Alain Sutter, Sie sind als Quereinsteiger seit zweieinhalb Jahren Sportchef beim FC St. Gallen. Wie bewerten Sie Ihre bisherige Arbeit an dem fussballerisch so kleinen Ort?
Ich ziehe für mich keine solchen Bilanzen. Es zählt nur die Gegenwart. Zudem habe ich St. Gallen schon früher nie als kleinen Fussballort wahrgenommen. Wir haben hier ein Super-Stadion, eine Region, in der Fussball grosse Bedeutung hat. Aber das ist keine neue Erkenntnis für mich. Schon als Spieler von GC erlebte ich meistens sehr heisse Begegnungen im alten Espenmoos.
Trotz dieser Fokussierung auf das Hier und Jetzt haben Sie nun den Vertrag beim FCSG um fünf Jahre bis Ende 2025 verlängert. Passt das zusammen?
Durchaus. Die Vertragsverlängerung ist aus einem Prozess heraus entstanden und fühlt sich einfach richtig an.
In Ihrem ersten Buch «Stressfrei glücklich sein» sagen Sie sinngemäss, man sollte sein Tun nicht am Erfolg messen, sondern an der Freude daran. Wie viel von dieser Erkenntnis steckt in der vergangenen Saison des FCSG?
Man kann es anders formulieren: Bei den einen ist das Ergebnis das Ziel, bei den anderen der Weg dahin. Ich konzentriere mich auf den Weg, auf das Jetzt. Messbar ist es ohnehin nicht, welchen Anteil am Erfolg die Freude hat. Natürlich wollen wir mit St. Gallen Erfolg haben, aber wir wollen vor allem jeden Tag mit Freude daran arbeiten, ihn zu erreichen.
Es kann ja kaum nur die Freude eine Mannschaft so stark machen. Was hat sie denn konkret besser gemacht als die Konkurrenz?
Ich ziehe grundsätzlich keine Vergleiche mit den anderen Klubs. Deren Leistungen unseren gegenüberzustellen und zu werten, käme mir überheblich vor. Wir konzentrieren uns nur auf unseren Weg, der geprägt ist von unglaublicher Solidarität innerhalb des Kaders, grossem Leistungswillen, der vorbehaltlosen Bereitschaft, jeden Fehler eines Mitspielers auszubügeln. Es ist eine mutige Mannschaft, die mit frischer, offensiver Spielweise auftrat und keine Angst vor Niederlagen hatte.
Ihre Hauptaufgabe ist es, Spieler zu finden, die in diesen Gedanken von Fussball hineinpassen. In den vergangenen beiden Saisons gab es «No-name-Transfers», die für Aussenstehende verwunderlich wirkten: Ruiz aus der spanischen Provinz, Quintilla aus Puerto Rico und der zweiten US-Division, Demirovic von einer Ersatzbank in Spanien, Letard aus Aalen, Guillemenot von der Tribüne in Wien. Lauter Volltreffer. War das einfach Glück?
Zunächst: Unter unseren Transfers vor der Saison gab es auch einzelne, die keine Volltreffer waren. Aber es ist eigentlich ganz einfach: Wir betreiben in St. Gallen ein Projekt, das auf solchen Transfers aufbaut. Wir haben nicht die Mittel, Stars oder auch nur gestandene Spieler zu holen, bei denen wir davon ausgehen könnten, dass sie einschlagen. Deshalb gilt unser Augenmerk Spielern, die an einem schwierigen Punkt ihrer Karriere stehen und einen neuen Anlauf machen wollen, oder solchen, die noch jung und unerfahren sind.
Wie findet man solche Spieler? Geben Sie Ihren Scouts ein genau definiertes Anforderungsprofil mit auf den Weg?
Zum einen werden uns diese Spieler oftmals angeboten. Ich erhalte täglich Mails von Spieleragenten, die uns ihre Klienten anpreisen, oder von Klubs, die Akteure loswerden möchten. So gehen jährlich ein paar hundert Namen über mein Pult. Zum anderen hat unser Scoutingteam genaue Vorgaben, nach welchem Spielertyp es Ausschau halten muss. Und natürlich sehe ich mir auch selbst Spiele an, in der Hoffnung, Spieler zu entdecken. Der Chefscout nimmt mir bei der Sichtung schon einmal vieles ab. Er weiss genau, wer das geforderte Profil für eine bestimmte Position hat, und trifft eine Vorauswahl. Die Interessanten lassen wir genauer beobachten oder laden sie ins Training ein. Viele sind auch noch unter Vertrag, so dass wir sie ein paar Mal bei ihren Klubs im Spiel beobachten können.
Das Netz muss aber sehr feinmaschig sein, damit ein Volltreffer wie Jordi Quintilla darin hängen bleibt, der komplett abseits der grossen Fussballwelt tätig war.
