Nicola Spirig weiss noch genau, wann ihr zum letzten Mal langweilig war. Es passierte im Gymnasium, und weil das gar nicht ging, einfach einmal nichts vorzuhaben, organisierte sie flugs Ferien in Frankreich. Spirigs Auftreten verrät ihre Liebe für ein actionreiches Leben nicht. Ob sie mit der Familie durch den Zoo Zürich schlendert oder zwischen Trainingseinheiten und Legospielen ein Interview gibt: Sie spricht mit ruhiger, fast beruhigender Stimme, immer überlegt. Und wirkt, als würde sie jederzeit vollkommen im Moment leben. Es ist die Ruhe einer Frau, die einerseits schon alles erreicht hat und alles, was noch kommt, als Bonus bezeichnet. Die andererseits diese Lust an der Herausforderung so tief in sich hat, dass sie als dreifache Mutter ihre dritte Olympiamedaille gewinnen will.
Es ist nicht gezwungenermassen die historische Komponente, die sie an diesem Wahnsinns-Unterfangen reizt. Dass das erst einmal eine Frau vor ihr geschafft hat. Es sind zwei simple Dinge: die Freude am Triathlon und die Frage: Geht das? Kann ich mit drei Kindern immer noch top sein? «Diese Challenge fasziniert mich.» Keine Frau weiss, ob ihr Körper nach einer Geburt gleich leistungsfähig ist wie davor. Geschweige denn nach drei. Weswegen Spirig bei jeder Schwangerschaft auch darauf vorbereitet war, zu sagen: Das wars. Doch es wars nie. Heute ist die 39-Jährige eine schwimmende, fahrende und laufende Erinnerung daran, wie beeindruckend der menschliche Körper eigentlich ist.
Vor acht Jahren wird Spirig zum ersten Mal Mutter, ein Dreivierteljahr nach dem Olympiasieg in London. Natürlich eine riesige Umstellung im Leben der Spitzenathletin. Sie stillt Yannis sechs Monate lang, das Fläschchen, selbst mit Muttermilch, möchte er nicht. So organisiert sie die Trainings- um die Stillzeiten herum und hofft, dass sie nach den Rennen schnell genug zurück ist, damit ihr Mann Reto Hug nicht mit einem hungrigen Baby warten muss.
Und sie weiss: Die Ordnung und der Perfektionismus aus dem alten Leben funktionieren nicht mehr. Auf die Olympischen Spiele 2012 hatte sie sich akribisch vorbereitet, schon drei Jahre davor die Strecke begutachtet, den Alltag penibel geplant. Zwei Jahre vor den Spielen in London schloss sie ihr Jura-studium ab, um die Sicherheit einer guten Ausbildung zu haben.
Doch mit Yannis muss sie sich eine gewisse Lockerheit und Spontaneität aneignen. Ungewohnt für sie.
«Wichtig war immer, dass es für die ganze Familie stimmt. Anders geht es nicht»
Nicola Spirig
Acht Jahre später ist sie Meisterin der Flexibilität: Trainingspläne lange im Voraus gibt es nicht mehr; Trainer Brett Sutton und sie planen die drei täglichen Einheiten laufend, den Umständen angepasst. Es sind kürzere, dafür qualitativ bessere und intensivere als früher. Und sie hat sich mit ihrem Mann Reto Hug ihr Umfeld optimal eingerichtet. Der ehemalige Weltklasse-Triathlet kümmert sich vor allem um Business-Projekte wie den gemeinsamen «Pho3nix Kids Triathlon by Nicola Spirig» und ist der Hauptverantwortliche zu Hause.
Seit zwei Jahren gehört Kindermädchen Marina drei Tage pro Woche zum Familienalltag, sie ist auch in den Trainingslagern dabei. Etwa in Champfèr bei St. Moritz, wo Spirigs Trainingsgruppe auch eine Basis hat und die Familie seit Jahren eine Wohnung mietet. «Wichtig war immer, dass es für die ganze Familie stimmt. Anders geht es nicht.»
Es gibt ein paar Konstanten bei den Spirigs in Bachenbülach ZH: Um 18 Uhr gibts Znacht, dann sind alle daheim. Und Nicola hat ihre Trainings abgeschlossen. Danach gibts den Schoppen und ein Büechli, um 22 Uhr ist auch für die Erwachsenen Bettruhe. Die Nachtschichten übernimmt in den Monaten vor Olympia Reto Hug. Der Kleinste, Alexis, ist um 6 Uhr wach, bald danach kriecht auch Malea ins elterliche Bett. «Diese Momente geniesse ich.» Meistens wartet sie mit dem ersten Training, bis Yannis in der Schule ist. So fängt der Tag zusammen an und hört zusammen auf, egal, was auf dem Trainingsplan steht.
