Zuerst zur Definition. Was kennzeichnet einen Musterschüler? Dass er fleissig und aufmerksam ist? Trifft auf Timm Klose zu. Beliebt in der Gruppe, engagiert fürs Kollektiv? Passt. Freundlich, umgänglich, zuverlässig? Zweifellos. Und schliesslich mit Leistung auf hohem Niveau? Keine Frage, wenn einer Bundesliga- und Premier-League-erfahren ist.
Doch oft sind «Musterschüler» auch dies: unterwürfig gegenüber Autoritäten, stets mit dem Strom schwimmend, nach der ungeteilten Aufmerksamkeit der Gruppe lechzend, auf ein makelloses Erscheinungsbild bedacht. Auf den Fussball übersetzt heisst das: Musterschüler des grünen Rasens sind stromlinienförmige Profis, die ihren Trainern stets gefallen wollen, nach dem Training die Gucci-Tasche in den Porsche stellen und eine phänomenale Anzahl Instagram-Follower aufweisen.
In dieses Bild passt er dann definitiv nicht, Timm Klose, 31-jähriger Basler Fussballverteidiger in Diensten des ostenglischen Traditionsklubs Norwich City FC. Einen edlen englischen Sportwagen hat zwar auch er in der Garage, mag sich damit aber keinesfalls vor der Kamera zeigen. Das schlichte T-Shirt und die Bluejeans sind ihm lieber als der Schlangenleder-Gürtel von Dolce & Gabbana. Den Medien gegenüber erwähnt er den «sehr korrekten Umgang» seines Trainers mit ihm während der langen Verletzungszeit im letzten Halbjahr, ohne dem deutschen Übungsleiter Daniel Farke Honig um den Mund zu schmieren zwecks Verbesserung seiner Aussichten auf einen Stammplatz. Vor allem aber stellt sich Klose selbst ein fussballerisches Zeugnis aus, das nicht dem eines Musterschülers entspricht: «Meine Karriere würde ich insgesamt mit der Note 5,0 bewerten. Für mehr fehlt mir der Erfolg im Nationalteam.» Musterschüler schreiben gern eine glatte 6.
Timm Kloses Geschichte ist die eines Fussballprofis wider die eigene Planung. Der eigentlich Fussball zum Vergnügen spielen will und sich eine berufliche Zukunft in der Architektur vorstellen kann. Oder im Businessumfeld seiner Mutter Daniela Spillmann, einer bekannten Basler Modeunternehmerin. Der in seiner Heimatstadt beim grossen FCB für zu wenig gut befunden wird, aber kommende Saison in der besten Fussball-Liga der Welt spielt. In der englischen Premier League, wie Shaqiri, Xhaka oder Schär, die grossen Stars des Schweizer Fussballs.
«Die Fans lieben, dass ich mein Herz stets auf dem Rasen lasse. Ich bin einer von Ihnen»
Timm Klose
Happy end, Genugtuung, Belohnung. Man kann es bezeichnen, wie man will, dass Klose vor wenigen Wochen mit 31 Jahren in Norwich einen neuen Dreijahres-Vertrag unterzeichnen darf. Eines ist es ganz gewiss: sehr ungewöhnlich für einen Spieler seines Alters. «Ein Traumszenario», sagt er, «dass ich mit 31 nochmals in die Premier League aufsteige und dann gleich noch einen Vertrag mit derart langer Laufzeit angeboten bekomme. Es ist sicher ein Vertrauensbeweis des Klubs, aber auch ein Dank für meine Loyalität nach dem Abstieg vor drei Jahren. Und es ist wohl auch in der Zuneigung der Fans für mich begründet, die meine Spielweise lieben. Sie wissen, dass ich in jedem Match mein ganzes Herz auf dem Rasen lasse.»
Als Timm Klose Anfang 2016 von Wolfsburg nach Norwich kommt, ist der Klub noch in der höchsten Liga. Den Abstieg in die Championship kann auch der Schweizer Verteidiger nicht verhindern. Eigentlich will Klose da wieder weg, um seine Chancen im Nationalteam nicht zu kompromittieren. Es gibt Angebote, unter anderem vom HSV. Doch dann spürt er, wie sehr man im kleinen Norwich auf ihn zählt – und bleibt. «Vielleicht war das sogar mein Glücksfall, dass der Klub abstieg. Denn ich gewann durch mein Bleiben eine Position in einem Klub, wie ich sie zuvor noch nie besass.» Er hat zwar zuerst seine Mühe mit dem Rhythmus in Englands Profiliga Nummer zwei. Taktik ist in ihr klein geschrieben, Physis dafür umso grösser. Klose berichtet, wie es bei den Spielen oft vogelwild hin und her geht, von einem Strafraum in den anderen. «Bessere Ligen gibt es sicher, aber kaum körperlich anspruchsvollere, intensivere. Da lernt ein junger Spieler mehr als in der Super League.» Bald findet er mit seiner Antrittsschnelligkeit und der Kopfballstärke Gefallen und Sicherheit an dieser Art Fussball. Im Team wird er unverzichtbar, und zum Lohn darf er diesen Frühling die Rückkehr ins englische Fussball-Oberhaus feiern. Sowie die Vertragsverlängerung. «Ich bin glücklich, dass Timm bei uns bleibt», sagt Trainer Farke. «Er ist extrem erfahren und ein Leader auch in der Kabine.» Das geht so weit, dass man Klose vom Klub aus bittet, sein Knie nicht operieren zu lassen, das er sich Anfang Jahr verletzt und das ihn in der zweiten Hälfte der Aufstiegssaison massiv behindert. Die «Canaries» – die Kanarienvögel mit den gelb-grünen Klubfarben – setzen auf seine Dienste auch mit Kurzeinsätzen und als Motivator auf der Bank.
