Es ist ihr erstes Rennen über die 42,195 Kilometer. Es ist ihre erste – und auch ihre letzte – Chance, sich für Olympia in Tokio zu qualifizieren. Als Fabienne Schlumpf Anfang April im bernischen Belp ihr Debüt auf der Marathon-Distanz gibt, muss sie also höchsten Druck gepaart mit grösster Unsicherheit meistern. Das tut sie mit scheinbarer Leichtigkeit. Sie läuft die Strecke konstant, spürt nie ein Schwinden der Kräfte. «Den Hammer habe ich noch nicht kennengelernt.» Im Ziel ist sie schliesslich so schnell, dass sie nicht nur die Olympialimite schafft, sondern in 2 h 26' 14'' auch Schweizer Rekord läuft. Ein spektakulärer Start ins neue Abenteuer. «Und ich war nicht einmal so kaputt, wie erwartet hatte.»
«Den Hammer habe ich noch nicht kennengelernt»
Fabienne Schlumpf
Die Geschichte von Schlumpf aus Kindertagen ist nicht unbedingt die typische einer erfolgreichen Profisportlerin. Da sind keine überehrgeizigen Eltern, keine Anekdoten vom frühen Aufblitzen ihres Talents, keine Erzählungen von extremem Bewegungsdrang. Zwar besucht Schlumpf mit zehn Jahren ihr erstes Leichtathletik-Training beim LC Meilen. Doch sie gehört nie einem Nachwuchskader an, läuft auch nie Altersrekorde. Und Aussagen von früheren Trainern à la «wir habens schon immer gewusst» sucht man ebenso vergebens. Ihr langjähriger Trainer und Lebenspartner Michael Rüegg sagt gar: «Die Frage ist, ob sie überhaupt Talent hat.»
Schlumpfs Erfolge stehen in krassem Kontrast zu dieser Aussage: Mit den EM-Silbermedaillen im Steeple – der Disziplin, die im Schatten der klassischen Bahnrennen steht, doch vielen Laien wegen des Wassergrabens ein Begriff ist – und im Cross 2018 schaffte sie es bereits in zwei Disziplinen an die europäische Spitze. Und nun das vielversprechende Marathondebüt der 1.83 m grossen, lang- beinigen Läuferin. Im Juni 2020 vollzieht Schlumpf offiziell den Disziplinenwechsel vom Steeple zum Marathon. Dieser Schritt ist keine Überraschung, sondern vielmehr schon seit Jahren Plan von Schlumpf und Rüegg. Bloss kam er einen Olympiastart früher als vorgesehen. «Es war eine fliessende Entscheidung – und eine einfache.»
Nun startet sie also in der Königsdisziplin. Und das, obwohl sie früher nur nach Lust und Laune Sport gemacht hat. «Ich kann mich gut an Wettkämpfe erinnern, wo ich mich nicht quälen wollte und einfach als Letzte ins Ziel spaziert bin», erzählt sie und fügt achselzuckend an: «Rennen macht halt nur Spass, wenn man die nötige Ausdauer hat und schnell unterwegs ist.»
Dass sie diese Ausdauer nicht nur über 3000 m und rund neun Minuten hat, sondern auch über die 42,195 Kilometer und rund zweieinhalb Stunden, ist nicht selbstverständlich. Der Disziplinenwechsel bedarf einiger Umstellungen. «Ich musste zum Beispiel üben, während des Laufens zu trinken.» Was banal klingt, ist im Marathon essenziell. Doch die erhöhten Laufumfänge von rund 180 km aufgeteilt auf sieben Wochentage verträgt Schlumpf gut. «Das Training wirkt bei ihr besser als bei anderen. Sie adaptiert schnell. So gesehen ist das ihr Talent», relativiert Rüegg seine Aussage.
Schlumpf macht zu Beginn vor allem die ständige Müdigkeit zu schaffen. «Im Marathontraining bist du eigentlich nie frisch, fühlst dich immer müde, bist immer kaputt. Das ist mental nicht einfach zu verkraften.» Erst in der Taperingphase – in der Reduktion des Trainingsumfangs vor einem Rennen – vor ihrem ersten Marathon diesen Frühling spürte sie erstmals: «Wow! Ich fühle mich immer fitter. Ein cooles Gefühl.» Auf das Hoch nach dem Rennen folgte ein umso tieferes Loch. «Ich fühlte mich lange müde und lustlos, auch das war eine neue Erfahrung.»
«Im Marathontraining fühlst du dich immer müde, bist immer kaputt»
Fabienne Schlumpf
Umso wichtiger ist in dieser Zeit das Vertrauen in ihren Entdecker, Förderer, Trainer und Partner Rüegg. Das Sportler-Trainer-Duo ist seit elf Jahren auch ein Liebespaar, wohnt zusammen in Wetzikon ZH. Die private Beziehung beeinflusst das Training jedoch kaum. «Im Training ist er der Chef und hat das Sagen, zuhause ist es ausgeglichen», sagt Schlumpf. Das bestätigt Rüegg. Alle
Athleten, die unter ihm bei der Trainingsgemeinschaft TG Hütten trainieren, darunter Triathleten und OL-Läufer, werden gleich behandelt. Manchmal erfährt Schlumpf erst kurz vor dem Training, was ansteht. «Das passt mir gut. Denn ich vertraue ihm komplett, und so kann ich auch etwas Verantwortung abgeben und mich voll auf meine Leistung konzentrieren», sagt Schlumpf, die neben dem Sport in einem 20-Prozent-Pensum als Kauffrau arbeitet, «um auch mal an etwas anderes zu denken als ans Laufen».
Die Zusammenarbeit – und damit auch das Privatleben – ist ebenso von Tiefs wie von Hochs geprägt. «Wenns halt mal nicht läuft, sind wir beide betroffen», sagt Schlumpf. In solchen Phasen ist es von Vorteil, dass die beiden freie Tage oder Ferien auch oft getrennt verbringen, um Abstand zu gewinnen. Eine schwierige Phase erleben sie 2019. Zuerst muss Schlumpf wegen entzündeten Blasen an den Füssen ihr Marathon-Debüt verschieben. Kaum fit, zwingt sie ein Knochenmark-Ödem am Knie zu einer Laufpause. Schliesslich muss sie auch noch für die WM in Katar wegen einer Stressfraktur im Fuss Forfait erklären. «Ein Jahr zum Vergessen», sagt die Läuferin. Als sie Anfang 2020 wieder gesund ist, kommt der Lockdown, die Verschiebung von Rennen – und schliesslich von Olympia.
Doch nun ist der Höhepunkt endlich in Sichtweite: Für den Olympiamarathon, der wegen der etwas weniger hohen Temperaturen in Sapporo statt in Tokio durchgefüht wird, machen sich die beiden keine Illusionen. «Es wäre vermessen, von einem bestimmten Rang zu sprechen. Und die Zeit von Belp in der Hitze und Feuchte zu wiederholen ebenso», sagt Rüegg. Schlumpf hat vor allem ein Gefühl als Ziel im Kopf: «Ich möchte am Ende kaputter sein als bei meinem ersten Marathon.» Und das dennoch, ohne Bekanntschaft mit dem Hammer zu machen.