Die Kinder haben ihre Freude am Sport auch schon entdeckt. Der achtjährige Yannis trainiert manchmal sogar mit, wenn Spirig Hügel-Repetitionen macht. «Er startet dann weiter oben und lässt jeden zweiten Lauf aus, aber so kann er gegen mich ein Wettrennen machen, das findet er lustig.» Im Hotelpool in den Trainingslagern auf Gran Canaria macht er das Ausschwimmen mit. Auch Malea planscht stundenlang im Wasser und geht in den Schwimmkurs. Yannis war gerade drei Jahre alt, als seine Mama in Rio de Janeiro ihre zweite Olympiamedaille holte. Er spielte während des Rennens im Sand der Copacabana, feuerte sie aber immer an, wenn sie vorbeikam. Mittlerweile nimmt er die Sportkarriere seiner Mutter aktiver wahr. «Wenn ich ihm aus dieser Zeit etwas mitgeben kann, dann das: Was es heisst, auf ein hohes Ziel hinzuarbeiten. Dass es nicht immer einfach ist. Dass ich auch trainiere, wenn ich mich nicht so toll fühle oder lieber etwas anderes machen würde. Aber dass es sich immer lohnt, seine Träume zu verfolgen und hart dafür zu arbeiten.»
Womit wir zurück beim Antrieb sind. Körperlich fühlt sich Spirig hervorragend. Im Frühling ist sie mit 39 Jahren persönliche Bestzeiten über zehn Kilometer auf der Strasse und der Bahn gelaufen. Sie muss selber lachen, wenn sie das erzählt. Ihr Alter und die drei Geburten spürt sie nicht. Wenn es einen Unterschied zu den jungen Athletinnen gebe, dann eher mental: Ist sie wirklich überzeugt, es noch immer zu wollen oder noch mehr als die Jungen? Nochmals Olympische Spiele im Triathlon hatte sie nach Rio eigentlich ausgeschlossen.
«Ich bin dankbar, dass ich neben dem Sport noch einen anderen Sinn im Leben habe. Und zwar einen viel wichtigeren. Ich komme heim und hab Familie und ein erfülltes, zufriedenstellendes Leben.» Dass sie eine andere Motivation hat, will sie als Vor- und nicht als Nachteil sehen. Vor ein paar Jahren habe sie mit Mountainbike-Legende und Dreifach-Vater Thomas Frischknecht über Energie diskutiert. «Frischi» war der Meinung, der Mensch habe jeden Tag eine begrenzte Menge Energie zur Verfügung. «Für mich stimmt das nicht. Ich gebe im Training alles, dann komme ich heim und ziehe Energie für die Zeit mit der Familie wie von einem anderen Energiedepot. Jenes vom Training fülle ich wieder auf, indem ich mit Yannis Minigolf spiele.» Das gleiche den Umstand aus, dass es aus Sportlerinnensicht natürlich besser wäre, die Beine hochzulegen oder einen Powernap zu machen.
Spirig liebt die knallharte Trainingsarbeit und den damit verbundenen Zustand, der in den Wochen vor den Olympischen Spielen eintritt. Ein Zustand, den die meisten Menschen gar nicht nachempfinden können: absolut fit zu sein. «Dann kannst du ein strenges Training machen. Und nochmals ein strenges Training und nochmal eines, und der Körper reagiert und schafft das», sagt sie. «Dieses Gefühl ist extrem cool. Das geniesse ich. Aber an diesen Punkt komme ich nur, wenn ich ein sehr hohes Ziel habe.» Ob diese Form medaillentauglich ist, das wird sie erst kurz vor den Spielen wissen.
Bei all der Leistung und Power: Spirig kommt sehr wohl auch an Grenzen. Dass sie müde ist und nicht weiss, wie sie an diesem Tag alles schaffen soll. «Dann ist es für mich hilfreich, wenn ich einen Schritt zurück mache, eine andere Perspektive einnehme und mich frage: Was ist überhaupt wichtig?»
Spirig ist mit den herausfordernden Situationen ihrer Karriere immer sehr offen umgegangen. Nach fast 25 Jahren Spitzensport besitzt sie ein unvergleichliches Körpergefühl. Kennt ihren Body in- und auswendig. Doch genau das war während den Schwangerschaften plötzlich nicht mehr der Fall. Es gibt sehr viele Sportlerinnen, die mit dem ersten Kind auch ihre Karriere beenden. Im Ausdauersport sind es noch mehr. Die Herausforderung war deshalb einerseits, überhaupt verlässliche Informationen zu bekommen. Gynäkologen sind keine Sportspezialisten und Sportärzte keine Schwangerschaftsspezialisten. Was darf man, soll man, was geht überhaupt in und nach der Schwangerschaft? Das war ein Recherchieren, Fragen, Ausprobieren.