Ein bisschen Glück gehört dazu. Bei Jordi war es so, dass er einer von mehreren Spielern war, die uns sein Agent angeboten hatte. Also hat sich unser Scout im Videostudium von jedem dieser Spieler ein Bild gemacht. Sein Kommentar zu Quintilla: «Too good to be true!» Weil sein Klub gerade Konkurs gegangen und er arbeitslos war, konnte er eine Woche zu uns ins Training kommen.
Was man allerdings im Probetraining nicht sieht und schon gar nicht auf Video, ist, ob einer charakterlich ins Gefüge passt. Wie prüfen Sie dies vor einer Verpflichtung?
Selbst wenn man einen Kandidaten eine Woche bei sich zu Hause einquartieren würde, gäbe es keine Garantie dafür, dass er charakterlich zur Mannschaft passt. Grundsätzlich aber bietet der FC St. Gallen ein solides Umfeld. Dadurch ist die Gefahr kleiner, dass einer sich als Typ unangenehm entwickelt oder abhebt. Zudem haben wir mit Peter Zeidler einen Trainer, der ein sehr gutes Gespür für Menschen hat, und ich selbst traue mir diese Menschenkenntnis ebenfalls zu.
Der FC St. Gallen als Fussball-Familie, in der sich alle wohl fühlen — kein Klischee also?
Doch, ein absolutes Klischee. Wir sind keine Familie, sondern ein professioneller Fussballverein. Das Wort «Familie» wird viel zu oft
bemüht. Es geht letztlich um das Zusammenarbeiten in einer Geschäftsbeziehung.
Sind sich Zeidler und Sie einmal uneins über einen Transfer, wer hat das letzte Wort?
In einem solchen Fall wird der Transfer nicht gemacht, Punkt. Wir diskutieren nicht, bis einer nachgibt, sondern dann verzichten wir.
Nebst den erwähnten «Spielern der zweiten Chance» prägen die extrem jungen Akteure den Kader des FCSG. Hat das etwas mit Ihrer eigenen Vergangenheit als «Fussball-Wunderkind» zu tun?
Gar nicht. Auch die Jugendlichkeit unseres Kaders hat wieder mit unserem Projekt und unseren finanziellen Möglichkeiten zu tun. Gestandene und damit ältere Spieler haben logischerweise andere Gehaltsvorstellungen. Ausserdem sind junge Spieler natürlich formbarer. Peter Zeidler hat sehr genaue Vorstellungen, wie er spielen lassen will. Die Akteure müssen sich vollkommen diesem Spielstil anpassen und nicht umgekehrt. Für Junge ist das sicherlich einfacher als für Ältere, die längst einen eigenen Spielstil entwickelt haben. Ruiz, Görtler oder Quintilla haben schon viel erlebt im Fussball und sich dennoch perfekt an unser System angepasst.
Ist diese aufwändige, laufintensive Spielweise von Zeidlers Team mit permanentem Drang zur schnellen Ball-Eroberung inzwischen eigentlich eine Art Unité de doctrine für alle Mannschaften des FCSG, so wie man es von Barcelona oder Ajax kennt?
Absolut, ja! Es geht ein roter Faden bezüglich taktischer Spielweise und der Art, wie wir mit Menschen umgehen, durch den gesamten Verein. Wir haben diesen roten Faden definiert und setzen ihn über die technischen Leiter aller Abteilungen konsequent durch. Ich habe schon bei meiner Ankunft im Kybunpark gesagt, wir wollen so weit kommen, dass man Teams des FC St. Gallen selbst mit neutralen Trikots an ihrer Spielweise erkennen würde.
”Ich will, dass man alle Teams des FCSG an ihrer aktiven Spielweise erkennt“
Die Sie wie definieren?
Mit einem Wort: «aktiv». Das Aktive soll in jeder Spielsituation erkennbar sein, ob mit Ball oder ohne, ob bei Standards, bei einer Führung ebenso wie bei einem Rückstand.
Salihamidzic kann bei Bayern dem Trainer fast alle Wünsche erfüllen, Spycher bei YB viele und Sutter bei St. Gallen nur bescheidene. Möchten Sie nicht gern auch einmal als Sportchef aus dem Vollen schöpfen können?
An so etwas denke ich gar nicht. Ich habe die Voraussetzungen meiner Tätigkeit von Anfang an gekannt und mich daran orientiert. Ich arbeite gern unter diesen Vorgaben.
Trotzdem, ist es nicht öde, Führungsspieler wie Itten, Demirovic und Hefti abgeben zu müssen, nur um das als «Kompliment an unsere Arbeit» zu bewerten, aber eine halbe Erfolgsmannschaft ersetzen zu müssen?