«Früher suchte ich die öffentliche Zuneigung. Heute nur noch die Wertschätzung der Familie»
Sie ist eine besondere Ironie in Kloses Karriere, diese aussergewöhnlich grosse Wertschätzung. Denn der Schweizer erfährt auch anderes. Als er bei Basel unter Christian Gross den Durchbruch zu schaffen scheint, wird Gross durch Thorsten Fink ersetzt, dessen Ansprüchen Klose nicht genügt. Die Profikarriere scheint zu platzen, ehe sie begonnen hat. Doch im unterklassigen Thun wird Murat Yakin zu seinem Mentor und Förderer, der Klose im Profifussball etabliert. Nach zwei Jahren wechselt er 2011 zum FC Nürnberg in die Bundesliga. Auch Basel hätte jetzt Interesse, aber er ist lieber Innenverteidiger Nr. 4 im Frankenland als Nr. 3 am Rheinknie. Die Heimat hat ihn einst verschmäht, jetzt will er es in seinem Geburtsland – er kommt in Frankfurt zur Welt – wissen. Nach zwei Jahren voller Auf und Ab nimmt ihn Trainer Dieter Hecking nach Wolfsburg mit. «Das war wohl ein Wechsel ein Jahr zu früh, gerade als ich mich in Nürnberg etabliert hatte», mutmasst er. Als ihm in der VW-Stadt Einkauf Dante vor die Nase gesetzt wird, wechselt Timm Klose nach England. Dank seinem Manager Gaetano Gial-lan-za, der einst selbst in Norwich gespielt hat. Der Rest ist Geschichte.
Und eine viel bessere als jene mit dem Nationalteam. Dort verletzt er sich stets dann, als er sich durchzusetzen scheint, und vor allem jedes Mal vor den grossen Turnieren. «Vielleicht ist es mein Fehler, dass es nie gepasst hat mit der Nati. Ich war nie im richtigen Moment ganz bereit», sagt er selbstkritisch. Er leidet lange darunter, dass er in der Schweiz deshalb bis heute quasi unter dem Radar der öffentlichen Wahrnehmung fliegt. Und dass er nach einem seiner raren Länderspiele Prügel vom Boulevard für seine Leistung bezieht, versteht er bis heute nicht.
Doch das ist Schnee von gestern. Timm Klose hat sein Fussball-Glück längst auch so gefunden. Nicht zuletzt dank seiner gleichaltrigen Ehefrau Fabienne. Seit zwei Jahren ist er mit seiner Basler Schulliebe verheiratet, seit 15 Jahren ist sie an seiner Seite. Auch sie hilft dem Fussballer, in der schillernden Profiwelt seine Werte nicht zu verlieren. Das Paar wohnt im idyllischen Brundall, eine gute Viertelstunde ausserhalb des Stadtzentrums von Norwich. Bezeichnend, dass die studierte Kommunikationswissenschaftlerin mit ihrer Anstellung im Marketingbereich die einzige Partnerin aller Kaderspieler ist, die einem Beruf ausser Haus nachgeht. «Nur Spielerfrau zu sein, fände ich total langweilig.» Das Paar geniesst die ländliche Ruhe, ist aber derzeit auf der Suche nach einer neuen Bleibe etwas näher am Stadtzentrum. Ihre grosse gemeinsame Leidenschaft ist gutes Essen, etwa in ihrem japanischen Stammlokal Shiki, oder das Reisen in ferne Länder. Party und fancy people hingegen brauchen die Kloses nicht.
9. Mai 1988
www.timmklose.com
Insta: @timm_klose_gt
Twitter: @TimmKlose
Besser gesagt: nicht mehr. Es gibt Zeiten, da haut auch Timm Klose auf den Putz. «Ich habe zum Karrierebeginn gern am Wochenende im Ausgang gefeiert, kam auch mal in weniger optimalem Zustand ins Training. Ich habe Sachen mitgemacht, die als Profi auf Topniveau undenkbar sind. Aber hey, ich habe all das erlebt und trotzdem den Sprung ins seriöse Profileben geschafft.»
Bleibt die Frage: Ist Timm Klose zu anständig für eine schillernde Karriere im Rampenlicht? «Vielleicht. Aber je weiter ich in der Karriere vorankam, desto weniger hätte ich mich verstellt für mehr Klicks und Aufmerksamkeit.» Dank seines bodenständigen Elternhauses, sagt er. «Ich habe nie verstanden, weshalb ein Fussballprofi etwas besseres sein soll als ein Toilettenputzer. Dieses ganze Lifestyle-Getue interessiert mich einfach nicht.»
Hat Timm Klose seinen Vertrag in Norwich ausgespielt, ist er 34 und seit sechs Jahren dort. Das verbindet. Untrennbar? «Ich habe immer geträumt, einmal als Profi beim FCB zu spielen. Auch wenn mich einige dort nicht wirklich gut behandelt haben: Den Traum habe ich noch immer. Doch inzwischen ist mir Norwich so sehr Heimat wie Basel.»
Nein, ein Musterschüler will Timm Klose nicht sein. Aber ein guter. Und so kommt er im Gespräch unvermittelt nochmals auf seine Selbstbewertung zurück. «In der Nati habe ich mein Potenzial nicht ausgeschöpft. Aber ich hoffe noch immer auf einen Grossanlass mit der Schweiz. Und angesichts meines späten Einstiegs ins Profigeschäft, finde ich, ich habe viel aus meinen Möglichkeiten herausgeholt. Ich gebe meiner Karriere sogar eine 5,25.»