«Es ist ungeheuer schön, ein Kind in sich wachsen zu spüren», sagt sie zwar. «Aber den Körper zu teilen und sich so träge und schwerfällig zu fühlen, weniger Energie zu haben, ist für mich schwierig»
Nicola Spirig
Das andere, und auch darüber spricht sie offen: dass sie es nicht mag, schwanger zu sein. «Es ist ungeheuer schön, ein Kind in sich wachsen zu spüren», sagt sie zwar. «Aber den Körper zu teilen und sich so träge und schwerfällig zu fühlen, weniger Energie zu haben, ist für mich schwierig. Man kennt sich irgendwie nicht mehr», hält sie fest. Ihren Körper, der zugleich ihr Arbeitsgerät ist, kennt sie nur so, dass er tut und reagiert, wie sie will. Ebenfalls ein Einschnitt war die Fehlgeburt 2018. «Ein wahnsinnig trauriges Ereignis» für das Paar, aber auch schwierig für sie als Sportlerin. Sie hatte eben eine Pressekonferenz einberufen, um mitzuteilen, dass sie zum dritten Mal schwanger sei und die Saison verpasse. Und war dann plötzlich nicht mehr schwanger, musste sich nach dem Verarbeiten neue Ziele setzen.
Mit ihrer Offenheit trägt sie viel dazu bei, dass der Austausch zwischen Sportlerinnen gefördert wird. Und dass sich Frauen bewusst sind, dass sie nicht in jedem Fall ihre Karriere mit der Schwangerschaft beenden müssen.
Mütter, die Olympiagold gewannen
Es gibt weltweit immer wieder Athletinnen, die auch nach der Geburt ihrer Kinder grosse Siege erringen. Geht es um Olympiagold, sind es schon weniger. Hier ein paar der grössten und inspirierendsten Namen des olympischen Sports.
Kerri Walsh
Beachvolleyball, USA
Sie ist 2004, 2008 und 2012 Olympiasiegerin, 2016 gibts Bronze. Die drei Kinder kommen 2009, 2010 und 2013 zur Welt. An den Spielen in London ist sie schwanger.
Larissa Latynina
Kunstturnen, UDSSR
Hält mit 18 Medaillen (1956, 1960 und 1964) den olympischen Rekord, bis Michael Phelps kommt. 12 davon gewinnt sie nach der Geburt ihrer Tochter.
Birgit Fischer
Kanu, Deutschland
Mit acht Gold- und vier Silbermedaillen 1980–2004 ist sie die zweiterfolgreichste Olympionikin der Welt. Acht davon gewinnt sie nach Geburt ihrer zwei Kinder.
Marit Bjørgen
Langlauf, Norwegen
Gut zwei Jahre nach der Geburt ihres Sohnes holt die Norwegerin 2018 nochmals fünf Medaillen, darunter Gold. Das ist ein Drittel ihrer ganzen Sammlung.
Kristin Armstrong
Rad Strasse, USA
Dreimal Gold im Zeitfahren von 2008 bis 2016; 2010 kommt Sohn Lucas zur Welt. Die Bilder, wie er seine weinende Mutter in Rio umarmt, gehen um die Welt.
Auch bei den Geburten zwei und drei schätzt sich Spirig glücklich: Sie sind kurz und heftig, aber ohne Komplikationen. Spirig erholt sich schnell, ist rund drei Monate später wieder im Wettkampf – wenn sie sich dabei auch noch nicht vollkommen fit fühlt.
Die Verschiebung der Olympischen Spiele in Tokio hat die Planung der Familie Spirig nochmals durcheinandergewirbelt. Doch Ehemann Reto Hug, die Kinder, die Sponsoren, der Trainer und das Umfeld, die Nanny und der Vermieter der Ferienwohnung in Champfèr entschieden sehr schnell, Spirig noch ein Jahr länger zu unterstützen. Nach Tokio gehts mit dem verrückten Projekt Sub-8 – einem Ironman unter 8 Stunden unter wissenschaftlichen Bedingungen – nochmals ein halbes Jahr mit dem Sport weiter. Natürlich hat Spirig die Herausforderung gereizt, aber gleichzeitig sichert ihr die Partnerschaft mit dem Sponsor des Projekts, Pho3nix, auch die langfristige Existenz ihres «Kids Triathlon» und ihrer Stiftung mit Schulprojekten. Diese beiden Aktivitäten liegen ihr sehr am Herzen, und Spirig möchte sie zusammen mit Pho3nix in Zukunft deutlich ausbauen. Eine Win-win-Situation.
Nun geht in der Nacht vom 26. auf den 27. Juli aber zuerst einmal ein langer olympischer Weg zu Ende. Jener der erst vierten Schweizer Olympiasiegerin in einer Sommersportart. Die zwischen dem ersten Auftritt 2004 als Rookie und ihren fünften Olympischen Spielen in Tokio nicht nur eine Wahnsinnskarriere hingelegt, sondern auch ein paar Grenzen verschoben hat.