Sie konnte ski fahren, kaum konnte sie gehen. Bekam zu Hause Rösti mit Bratwurst aufgetischt. Spricht mit ihren Zürcher Eltern Schweizerdeutsch, fuhr im Winter Schlittschuh auf dem Platz in Gstaad, wo im Sommer das Tennisturnier stattfand. Und doch muss Jil Teichmann immer wieder erklären, was an ihr schweizerisch ist. Dass sie Schweizerin ist.
Denn die ersten 14 Jahre ihres Lebens wächst Teichmann in Barcelona auf, und seit sie mit 18 Profi wurde, trainiert sie wieder dort. Doch für sie, die in Spanien in eine Schweizerschule ging, ist das überhaupt kein Thema. Auch wenn sie versteht, dass es die Leute interessiert, wofür ihr Herz schlägt. «Zu Barcelona habe ich zwar eine emotionale Bindung, zum Land aber nicht wirklich», hält die 22-Jährige fest, deren Eltern in der spanischen Metropole eigentlich nur Flitterwochen machen wollten, sich aber gleich nieder-lies-sen. Ferien hat sie nie woanders gemacht als in der Schweiz, Sommer wie Winter, meistens im Saanenland, wo ihre Mutter viel Verwandtschaft hat. «In der Schweiz kann ich so sein, wie ich bin, fühle mich ruhig, entspannt.»
Das Skifahren muss sie wie so viele Profisportler vorübergehend allerdings sein lassen, zu gross ist die Verletzungsgefahr. Vor allem, wenn man Jil Teichmann ist. «Entspannt Ski fahren geht nicht. Ich suche immer das Risiko», sagt die temperamentvolle Sportlerin mit einem Lachen. Ihre Eltern arbeiteten beide als Skilehrer, der Sport spielt in der Familie eine grosse Rolle. Die Wochen-enden verbrachten sie früher oft im Tennisklub, Jil liebte das Spiel, aber auch Fussball, schwimmen, Taekwondo. Erst als die Familie zurück in die Schweiz zieht, gewinnt das Tennis für die 14-Jährige eine grössere Bedeutung. Sie beginnt im Nationalen Leistungszentrum von Swiss Tennis in Biel seriös zu trainieren, intensiviert die Arbeit an ihrer Technik.
In Teichmanns erster Woche in Biel gehts direkt an ein Turnier nach Slowenien. Im Auto sitzt unter anderen die gleichaltrige Belinda Bencic – die beiden hören zwölf Stunden kaum mehr auf zu reden. «Unsere Generation versteht sich zum Glück sehr gut.» Den engsten Kontakt hat sie zu Viktorija Golubic, die sie als ihre «big sis», ihre grosse Schwester, bezeichnet. Die beiden spielten lange auf denselben Turnieren kleinerer Kategorien, während Bencic früh durchs Ranking nach oben schoss. Teichmann erreicht die Ränge um WTA 200 ziemlich schnell, hängt dann aber anderthalb, zwei Jahre lang im Bereich von Position 140 fest. Eine lange Zeit für eine Spielerin, die seit Jahren gepriesen wurde. «Dass es nicht vorwärtsging, war hart», sagt Teichmann nachdenklich. «In einer solchen Zeit lernt man, Geduld zu haben.» Sie fragt sich, was der Unterschied zu Spielerinnen um die Ränge 60 oder 80 ausmacht. Das Niveau ist nicht so verschieden, doch was ist es, das fehlt?
”Das Tennis zwingt dich schon sehr jung dazu, dich zu finden. Zu spüren, wie du bist und reagierst“
Einen Grund, einen konkreten Punkt gibt es rückblickend nicht, weshalb ihr in diesem Jahr nun der grosse Schritt gelingt und sie den besten 50 Tennisspielerinnen der Welt näher kommt. Sie ist überall ein bisschen besser geworden, findet sie. Steht sie nun mit einer Spielerin auf dem Trainingsplatz, die um die 250 oder 300 klassiert ist, sehe man keinen Unterschied. Erst im Match. Das Mittelniveau ist so hoch, dass ein, zwei Bälle den Unterschied machen können. «Es geht ums Spielverständnis, welcher Schlag wann zu spielen ist, in welcher Situation man wie reagiert.»
Und die Physis. Teichmann ist athletisch, schnell, in Topform. Ihre Vorhand zählt sie zu ihren Stärken, zu denen noch ein natürlicher Vorteil kommt: Sie ist Linkshänderin. Und zwar eine «extreme», wie sie lachend erklärt. «Meine rechte Seite ist nur Dekoration, zur -Balance da.» Sie selber relativiert zwar, wie viel Bonus ihr das tatsächlich bringt. Doch - bei höchstens einem Fünftel Linkshänderinnen auf der Tour ist es schon ein Vorteil, da sie viel öfter gegen Rechtshänder spielt als umgekehrt. Sie müssen das Spiel jeweils spie-gelverkehrt lesen, wenn sie gegen einen Linkshänder antreten, der Ball fliegt dann auch mal woanders hin, als man ihn erwartet. Teichmann schaut bei verschiedenen an-deren Linkshändern etwas ab, am liebsten bei Rafael Nadal: «Allgemein Spielzüge. Und den Spin hätte ich auch gern», sagt sie lachend.
