffen wurde oder nicht. Dann gibts Situationen, in denen du bei einem Angriff dem Gegner ausweichen musst und mit einem Fuss draussen stehst, und dann ist das Gefecht eigentlich unterbrochen. Der andere versucht, dem Schiri zu sagen, dass du vor dem Treffer draussen warst.
Heinzer: Und es gibt im Nahkampf eine Situation, in der du dich selber treffen kannst. Nach dem Gentlemen’s Agreement gibt man das zu. Denn manchmal hat der Schiri keine Chance, das zu sehen. Aber du als Fechter weisst es hundertprozentig.
Mussten Sie lernen, sich in solchen Momenten zu beherrschen?
Steffen: Ich hatte früher das eine oder andere Mal mentale Ausbrüche, als ich neu bei den Senioren war. Du glaubst, du bist der geilste Siech und erhältst dann eins nach dem andern auf die Kappe. Da hab ich auch einmal die Maske weggeschmissen. Aber da du das Fechtmaterial selber bezahlen musst, hörst du relativ schnell auf damit. Ausserdem: für einen Tennisspieler ist eine Busse nichts. Aber bei uns kannst du als Strafe disqualifiziert werden.
Heinzer: Darauf bin ich ein bisschen stolz: Ich bin 33 und habe noch nicht ein einziges Mal, sei es im Training oder anderswo, die Maske geworfen.
Was war vom Kopf her Ihr stärkstes Gefecht oder Ihr grösstes Comeback?
Heinzer: In einem Weltcup-Halbfinal 2013 war ich 30 Sekunden vor Schluss gegen meinen jetzigen Coach Silvio Fernandez 8:14 hinten und schaffte es, in dieser Zeit sieben Einzeltreffer zu machen. Also sechs, und dann ging es in die Verlängerung. Aber klar, da waren zwei, drei Aktionen sehr spekuliert, und ich habe richtig gepokert.
Steffen: Für mich waren es zwei. Meine Olympiapremiere in Rio in relativ hohem Alter, als ich einen Gegner hatte, der mir vom Stil her nicht lag. Ich gewann knapp, aber hatte das Gefühl, das Gefecht unter Kontrolle zu haben. Ich wusste einfach: Ich schaffe ihn. Das Zweite war im WM-Final in Wuxi, wo wir den WM-Titel holten und ich ausnahmsweise das Schlussgefecht gemacht habe. Wir gingen mit plus eins ins letzte -Gefecht. Es war lange knapp, aber ich blieb einfach immer ruhig. Das war wohl das Gefecht, bei dem ich am meisten bei mir war, egal was passiert ist.
Wie viel eines Sieges passiert eigentlich im Kopf, wie viel ist Physis, wie viel Taktik?
Steffen: Das kommt ganz auf den Gegner an. Mal hast du einen physisch starken, bei dem du physisch viel mehr dagegenhalten musst. Dann stellt sich jemand nur hinten rein, da musst du taktischer vorgehen. Und das Mentale ist immer präsent. Auf der grossen Bühne von Olympia verlieren einige die Nerven, und dann bist du weg.
Heinzer: Ich habe schon sehr gute Gegner mit schnellen Entscheidungen besiegt und war nach dem Kampf kaum müde. Andererseits hast du manchmal einen technisch schlechteren Gegner, gegen den du extrem viel Kraft brauchst.
Steffen: Es ist auch immer eine Frage, wie viel Risiko du eingehen willst. Wenn du mehr Risiko eingehst, wird es gefährlich auch für dich, aber wenn die Taktik aufgeht – super. Vielleicht ist der Gegner überrascht. Das ist das Geile an unserem Sport: Jedes Gefecht kann einen absolut anderen Verlauf nehmen, auch wenn derselbe Gegner auf der Bahn steht.