Erstens sind diese drei Spieler noch keine halbe Mannschaft, auch wenn es natürlich Schlüsselspieler sind. Zweitens: Würde ich mich jetzt über die Unvermeidlichkeit dieser Transfers beschweren, dann hätte ich den Job in St. Gallen gar nie antreten dürfen. Es ist ja auch reizvoll, unter den gegebenen Möglichkeiten stets zu versuchen, die Balance zu halten und gleichzeitig vorwärts zu kommen. Wir konnten ja das Gros der Mannschaft mit einem funktionierenden Spielsystem zusammenhalten.
Sie selbst galten als eigenwilliger Spieler, scheuten bei Bayern die Konfrontation mit Uli Hoeness bezüglich Ihrer Essgewohnheiten ebenso wenig wie jene mit der Politik, als Sie 1995 auf dem Platz das «Stop it Chirac»-Transparent gegen die Atomversuche hochhielten. Wie viel von diesem «Spielerrebellen» ist noch im Sportchef drin?
Ich bin der Mensch geblieben, der ich immer war, mit allen Facetten meiner Persönlichkeit. Aber damals war ich zwischen 20 und 30, heute bin ich 52, habe einige Erfahrungen gemacht. Also bin ich sicher nicht mehr völlig mit dem damaligen Alain Sutter zu vergleichen.
Kämen Sie beim FC St. Gallen als Sportchef heute mit einem jungen Alain Sutter klar?
(Überlegt lange) Ich war eigenwillig, aber nie schwierig. Es gäbe also keinen Grund, mit einem solchen Spieler hier nicht klarzukommen.
Die jungen Wilden des FCSG dürfen also auch in Zeiten von Instagram und Co. frei äussern, wonach ihnen der Sinn steht?
Sicher! Natürlich sprechen wir mit ihnen über die Gefahren der sozialen Medien, aber wir erlassen diesbezüglich keine Vorschriften.
Was spricht dafür, dass dem FC St. Gallen erneut eine derart starke Saison gelingt?
Was letzte Saison hier passiert ist, war und bleibt aussergewöhnlich, ist nicht einfach so reproduzierbar. Selbst wenn wir diese gewichtigen Abgänge nicht gehabt, sondern uns noch einmal verstärkt hätten, könnten wir nicht einfach erwarten, dass wir «die Grossen» in der neuen Saison wieder bedrängen.
Wären die Chancen darauf grösser in einem Kybunpark mit vollen Publikumsrängen?
Natürlich freuen wir uns darauf, irgendwann wieder vor ausverkauften Rängen spielen zu können. Unsere Fans sind eine grosse, wichtige Unterstützung. Aber die Mannschaft hat ja auch in den Geisterspielen nach dem Lockdown sehr gut gespielt und kein bisschen nachgelassen gegenüber vorher.
Keine Angst vor dem Erfolgsmonster, das man letzte Saison erschaffen hat?
Überhaupt nicht. Es ist ja auch das gute Recht der Fans, auf eine Wiederholung der letzt-jährigen Saison zu hoffen. Auch wir wollen
jeden Match gewinnen. Aber wir müssen realistisch bleiben und kommunizieren, welchen Weg wir mit unserem Projekt aufgrund der Vorgaben gehen wollen, gehen können.
Bleibt St. Gallen ein Ausbildungsverein, oder kann man irgendwann zu den Ligagrössen YB und Basel aufschliessen?
Das wird sich weisen. Wir orientieren uns jedenfalls nicht an den Topklubs, sondern an unseren Möglichkeiten. Klar ist aber auch: Wäre die Coronakrise nicht gekommen, wären wohl sämtliche Heimspiele im Frühjahr ausverkauft gewesen, dann hätten wir wirtschaftlich einen deutlichen Schritt vorwärts machen können, was uns auch sportlich noch andere Möglichkeiten eröffnet hätte.
Stattdessen müssen die lukrativen Verkäufe von Hefti und Itten die Finanzlöcher stopfen, die die Geisterspiele gerissen haben.
Nein, zum Glück nicht. Das war einer der Punkte, die mich dazu bewogen haben, den Job in St. Gallen anzunehmen: Spielertransfers sind bei uns nicht im Budget enthalten. Ich bin nicht verpflichtet, Spieler zu verkaufen, um das Budget ausgeglichen zu halten.
Was muss gelingen, damit der Weg des FCSG Sie auch diese Saison glücklich macht?
Mein Wohlbefinden hängt nicht von den Resultaten des Teams ab, sondern einzig von mir selbst: Wenn ich jeden Tag mit Freude zur Arbeit nach St. Gallen fahre und meinen Job geniessen kann, egal ob wir gewinnen oder auch mal verlieren, dann werde ich glücklich sein.