Zum Besserwerden gehört, sich selbst schonungslos zu betrachten, zu hinterfragen. Und mental gefestigt zu sein. Eine der wichtigsten Komponenten in dem Psychospiel. «Im Tennis ist es extrem, weil man allein auf dem Platz steht. Es zwingt dich schon sehr jung dazu, dich anzuschauen, dich zu finden, zu wissen, wie man ist, wie man reagiert.» Es gibt Tausende Erstsituationen; jeder Tag, jeder Match ist eine neue Welt. «Ich liebe das, denn ich kenne mich jeden Tag besser.» Sich gegenüber ehrlich sein, was man gerade fühlt, welche Gedanken man auf und neben dem Platz hat, sei das Schwierigste. Aber ein Prozess, den man durchmachen muss. Jeden Tag wieder, konstant an der mentalen Stärke arbeiten: Sei es mit einem Gespräch, durch Visualisierung, sei es, indem man sich öffnet.
”Ich bin gern unter Leuten, gehe essen und lache. Ohne diesen Ausgleich würde ich durchdrehen“
Einmal nicht mehr an sich geglaubt hat sie nie. Und wurde es dennoch einmal schwierig, waren ihre Eltern da, die sie motivierten. Die ihr Unterstützung und positive Energie mitgaben, auch wenn sie nicht direkt an der Tenniskarriere ihrer Tochter beteiligt waren, selten an Turniere mitreisten. Ob sie den harten Weg des Tennisprofis wirklich einschlagen soll, darüber haben sie gar nie gesprochen. «Wir haben nie gesagt: Was, wenns nicht funktioniert? Ich bin da irgendwie reingewachsen. Als mit 17, 18 der Wechsel zum Profitum anstand, wusste ich: Hey, ich will das wirklich!» Finanziell geht das nur, weil sie früh ins B-Kader von Swiss Tennis kommt, von der Sporthilfe unterstützt wird und die Eltern nicht die ganze Last tragen müssen.
Einfach machen, nicht zu viel grübeln, mit Freude vorwärtsgehen: Diese Einstellung findet sich auf Teichmanns rechtem Unterarm in Form eines Tattoos wieder. Es ist eine Gleichung als Anleitung: Leben = (Wissen + Können) x Attitüde. Sie bedeutet für die Athletin: Man kann viel wissen und können, aber fürs Leben wirklich wichtig ist die eigene Einstellung, die Haltung.
Wie wahr das ist, hat ihr das Jahr 2019 wieder aufgezeigt. Denn ihr erster Turniersieg auf der WTA-Tour Ende April in Prag hat sich alles andere als abgezeichnet. Das halbe Jahr davor hatte sie gut gespielt, aber keine Resultate gebracht. Immer knapp verloren und oft nicht gewusst, an was es lag. Dann leidet sie an einer kleinen Zerrung, muss das Turnier in Stuttgart absagen und geht stattdessen nach Prag – wo sie zuerst drei Qualifikationsrunden überstehen muss. Einmal regnet es den ganzen Tag, die letzte Qualifikations-Partie spielt sie am selben Tag wie die erste Runde des Hauptturniers. Teichmann nimmt Tag für Tag. «Das sagt man so, aber es zu leben, ist gar nicht so einfach.» Oft ist sie mit ihrer Energie und Kraft am Anschlag, schläft nicht mehr gut, weil ihr so vieles wehtut – und dann steht sie ausgerechnet gegen ihre gute Kollegin Karolina Muchova im Final. Teichmann bekommt Krämpfe, denkt, sie müsse aufgeben, nachdem sie so weit gekommen sei. Und findet doch einen Weg, trifft die richtigen Entscheidungen. «Das Turnier hat mir gezeigt: Man kann immer mehr, als man meint.»
Ende Juli doppelt sie mit dem Turniersieg in Palermo nach, auch dort auf ihrer Lieblingsunterlage Sand. Und erreicht mit Platz 54 ihre bisher beste Position im WTA-Ranking. Mittlerweile ist sie die Nummer 2 der Schweizer Tennisspielerinnen. «Die Siege haben mich sicher weitergebracht. Ich habe mir immer gesagt, dass ich es kann. Aber das hat es endlich bestätigt.»
Hat Jil nach strengen Turnierwochen zwei, drei Tage Pause, fliegt sie oft zuerst in die Schweiz, um ihre Eltern zu besuchen. Der jüngere Bruder Raul, benannt nach Real-Madrid-Legende Raúl González, verfolgt seine Tenniskarriere seit einem Jahr an der Universität in Cleveland, USA. Ist Teichmann zurück in Barcelona, bedeutet das für sie Training. An der spanischen Küste hat sie viele Freundinnen, die auch Tennisspielerinnen sind und das verrückte und auch entbehrungsreiche Leben nachvollziehen können. Und mit ihr abends die zahlreichen Restaurants in Barcelona geniessen, auch mal ein Glas Wein trinken, wenn sie gerade nicht irgendwo auf der Welt ein Turnier spielen. «Neben dem Tennis ein ganz normaler Mensch zu sein, brauche ich als Ausgleich, sonst würde ich ja durchdrehen. Ich bin ein geselliger Mensch, lache gern.» Und braucht sie doch einmal Ruhe, schnappt sie sich die beiden Hunde ihrer Eltern und verzieht sich ein paar Stunden in die Berge. Nach ihrem Bezug zur Heimat braucht man sie wohl nicht mehr zu fragen.